Anarchie in der Spiegelwelt?

Warum das Internet als ein “Ort” für die anarchistische Debatte für den Zündlappen nur von mäßigem Interesse ist und worauf wir unseren Fokus richten, wenn wir an den dort stattfindenden Debatten dennoch teilnehmen

In unterschiedlichem Maße und von unterschiedlichen Standpunkten aus haben wir uns in den vergangenen Jahren an anarchistischen Diskussionen, die im Internet stattfanden, beteiligt, diese beobachtet und uns über unsere Erfahrungen mit dieser Art von Diskussion ausgetauscht. Dabei stellte sich für uns immer wieder die Sinnfrage, denn entgegen den oft viel fruchtbareren Diskussionen, die wir von Angesicht zu Angesicht führen, lässt sich von einem Austausch im Internet, wie er derzeit stattfindet, kaum erwarten, dass daraus Spannungen entstehen, aus denen Affinitäten, ebenso wie Feindschaften – wobei letztere vielleicht in einer sehr absonderlichen Social-Media-Gossip-Form schon – entstünden, dass eine*n diese Diskussionen irgendwie in der eigenen Analyse weiter brächten oder dass diese wenigstens Spaß machen würden. Und obwohl man dem Internet ja nachsagt, Menschen von überall auf der ganzen weiten Welt miteinander in Austausch zu bringen, so fällt doch – und wen überrascht das wirklich? – vielmehr auf, dass jene wenigen Beziehungen, die letztlich in einer durch das Internet vermittelten Annäherung ihren Anfang gefunden haben, ebensogut sich hätten in der realen Welt anbahnen können, weil man ihnen hier und dort – ohne es zu wissen – eh schon über den Weg gelaufen war.

Zugleich lässt sich jedoch auch beobachten, dass in den Tiefen des Internets, oft in jenen Tiefen, in die keine*r von uns je vorgedrungen ist, dann doch die eine oder andere auch für uns weniger fortschrittliche, der Technologie grundsätzlich feindlich gegenüberstehenden Spießer*innen spannende Diskussion abzulaufen scheint, die sich um die gleichen oder sehr ähnliche Themen dreht, die auch uns beschäftigen. Interessant dabei ist, dass diese Diskussionen oft in völliger Unkenntnis voneinander stattfinden. Teilweise entstehen im Internet Übersetzungen von Texten, die schon vor Jahren oder Jahrzehnten übersetzt wurden, die jedoch außer in den sehr realen anarchistischen Archiven kaum wo zu finden sind, teilweise entstehen sogar Übersetzungen von Texten, die in Print auch heute noch aktiv distributiert werden. Aber auch wenn die hier skizzierte Tendenz, dass nämlich das Internet und die darin stattfindenden Diskussionen vor allem diejenigen sind, die in Unkenntnis der Diskussionen eines Außerhalb stattfinden, mir durchaus dominant zu sein scheint, so gibt es umgekehrt schon auch eine Unkenntnis dessen, was da den lieben langen Tag so im Internet veröffentlicht und diskutiert wird und was bis auf die vereinzelten Ausdrucke derjenigen Weirdos, die zwar das Internet konsultieren, aber nicht am Bildschirm lesen, niemals die Druckpressen erreichen wird. Kurz gesagt: Es sind zwei Welten. Eine, in der sich von Angesicht zu Angesicht begegnet wird, in der Zeitungen, Broschüren und Bücher von Hand zu Hand gehen, in der Plakate geklebt und Graffiti gemalt werden, in der sich beleidigt wird, und in der man – und man sollte diesen Aspekt nicht unterschätzen – seinem Gegenüber in die Augen blicken muss, ebenso wie man sich statt der Worte oder ergänzend zu ihnen, eben auch anderer Mittel der Kommunikation bedienen kann. Und eine, in der Texte, Bilder und Videos vorrangig algorithmisch zu ihren Leser*innen und Betrachter*innen gelangen, in der immer potentiell alles zugleich verfügbar ist und daher schnell der Eindruck entsteht, eben auch alles zu kennen, eine in der vieles auf Memes und Slogans gebracht wird, in der es Taten nur in Form ihres videographischen Abbildes gibt, in der es zwar Beleidigungen gibt, aber man einander weder hinterher noch in die Augen sehen muss, noch die Möglichkeit hat, seinen Emotionen mit handfesteren Argumenten Ausdruck zu verleihen. Eine Welt, die einmal ein Spiegel der anderen gewesen sein mag, die nun jedoch ein Eigenleben entwickelt hat, sich von ihrem materiellen Ballast vielfach getrennt hat und in der dennoch rege auch über anarchistische Positionen diskutiert wird. Obwohl es viele Versuche gegeben hat, die Grenzen, die die eine Welt von der anderen trennen, zu verwischen und manche Projekte darin sicherlich auch gewisse Erfolge verzeichnen konnten, bleiben Diskussionen zunehmend in ihren jeweiligen Sphären. Sei es aus Bequemlichkeit – oder weil einen eben doch mehr trennt, als es manchmal vielleicht den Anschein hat. Ob es von einer Debatte im Internet ausgehend, nicht vielleicht auch Aufbruchmomente gegeben haben mag, gibt oder geben wird, die zu etwas Realem führen, das lässt sich aus unserer Sicht sicherlich nicht abschließend beurteilen, wir haben daran jedoch erhebliche Zweifel.

