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Über Spekulationen

Was Mutmaßungen über die Urheber*innenschaft von Angriffen und Co. anrichten

Es mag zunächst einmal unnötig erscheinen, einen Text über Spekulationen zu verfassen, scheint es doch zu dem Thema nicht allzu viel Neues und Spannendes zu sagen zu geben. Nichtsdestotrotz ließ sich in den letzten Jahren beobachten, wie Spekulationen über tatsächliche oder vermeintliche Täter*innen(millieus) zu konkreten Angriffen auf die Herrschaft am Rande anarchistischer Szenen, insbesondere aber in der davon nur seltenst klar getrennten, linken Szene, grassierten. Ganz besonders dann, wenn ein Angriff kontrovers diskutiert wurde, kamen diese Debatten um die Sinnhaftigkeit, die “Vermittelbarkeit” oder die (moralische?) Verwerflichkeit dieses Angriffs selten aus, ohne dass irgendwer sich bemüßigt fühlte, (sogar öffentlich) mit dem Finger auf bestimmte Gruppen und manchmal sogar konkrete Personen zu zeigen, diese verdächtigend, diese Taten begangen zu haben. Es mag vielleicht alles Relevante zu diesem Thema bereits gesagt worden sein, nichtsdestotrotz erscheint es mir dringend notwendig, einige wesentliche Überlegungen zu diesem Thema erneut aufzuwerfen und zur Diskussion zu stellen.

Zunächst möchte ich einige Worte zur Ausgangssituation verlieren: Nicht nur dank der Technologisierung und der weitestgehend erfolgreichen Selbstverwanzung der Menschen mit Smartphones (und leider macht dieser Trend auch bei Anarchist*innen immer weniger Halt), ist damit zu rechnen, dass innerhalb dessen, was man vielleicht sowohl in Ermangelung eines besseren Wortes als auch angesichts der Tatsache, dass diese Bezeichnung leider nicht grundverkehrt ist, “anarchistische Szene” nennen mag, also innerhalb eines Kreises von Anarchist*innen und jenen, die sich ihnen vielleicht als Sympathisant*innen annähern, der weder durch Affinitäten begrenzt wird, noch uneingeschränkt als zugänglich für jeden beschrieben werden kann, auch der staatliche Feind latent präsent ist, unsere Gespräche belauscht und mehr noch, vielleicht sogar die Informationen aus unterschiedlichsten Gesprächen an unterschiedlichen Orten und zwischen ganz unterschiedlichen Personen, zusammenträgt und auswertet. Smartphones, Telefongespräche und mehr mögen es dem Bullen vielleicht einfacher machen, nichtsdestotrotz wird er mit Gewissheit – das bezeugen alle Fälle, in denen entsprechende Beweise dafür gefunden wurden – auch Räume, Fahrzeuge, Wohnungen, usw., ja manchmal sogar bestimmte Bereiche von Parkanlagen, verwanzen, um unsere Gespräche zu belauschen, er wird Telefone abhören, Smartphones in Wanzen verwandeln, uns mit Richtmikrofonen nachstellen, und vieles mehr. Manchmal bemerken wir, dass wir belauscht werden, die meiste Zeit sind wir vermutlich ahnungslos. Wir können (und sollten) uns also nur der allgegenwärtigen, abstrakten Gefahr bewusst werden, dass es sehr wohl sein könnte, dass alles was wir in anarchistischen Räumen, in Wohnungen, in wiederholt genutzten Räumlichkeiten, in Anwesenheit eines Mobiltelefons, am Telefon sowieso, und bis zu einem gewissen Grad auch an häufiger genutzten Orten im Freien oder in Hörreichweite eines einem nachstellenden Schweins äußern, mit ein klein wenig Pech unmittelbar auf dem Schreibtisch eines noch in unserer Scheiße eifrig nach Informationen wühlenden Bullenschweins landen könnte, das sich brennend für manche Dinge, die da gesagt werden, interessiert.

