Zehn Thesen zur Ausbreitung des Egokraten

I

Der Egokrat – Mao, Stalin, Hitler, Kim Il Sung – ist kein Unfall oder eine Anomalie oder ein Hervorbrechen der Irrationalität; er ist eine Personifizierung der Beziehungen der existierenden sozialen Ordnung.

II

Der Egokrat ist zunächst ein Individuum, wie jede*r andere: Ohne Stimme und machtlos in dieser Gesellschaft, ohne Gemeinschaft oder Kommunikation, dem Spektakel geopfert, “der ununterbrochene Diskurs der bestehenden Ordnung über sich selbst, seine Selbstlobrede, das Selbstporträt der Macht in der Epoche ihrer totalitären Kontrolle der Bedingungen des Seins.” (Debord) Vom Spektakel zurückgeweisen, strebt er nach “dem befreiten menschlichen Wesen, einem Wesen, das zugleich ein soziales Wesen ist, sowie ein Gemeinwesen.” (Camatte) Wenn sich seine Sehnsucht in der Praxis ausdrückt: an seinem Arbeitsplatz, auf der Straße, wo auch immer das Spektakel ihm seine Menschlichkeit raubt, dann wird er zum Rebellen.

III

Der Egokrat drückt in der Praxis nicht seine Sehnsucht nach Gemeinschaft und Kommunikation aus; er verwandelt sie in einen Gedanken. Mit diesem Gedanken bewaffnet ist er noch immer ohne Stimme und machtlos, aber er ist nicht länger wie jede*r andere: Er ist Selbstbewusst, er besitzt den Plan. Um seine Andersartigkeit zu bestätigen, um sicherzugehen, dass er sich nicht selbst betrügt, muss er von anderen als anders betrachtet werden – von jenen anderen, die bestätigen, dass er wahrhaft im Besitz des Plans ist.

IV

Der Egokrat findet “Gemeinschaft” und “Kommunikation” nicht dadurch, dass er die Elemente des Spektakels in seiner Reichweite zerstört, sondern indem er sich selbst mit ähnlich gesinnten Individuen umgibt, anderen Egos, die den Goldenen Plan einander widerspiegeln und einander ihr Recht als Besizer dieses Plans beteuern. Auserwählte. An diesem Punkt muss der Plan, wenn er gülden bleiben soll, immerfort der gleiche bleiben: unbefleckt und unkompromittiert; Kritik und Korrekturen sind Synonyme für Verrat, “folglich kann er nur als eine Kampfschrift über die Realität existieren. Er fechtet alles an. Er kann nur dadurch überleben, dass er einfriert, indem er zunehmend totalitär wird.” (Camatte) Um also den Plan widerzuspiegeln und zu bestätigen muss das Individuum aufhören zu denken.

V

Das ursprüngliche Ziel, der “befreite Mensch” wird an die Praxis verloren, wenn es dem Selbstbewusstsein des Egokraten untergeordnet wird, denn “Selbstbewusstsein wird selbst zum Ziel und verdinglicht sich in einer Organisation, die darin besteht, das Ziel zu personifizieren.” (Camatte) Die Gruppe gegenseitiger Bewunderer benötigt ein Programm und einen Treffpunkt; sie wird zu einer Institution. Die Organisation, die die Form einer bolschewistischen oder nazi-Zelle, eines sozialistischen Lesekreises oder einer anarchistischen Affinitätsgruppe annimmt, je nach lokalen Gegebenheiten und individuellen Vorlieben, “schafft ein günstiges Klima für informelle Herrschaft von Propagandisten und Verteidigern ihrer Ideologie, Spezialisten, die im allgemeinen umso mittelmäßiger sind, je mehr ihre intellektuelle Aktivität in der Widerholung bestimmter endgültiger Wahrheiten besteht. Ideologischer Respekt für einstimmige Entscheidungen ist insgesamt vorteilhaft für unkontrollierte Macht innerhalb der Organisation selbst, einer aus Spezialisten für die Freiheit” (schrieb Debord über anarchistische Organisationen). Indem es das herrschende Spektakel ideologisch ablehnt, reproduziert die Organisation aus Spezialisten für die Freiheit die Beziehungen des Spektakels in ihrer internen Praxis.