Zugleich bestätigte sich in der jüngeren Vergangenheit zweifellos das, was irgendwo immer schon gewiss war: Das Internet zu nutzen, um seine Ideen zu verbreiten eröffnet den diversen Formen der Repression viele neue Einfalls-Möglichkeiten. Weil unterschiedslos jede*r, nicht zuletzt auch unabhängig vom eigenen Standort, an das dort veröffentlichte gelangen kann, von der Anarchistin bis zur Bullin, vom linken bis zum rechten Feind, vom Journalist bis zur Hobby-Detektivin, von der Geheimagentin bis zum sozialen Gerechtigkeitskrieger, und all das ohne auch nur den Mut aufbringen zu müssen, den Fuß über die Schwelle eines jener Räume zu setzen, in denen man waschechten Anarchist*innen begegnet, lassen sich die im Internet veröffentlichten Texte eben auch sehr viel leichter auf alle erdenklichen Arten und Weisen analysieren, einordnen, bewerten und im Anschluss diffamieren, verfolgen, (scheinbar) distinkten Millieus und Personen zuordnen, usw., während zugleich auch die Hemmschwellen zu sinken scheinen, haltlose Anschuldigungen vorzubringen oder gar Denunziation in Form von (nur scheinbar informierten) Spekulationen oder auch den aus dem im Internet noch zunehmenden Gossip bestimmter Subkulturen gewonnenen Informationen zu betreiben, bzw. diese Hemmschwellen sowieso niemals bei allen erreichten Personen existiert haben. Aber auch wenn jene eindeutig negativen Aspekte einer Verlagerung der anarchistischen Diskussion ins Netz sicherlich eine Rolle dabei spielen, wenn wir das Interesse daran verloren haben, so sollen diese Überlegungen hier nicht weiter verfolgt werden. Wer sich für dieses Thema interessiert, wird vielleicht im ebenfalls hier veröffentlichten Artikel Snitch-Technologie fündig.

Wir jedenfalls haben erhebliche Zweifel daran, dass sich das kybernetische Netz für unsere Ziele, nämlich den Kampf gegen die Herrschaft zu intensivieren und dabei Beziehungen zu knüpfen, die uns darin bestärken, uns Kraft geben und einander auffangen lassen, in jenen Momenten, in denen uns die eigene Kraft verlässt, nutzen lässt. Ja selbst zu einer Entwicklung unserer Analysen haben die Diskussionen des Internets in all den Jahren nur wenig beigetragen. Es ist nicht unsere Welt, die da durch die Glasfaserleitungen flimmert und wir haben deshalb nur wenig Interesse, unsere Ideen selbst zu einem matten Flackern am Ende der Leitung verkommen zu lassen.

Und doch: Die Realität ist … digital? Kybernetisch? Nein, noch nicht. Noch begegnen wir realen Menschen und nicht bloß Robortern und Drohnen, wenn wir unsere Ideen als Zeitungen und Flyer auf den Straßen in den Städten verteilen, noch blickt die eine oder andere von ihrem Smartphone auf, wenn wir Plakate kleistern, hält für einen Moment inne, um zu lesen, was da steht, noch führen wir Diskussionen nicht ausschließlich im Kreis der wenigen verbliebenen Technologieverweigerer. Aber wenn man realistisch bleiben will, so ist es auch Teil der Realität, dass viele potentielle Gefährt*innen das was jenseits des kybernetischen Netzes stattfindet, gar nicht mehr mitbekommen, während wir selbst – nicht dass wir daran etwas ändern wollen würden – deren Diskussionen dort immer nur aus den Erzählungen derer erfahren, die das Internet auf der (verzweifelten) Suche nach anderen Anarchist*innen enthusiastisch durchforsten.

Wenn wir also heute, wie in Zukunft das Internet nicht mit letzter Konsequenz meiden werden, so nur deshalb, weil wir darauf hoffen, in diesem technologischen Minenfeld doch noch die eine oder andere Gefährt*in zu finden oder von ihr*ihm gefunden zu werden. Wobei für uns unmissverständlich klar ist: Anarchie bleibt etwas Reales, Anarchie lässt sich nicht digitalisieren und schon gar nicht virtualisieren.

Deshalb gibt es den Zündlappen mit Ausnahme dieser Ausgabe auch ausschließlich gedruckt. Weitergegeben von Hand zu Hand, von Gefährt*in zu Gefährt*in und manchmal vielleicht auch über den Umweg durch die Hand des Postboten. Allerdings werden wir einzelne Artikel, von denen wir denken, dass sie zu jenen Diskussionen passen, die wir in den Untiefen des kybernetischen Netzes aufspüren, auch auf einem Blog veröffentlichen. Denn wer weiß, manchmal entspringen doch einige der größten Spannungen hin zur Revolte aus dem Unerwarteten …