Wenn ich dies als die Ausgangssituation schildere, als die Realität mit der wir uns als Anarchist*innen und jene, die sich innerhalb dessen, was man vielleicht eine “anarchistische Szene” nennen muss, bewegen, konfrontiert sehen müssen, so nicht, um damit Paranoia zu schüren, um dazu aufrufen, jede*n “Fremden” mit Misstrauen zu behandeln und sich einen Habitus letztlich sowieso bloß wichtigtuerischer Geheimniskrämerei zuzulegen, ganz im Gegenteil. Ich denke der Umgang mit dieser Situation, den ich bevorzuge, besteht vielmehr darin, sich dieser Ausgangslage klar zu werden, ein klares Verständnis davon zu gewinnen, was dies bedeutet und dann abseits irgendwelcher Rituale die Unsicherheiten, die einen angesichts dessen überkommen mögen, individuell und kollektiv zu überwinden, um unsere Beziehungen nicht von einem Gefühl der Paranoia überschatten zu lassen. Es ist ohnehin nur der neueste Schrei, die Beziehungen von Anarchist*innen (und nicht nur die von Anarchist*innen) mithilfe von Technologie zu infiltrieren und natürlich gibt es auch weiterhin alle möglichen Arten von Spitzeln, mit deren Anwesenheit immerhin gerechnet werden muss. Was ich vorschlage, um dieser Situation zu begegnen, ist im Grunde uralt: Beziehungen, die auf Basis von (individuellem!) Vertrauen geführt werden. Und Vertrauen muss sich entwickeln, durch gemeinsame Diskussionen, Erfahrungen und schließlich Taten. Dadurch, dass man einander kennen lernt, dass man intime Beziehungen zueinander führt, die auf geteilten Ideen basieren. Dieser Artikel ist nicht der Ort um diesen Prozess im Detail zu beleuchten, es ist ja auch ohnehin ein individueller; und ich will hier ohnehin nur klar machen, dass es mir nicht darum geht, den meiner Ansicht nach kontraproduktiven Szene-Habitus zu reproduzieren, bei dem es Codes, Rituale und Stilfragen sind, die den Eindruck von Sicherheit und Klandestinität vermitteln, dabei aber oft gar nicht verhindern, dass munter über Dinge getratscht wird, über die man besser schweigt, ja oft sogar nicht einmal eine Kritik daran formulieren, und stattdessen vielmehr eine In- und Outgroup-Erfahrung schaffen, mit allen zugehörigen Hierarchien und Illusionen.

Dies gesagt, lässt sich mein Vorschlag, und es ist derselbe, den schon Anarchist*innen vor mehr als hundert Jahren formuliert haben, sehr einfach zusammenfassen: Es obliegt ausschließlich denjenigen, die eine Tat begangen haben, darüber zu entscheiden, ob und wenn ja in welcher Form sie sich dazu bekennen wollen. Und ich würde allen empfehlen, solche Bekenntnisse, wenn sie denn unbedingt sein müssen, auf einen einmaligen Akt anonymer Erklärungen zu beschränken und ansonsten über die eigene Urheber*innenschaft geflissentlich zu schweigen.

Und um vielleicht ergänzend aus dem Communist zu zitieren:

Was einer allein thun kann, das möge er allein thun, und NIEMANDEM davon sprechen, denn dies ist für seine Sicherheit nöthig. Im Falle einer collectiven Handlung, möchten wir der Sicherheit halber davor warnen, mehr Personen in die Affäre zu ziehen, als gerade nothwendig sind. Ganz besonders warnen wir davor, eine Frau etwas ernstes wissen zu lassen, das nicht unumgänglich nothwendig ist, denn die Frauen werden fast immer für vollkommen betrachtet, und nur zu oft sind sie es welche uns verrathen.[1] Um die Anonymität zu wahren darf man selbstverständlich kein Süffel sein, der in Clubs, Vereinen und Kneipen herumsäuft und herumplagirt.