VI

Die den Plan verkörpernde Organisation wendet sich an die Welt, weil “das Projekt dieses Selbstbewusstseins darin besteht, die Realität in ihrem Konzept einzuschließen.” (Camatte) Die Gruppe wird militant. Sie zieht aus, um die internen Beziehungen der Organisation auf die Gesellschaft auszuweiten, wobei eine Variante dessen wie folgt beschrieben werden kann: “Innerhalb der Partei darf keiner zögern, wenn der Befehl der Führung erteilt wird, ‘vorwärts zu marschieren’, niemand darf sich nach rechts drehen, wenn der Befehl ‘links’ lautet.” (ein revolutionärer Anführer, zitiert nach M. Velli.) An diesem Punkt ist der spezifische Gehalt des Plans für die Praxis ebenso irrelevant wie die Geografie des christlichen Paradieses, weil das Ziel auf einen Totschläger reduziert wurde: Es dient als Rechtfertigung für die repressiven Praktiken der Gruppe und als ein Instrument der Erpressung. (Beispiele: “Von der sozialistischen Ideologie auch nur geringfügig abzuweichen, bedeutet die bourgeoise Ideologie zu stärken.” Lenin, zitiert nach M. Velli; “Wenn ‘Libertäre’ andere verleumderisch niedermachen, dann stelle ich ihre Reife und ihre Hingabe an den revolutionären sozialen Wandel in Frage”, ein “Anarchist” in einem Brief an The Fifth Estate.)

VII

Die militante Organisation wächst mithilfe von Konvertierungen und Manipulationen. Konvertierung ist die bevorzugte Technik des frühen Bolschewismus und des missionarischen Anarchismus: Die explizite Aufgabe der Kämpfer ist es der arbeitenden Klasse Selbsbewusstsein einzuflösen (Lenin), “arbeitende Menschen mit unseren Ideen zu erreichen” (ein “Anarchist” in “The Red Menace” [dt. “Die Rote Bedrohung”] Toronto). Aber die implizite Aufgabe und das praktische Resultat seiner Tätigkeit besteht darin, die Praxis der Arbeiter zu beeinflussen, nicht ihr Denken. Die Konvertierung ist erfolgreich, wenn die Arbeiter, egal was ihre Ideen sind, Beiträge an die Organisation zahlen und den Aufrufen der Organisation gehorchen (Streiks, Demonstrationen, etc.). Das implizite Ziel des Egokraten besteht darin, seine Hegemonie (und die seiner Organisation) über eine große Anzahl von Individuen zu errichten, der Anführer einer Masse an Gefolgsleuten zu werden. Dieses implizite Ziel wird auf zynische Weise zu einem expliziten, wenn es sich bei den Kämpfern um Nazis oder Stalinisten (oder eine Mischung aus beiden, wie bei der US Arbeiterpartei) handelt. Konvertierung weicht der Manipulation, die unverblühmt lügt. In diesem Modell ist die Rekrutierung von Anhängern das explizite Ziel und die Idee nicht länger ein Fixstern, perfekt und unveränderlich; die Idee wird zu einem bloßen Mittel für das explizite Ziel; was immer die meisten Anhänger*innen rekrutiert, ist eine gute Idee; die Idee wird zu einer zynisch konstruierten Collage basierend auf den Ängsten und Ressentiments potentieller Anhänger; ihr hauptsächliches Versprechen ist die Vernichtung von Sündenböcken: “Konterrevolutionäre”, “Anarchisten”, “CIA Agenten”, “Juden”, etc. Der Unterschied zwischen Manipulatoren und Missionaren ist ein theoretischer; in der Praxis sind sie Konkurrenten auf dem gleichen sozialen Millieu und sie bedienen sich der Techniken des jeweils anderen.

VIII

Um die Idee auszustrahlen, also um zu konvertieren oder zu manipulieren, benötigt der Egokrat Instrumente, Medien, und es sind genau solche Medien, die ihm die Gesellschaft des Spektakels im Überfluss zur Verfügung stellt. Eine Rechtfertigung sich dieser Medien zu bedienen lautet wie folgt: “Die Medien sind derzeit ein Monopol der herrschenden Klassen, die diese zu ihrem eigenen Nutzen zweckentfremden. Aber ihre Struktur bleibt ‘grundsätzlich egalitär’, und es ist die Aufgabe der revolutionären Praxis, dieses Potential, das sie bieten, das aber von der kapitalistischen Herrschaft pervertiert wird, hervorzuholen. In einem Wort: sie zu befreien …” (eine Position, die von Baudrillard paraphrasiert wird.) Die Ursprüngliche Ablehnung des Spektakels, die Sehnsucht nach Gemeinschaft und Kommunikation wurde durch die Sehnsucht ersetzt, Macht über genau die Instrumente auszuüben, die Gemeinschaft und Kommunikation auslöschen. Bedenken oder ein plötzlicher Ausbruch von Kritik werden durch organisatorische Erpressung ausgeschlossen: “Die Leninisten werden gewinnen, außer wir akzeptieren selbst die Verantwortung zu kämpfen, um zu gewinnen…,” (“The Red Menace.” Ein Stalinist würde sagen, “Die Trotzkisten werden gewinnen …”, etc.) Von diesem Punkt an, lässt sich alles machen; alle Mittel sind richtig, wenn sie zum Ziel führen; und an der absurden äußersten Grenze wird sogar Werbung, die Aktivität und Sprache des Kapitals selbst, zu einem gerechtfertigten revolutionären Mittel: “Wir konzentrieren uns vor allem auf Distribution und Reklame … Unsere Werbearbeit ist breit gefächert und teuer. Sie beinhaltet überregionale Anzeigen, Werbesendungen, Kataloge, Tischaufsteller im ganzen Land, etc. All das kostet eine enorme Menge Geld und Energie, die von den Einnahmen gedeckt wird, die mit dem Verkauf von Büchern gemacht werden.” (Ein “anarchistischer Geschäftsmann” in einem Brief an The Fifth Estate.) Ist dieser anarchistische Geschäftsmann ein groteskes Beispiel, weil es so lächerlich übertrieben ist, oder befindet er sich vollkommen innerhalb der orthodoxen Tradition organisierten Kampfes? “Das Hauptinstrument, das wir benötigen, um den Sozialismus einzuführen ist der ‘Staatsapparat’, den wir fertig vom Kapitalismus übernehmen; unsere Aufgabe dabei besteht darin, bloß das abzuhacken, was diesen exzellenten Apparat kapitalistisch verstümmelt, um ihn noch gewaltiger, selbst demokratischer, selbst allumfassender zu machen …” (Lenin, zitiert nach M. Velli.)