– Aus Der Communist Nr. 10, 1892, zitiert nach Namenlos. Beiträge zu einer anarchistischen Diskussion über Anonymität und Angriff.

Wenn man aber vor dem Hintergrund unserer Ausgangssituation den Täter*innen einer Tat auch tatsächlich zugestehen will, dass sie selbst entscheiden, inwiefern sie sich offenbaren, dann verbietet es sich automatisch, darüber zu sprechen, wen man hinter einer Tat vermutet. Und warum wäre einem das auch wichtig? Lässt sich nicht einerseits hervorragend über eine Tat streiten, ohne deren Urheber*innen zu kennen? Und andererseits, kann man eine Tat nicht ebensogut, ja vielleicht sogar besser noch, begrüßen, wenn man sie von der Identität – und was stünde anderes dahinter? – der Täter*in trennt? Ist es nicht sogar langweilig die Individualität der Menschen auf mit Sprache und kleingeistigem Verstand begreifbare Identitätskategorien einzuengen und dieses lächerliche Spiel sogar noch auf jene Situationen zu übertragen, in denen wir es vielmehr mit einer Handlung zu tun haben?

Und wie ist es mit Spekulationen darüber, aus welchem (anarchistischen) Millieu – und darüber hinausgehend, ob es denn überhaupt Anarchist*innen waren – eine Tat stammen könnte? Es ist gar nicht einmal von Bedeutung, ob solche Spekulationen wohl durchdacht und allgemein einleuchtend sind, ob sie bloß das unwissende Geschwätz von den ewiggleichen Tratschmäulern sind oder ob sie vielleicht eine Einschätzung wiedergeben, die ohnehin jede*r Anarchist*in bestätigen würde. Den Bullen ersteinmal vorliegend ist eine solche Einschätzung Gold wert: Immerhin geht es den Bullen und dem Staat, für den sie arbeiten, letztlich weniger darum, Leute für konkrete Straftaten einzubuchten, sondern eben Anarchist*innen dafür einzubuchten, dass sie Feinde des Staates sind. Es ist eine anarchistische Strategie innerhalb dessen, was Rechtsstaat genannt wird, einige der ideologischen Grundpfeiler dieses Staates, dass nämlich in der Regel eine individuelle Tatschuld nachgewiesen werden muss, um jemanden einzubuchten, zu ihrem Vorteil zu gebrauchen und sich dahinter zu verstecken. Wir sollten jedoch niemals den Fehler begehen und glauben, dass es sich hier um mehr als eine Täuschung handelt. Nötigenfalls hält sich der Staat nicht an Gesetze, die ihn limitieren. Er hat bloß Angst davor, die Missgunst relevanter Bevölkerungsgruppen zu wecken, hat Angst davor, dass seine Lügen entlarvt werden. Wenn aber Anarchist*innen ihm die Arbeit abnehmen, bestimmte, immer kleinere Millieus als verantwortlich für strafbare Handlungen zu vermuten und der Staat, bzw. seine Bullen, dies mitbekommt, dann nimmt er dieses Geschenk gerne auch einmal an. Ob man nun Razzien bei dutzenden Anarchist*innen veranstaltet oder gleich alle in Untersuchungshaft steckt, solange die Repression die gewünschte Wirkung entfaltet, ist es dem Staat doch einerlei, ob sie sich mit seinen Kriterien der Rechtsstaatlichkeit deckt, das ist kein Geheimnis.

Die Spekulationen darüber, wer eine Tat begangen haben könnte, auch wenn sie nur auf bestimmte Millieus verweisen, sie können dem Staat also sogar unabhängig davon gelegen kommen, ob sie letztlich ein Hinweis in die “richtige Richtung” waren, oder ob sie gänzlich der Phantasie des Spekulanten entsprungen sind. Und eben weil sie der Repression dienlich sind, erwarte ich von allen Anarchist*innen und jenen, die sich in ihrem Umfeld bewegen, dass sie diese unterlassen!

Weder schuldig noch unschuldig. Das ist die sympathischere Parole als der autoritär anmutende Imperativ von “Anna und Arthur halten’s Maul!”, sie läuft jedoch auf dasselbe hinaus. Wenn wir uns als Anarchist*innen mit jedem Angriff auf die Herrschaft soweit gemein machen, dass wir ihn in seiner Stoßrichtung begrüßen und wenn wir einander gegen die Schergen des Staates verteidigen wollen, dann bedeutet das, dass wir die polizeiliche Straflogik von Schuldig und Unschuldig ablehnen. Und ganz gewiss hat diese Logik nichts in unseren Beziehungen zueinander zu suchen, wo sie in Form von derlei Spekulationen viel zu oft Einzug hält!

Während ich bei all diesen Überlegungen durchaus sehe, und bereit bin anzuerkennen, dass die eine oder andere unbedachte Äußerung, so ärgerlich und folgenschwer sie auch sein kann, nicht die Absicht einer Person bezeugt, andere in Gefahr zu bringen und das Ganze wohl für uns alle ein ständiger Prozess der Verbesserung ist, in dem Fehler ebenso passieren, wie sie auch reflektiert werden und dies sicherlich auch eine gewisse Toleranz aller miteinander, sowie die Bereitschaft, Fehler einzugestehen eines jeden, erfordert, kann ich nicht umhin, nun noch einen Blick auf jene Zeitgenossen zu werfen, die durch öffentliche Äußerungen gegenüber der Presse oder im Internet sowie durch die praktische Polizeiarbeit, Spekulationen in Richtung konkreter Personen zu lenken, einen anderen Umgang erforderlich machen.

Es mag ein gewisser allgemeiner Usus geworden zu sein, die größte Scheiße, die einem im Hirn herumspukt, in die Tiefen des Internets zu entleeren; ganz besonders in den sogenannten “sozialen Netzwerken”. Und es ist kein Geheimnis, dass alles, was dort geschrieben wird, jedes Bild und Video, das dort hinterlassen wird und auch sonst alles erdenklich andere, von den Repressionsbehörden des Staates problemlos mitgelesen werden kann. Das gilt für Twitter ebenso wie für vermeintlich “sichere” Chatgruppen bei Signal und Co. Wie oft waren nach der (massenhaften) Beschlagnahme von Mobiltelefonen bei Demonstrationen schon die Protokolle irgendwelcher “geheimer” und sicher geglaubter Chatgruppen in den Akten der Staatsanwaltschaft aufgetaucht? Es mögen vielleicht auch zwei völlig verschiedene Welten sein, die hier aufeinandertreffen, jene der Plenumsgänger*innen, die zwar ihre Handys vorher gewissenhaft und alle zusammen in einem Kochtopf verstauen, später aber die Protokolle ihres Treffens für alle nicht-Dagewesenen oder vor Langeweile Eingeschlafenen in die Signal- oder Telegram-Gruppe stellen und die vielleicht vor allem zu befürchten haben, dass die Bullen den geheimen Strukturen ihrer internen Bürokratie auf die Schliche kommen, und dann die derjenigen, die glauben, dass die zu Beginn dieses Textes geschilderte Situation für sie eine gewisse Relevanz besitzt und die sich daher nicht nur einen gewissen “Style von Klandestinität”, wie er vielleicht für die schlechtesten Kinofilme gerade ausreichend ist, aneignen. Eigentlich kann man es nur hoffen. Aber das bedeutet nicht, dass die Scheiße, die in solche Chatgruppen geschissen wird, nicht stinken würde. Ob man Spekulationen ins Internet stellt, der Presse mitteilt (und ja, auch “ich glaube nicht, dass das jemand von meiner Peergroup war, wir sind ja auch alle ganz friedliche Leutchen” ist auch eine Spekulation und lässt sich nach dem Ausschluss-Prinzip arbeitend von den Schweinen gelegentlich sogar ganz gut gebrauchen) oder der Polizei direkt die eigene Einschätzung mitteilt, ein solches Verhalten passiert nicht einfach mal aus Versehen. Wer soetwas macht, scheißt in aller Regel ganz bewusst darauf, dass sein Verhalten andere Personen gefährdet. Ebenso wie eine Person, die versucht mit den eigenen Spekulationen auf eine konkrete Person hinzudeuten, keinen Zweifel daran lässt, dass sie die Arbeit eines Bullen verrichtet. Es mag stimmen, diese Personen verhalten sich so, weil sie keinerlei Solidarität mit jenen empfinden, die sie einer bestimmten Tat verdächtigen, und sie beweisen, dass sie in diesem Fall gewillt sind, bereitwillig der staatlichen Repression zuzuarbeiten.