IX

Für den Egokraten sind die Medien bloße Mittel; das Ziel ist Hegemonie, Macht und die Kontrolle über die Geheimpolizei. “Als unsichtbare Piloten im Zentrum des volkstümlichen Sturms müssen wir ihn nicht mit einer sichtbaren Macht lenken, sondern mit der kollektiven Diktatur aller Verbündeten. Eine Diktatur ohne Abzeichen, ohne Namen, ohne offizielle Befugnisse, und doch eine umso mächtigere, weil sie keine der Erscheinungsformen der Macht besitzt.” (Bakunin, zitiert nach Debord) Die kollektive Diktatur aller wird schnell zur Herrschaft des einzigen Egokraten weil “wenn all die Bürokraten zusammen alles entscheiden, der Zusammenhalt ihrer eigenen Klasse nur durch die Konzentration ihrer terroristischen Macht in einer einzigen Person sichergestellt werden kann.” (Debord) Mit dem Erfolg des Unterfangens des Egokraten, der Errichtung der “Diktatur ohne offzielle Befugnisse”, ist Kommunikation nicht nur auf einer sozialen Ebene ausbleibend; jeder lokale Versuch wird von der Polizei absichtlich liquidiert. Diese Situation ist keine “Entstellung” der ursprünglichen, “reinen Absichten” der Organisation; sie ist bereits in den Mitteln angelegt, den “grundsätzlich egalitären” Instrumenten, die für ihren Sieg genutzt werden. “Was die Massenmedien ausmacht ist die Tatsache, dass sie Anti-Vermittler, Intransitive sind, die Tatsache, dass sie nicht-Kommunikation erzeugen … Fernsehen ist alleine durch seine Präsenz eine soziale Kontrolle im Zuhause. Es ist nicht notwendig, sich diese Kontrolle als das Periskop des Regimes vorzustellen, mit dem das Privatleben von jedem ausspioniert wird, da das Fernsehen bereits besser als das ist: Es stellt sicher, dass die Menschen nicht länger miteinander reden, dass sie definitiv isoliert sind, angesichts der Aussagen ohne Antworten.” (Baudrillard)

X

Das Projekt des Egokraten ist überflüssig. Die kapitalistischen Medien der Produktion und Kommunikation reduzieren die Menschen bereits zu stimmlosen und machtlosen Zuschauern, passiven Opfern, die beständig den “Eigenlobreden” der herrschenden Ordnung unterworfen sind. Die antiautoritäre Revolution erfordert nicht ein anderes Medium, sondern die Vernichtung aller Medien, “die Vernichtung ihrer gesamten derzeitigen Struktur, sowohl funktional, als auch technisch, ihrer Betriebsform sozusagen, die überall ihre soziale Form widerspiegelt. Schließlich ist es offensichtlich das bloße Konzept von Medium, das verschwindet und verschwinden muss: das ausgetauschte Wort, wechselseitiger und symbolischer Austausch, negieren die Vorstellung und Funktion des Mediums, der Vermittlung … Wechselseitigkeit entsteht durch die Zerstörung des Mediums.” (Baudrillard)

1977

Referenzen

Jean Baudrillard , Pour une critique de l‘ economie politique du signe (Paris , Gallimard , 1972)

Jacques Camatte , The Wandering of Humanity (Detroit , Black & Red , 1975)

Guy Debord , Society of the Spectacle (Detroit , Black & Red , 1970; 1977)

Claude Lefort , Un Homme e n Trap : Reflexions sur „L ‚Archipel de Goulag,“ Paris , Seuil , 1976

Michael Velli , Manual for Revolutionary Leaders (Detroit , Black & Red , 1972)


Übersetzung aus dem Englischen. Fredy Perlman. “The Theses on the Proliferation of the Egocrat” (1977) in Anything Can Happen.