Ich halte es für eine Gefahr, dass, wenn auch nur über Ecken, in irgendeiner Form mittelbare Beziehungen zu solchen Leuten bestehen und halte es darüber hinaus für unabdinglich, eine klare Trennungslinie zu solchen Gestalten zu ziehen. Notfalls auch, indem ich alle Beziehungen zu jenen abbreche, die weiterhin mit solchen Leuten abhängen.


[1] Und weil diese Passage bereits in der Vergangenheit vielleicht einem übertriebenen Reflex politischer Korrektheit nachgebend, entsprechend hinsichtlich des Naheliegenden angekreidet wurde – wobei meiner Interpretation nach vielleicht auch eher eine einordnende Fußnote Anlass der Aufregung war –, will ich hier zu einer möglichen Einordnung anmerken, dass es hier ja möglicherweise – zumindest interpretiere ich das so – um nicht tatbeteiligte Frauen, also beispielsweise Liebhaberinnen oder solche, deren Liebhaber man gerne wäre, geht. Und selbstverständlich sollte niemand so naiv sein, zu denken, nur weil man mit einer Person schläft – oder sie vielleicht auch gerne ins Bett bekommen würde und vielleicht hofft, auf diese Weise bei ihr zu landen –, man deshalb irgendwie anders handeln sollte, als man es sonst täte.

Anarchie in der Spiegelwelt?

Warum das Internet als ein “Ort” für die anarchistische Debatte für den Zündlappen nur von mäßigem Interesse ist und worauf wir unseren Fokus richten, wenn wir an den dort stattfindenden Debatten dennoch teilnehmen

In unterschiedlichem Maße und von unterschiedlichen Standpunkten aus haben wir uns in den vergangenen Jahren an anarchistischen Diskussionen, die im Internet stattfanden, beteiligt, diese beobachtet und uns über unsere Erfahrungen mit dieser Art von Diskussion ausgetauscht. Dabei stellte sich für uns immer wieder die Sinnfrage, denn entgegen den oft viel fruchtbareren Diskussionen, die wir von Angesicht zu Angesicht führen, lässt sich von einem Austausch im Internet, wie er derzeit stattfindet, kaum erwarten, dass daraus Spannungen entstehen, aus denen Affinitäten, ebenso wie Feindschaften – wobei letztere vielleicht in einer sehr absonderlichen Social-Media-Gossip-Form schon – entstünden, dass eine*n diese Diskussionen irgendwie in der eigenen Analyse weiter brächten oder dass diese wenigstens Spaß machen würden. Und obwohl man dem Internet ja nachsagt, Menschen von überall auf der ganzen weiten Welt miteinander in Austausch zu bringen, so fällt doch – und wen überrascht das wirklich? – vielmehr auf, dass jene wenigen Beziehungen, die letztlich in einer durch das Internet vermittelten Annäherung ihren Anfang gefunden haben, ebensogut sich hätten in der realen Welt anbahnen können, weil man ihnen hier und dort – ohne es zu wissen – eh schon über den Weg gelaufen war.

Zugleich lässt sich jedoch auch beobachten, dass in den Tiefen des Internets, oft in jenen Tiefen, in die keine*r von uns je vorgedrungen ist, dann doch die eine oder andere auch für uns weniger fortschrittliche, der Technologie grundsätzlich feindlich gegenüberstehenden Spießer*innen spannende Diskussion abzulaufen scheint, die sich um die gleichen oder sehr ähnliche Themen dreht, die auch uns beschäftigen. Interessant dabei ist, dass diese Diskussionen oft in völliger Unkenntnis voneinander stattfinden. Teilweise entstehen im Internet Übersetzungen von Texten, die schon vor Jahren oder Jahrzehnten übersetzt wurden, die jedoch außer in den sehr realen anarchistischen Archiven kaum wo zu finden sind, teilweise entstehen sogar Übersetzungen von Texten, die in Print auch heute noch aktiv distributiert werden. Aber auch wenn die hier skizzierte Tendenz, dass nämlich das Internet und die darin stattfindenden Diskussionen vor allem diejenigen sind, die in Unkenntnis der Diskussionen eines Außerhalb stattfinden, mir durchaus dominant zu sein scheint, so gibt es umgekehrt schon auch eine Unkenntnis dessen, was da den lieben langen Tag so im Internet veröffentlicht und diskutiert wird und was bis auf die vereinzelten Ausdrucke derjenigen Weirdos, die zwar das Internet konsultieren, aber nicht am Bildschirm lesen, niemals die Druckpressen erreichen wird. Kurz gesagt: Es sind zwei Welten. Eine, in der sich von Angesicht zu Angesicht begegnet wird, in der Zeitungen, Broschüren und Bücher von Hand zu Hand gehen, in der Plakate geklebt und Graffiti gemalt werden, in der sich beleidigt wird, und in der man – und man sollte diesen Aspekt nicht unterschätzen – seinem Gegenüber in die Augen blicken muss, ebenso wie man sich statt der Worte oder ergänzend zu ihnen, eben auch anderer Mittel der Kommunikation bedienen kann. Und eine, in der Texte, Bilder und Videos vorrangig algorithmisch zu ihren Leser*innen und Betrachter*innen gelangen, in der immer potentiell alles zugleich verfügbar ist und daher schnell der Eindruck entsteht, eben auch alles zu kennen, eine in der vieles auf Memes und Slogans gebracht wird, in der es Taten nur in Form ihres videographischen Abbildes gibt, in der es zwar Beleidigungen gibt, aber man einander weder hinterher noch in die Augen sehen muss, noch die Möglichkeit hat, seinen Emotionen mit handfesteren Argumenten Ausdruck zu verleihen. Eine Welt, die einmal ein Spiegel der anderen gewesen sein mag, die nun jedoch ein Eigenleben entwickelt hat, sich von ihrem materiellen Ballast vielfach getrennt hat und in der dennoch rege auch über anarchistische Positionen diskutiert wird. Obwohl es viele Versuche gegeben hat, die Grenzen, die die eine Welt von der anderen trennen, zu verwischen und manche Projekte darin sicherlich auch gewisse Erfolge verzeichnen konnten, bleiben Diskussionen zunehmend in ihren jeweiligen Sphären. Sei es aus Bequemlichkeit – oder weil einen eben doch mehr trennt, als es manchmal vielleicht den Anschein hat. Ob es von einer Debatte im Internet ausgehend, nicht vielleicht auch Aufbruchmomente gegeben haben mag, gibt oder geben wird, die zu etwas Realem führen, das lässt sich aus unserer Sicht sicherlich nicht abschließend beurteilen, wir haben daran jedoch erhebliche Zweifel.

Zugleich bestätigte sich in der jüngeren Vergangenheit zweifellos das, was irgendwo immer schon gewiss war: Das Internet zu nutzen, um seine Ideen zu verbreiten eröffnet den diversen Formen der Repression viele neue Einfalls-Möglichkeiten. Weil unterschiedslos jede*r, nicht zuletzt auch unabhängig vom eigenen Standort, an das dort veröffentlichte gelangen kann, von der Anarchistin bis zur Bullin, vom linken bis zum rechten Feind, vom Journalist bis zur Hobby-Detektivin, von der Geheimagentin bis zum sozialen Gerechtigkeitskrieger, und all das ohne auch nur den Mut aufbringen zu müssen, den Fuß über die Schwelle eines jener Räume zu setzen, in denen man waschechten Anarchist*innen begegnet, lassen sich die im Internet veröffentlichten Texte eben auch sehr viel leichter auf alle erdenklichen Arten und Weisen analysieren, einordnen, bewerten und im Anschluss diffamieren, verfolgen, (scheinbar) distinkten Millieus und Personen zuordnen, usw., während zugleich auch die Hemmschwellen zu sinken scheinen, haltlose Anschuldigungen vorzubringen oder gar Denunziation in Form von (nur scheinbar informierten) Spekulationen oder auch den aus dem im Internet noch zunehmenden Gossip bestimmter Subkulturen gewonnenen Informationen zu betreiben, bzw. diese Hemmschwellen sowieso niemals bei allen erreichten Personen existiert haben. Aber auch wenn jene eindeutig negativen Aspekte einer Verlagerung der anarchistischen Diskussion ins Netz sicherlich eine Rolle dabei spielen, wenn wir das Interesse daran verloren haben, so sollen diese Überlegungen hier nicht weiter verfolgt werden. Wer sich für dieses Thema interessiert, wird vielleicht im ebenfalls hier veröffentlichten Artikel Snitch-Technologie fündig.

Wir jedenfalls haben erhebliche Zweifel daran, dass sich das kybernetische Netz für unsere Ziele, nämlich den Kampf gegen die Herrschaft zu intensivieren und dabei Beziehungen zu knüpfen, die uns darin bestärken, uns Kraft geben und einander auffangen lassen, in jenen Momenten, in denen uns die eigene Kraft verlässt, nutzen lässt. Ja selbst zu einer Entwicklung unserer Analysen haben die Diskussionen des Internets in all den Jahren nur wenig beigetragen. Es ist nicht unsere Welt, die da durch die Glasfaserleitungen flimmert und wir haben deshalb nur wenig Interesse, unsere Ideen selbst zu einem matten Flackern am Ende der Leitung verkommen zu lassen.

Und doch: Die Realität ist … digital? Kybernetisch? Nein, noch nicht. Noch begegnen wir realen Menschen und nicht bloß Robortern und Drohnen, wenn wir unsere Ideen als Zeitungen und Flyer auf den Straßen in den Städten verteilen, noch blickt die eine oder andere von ihrem Smartphone auf, wenn wir Plakate kleistern, hält für einen Moment inne, um zu lesen, was da steht, noch führen wir Diskussionen nicht ausschließlich im Kreis der wenigen verbliebenen Technologieverweigerer. Aber wenn man realistisch bleiben will, so ist es auch Teil der Realität, dass viele potentielle Gefährt*innen das was jenseits des kybernetischen Netzes stattfindet, gar nicht mehr mitbekommen, während wir selbst – nicht dass wir daran etwas ändern wollen würden – deren Diskussionen dort immer nur aus den Erzählungen derer erfahren, die das Internet auf der (verzweifelten) Suche nach anderen Anarchist*innen enthusiastisch durchforsten.

Wenn wir also heute, wie in Zukunft das Internet nicht mit letzter Konsequenz meiden werden, so nur deshalb, weil wir darauf hoffen, in diesem technologischen Minenfeld doch noch die eine oder andere Gefährt*in zu finden oder von ihr*ihm gefunden zu werden. Wobei für uns unmissverständlich klar ist: Anarchie bleibt etwas Reales, Anarchie lässt sich nicht digitalisieren und schon gar nicht virtualisieren.

Deshalb gibt es den Zündlappen mit Ausnahme dieser Ausgabe auch ausschließlich gedruckt. Weitergegeben von Hand zu Hand, von Gefährt*in zu Gefährt*in und manchmal vielleicht auch über den Umweg durch die Hand des Postboten. Allerdings werden wir einzelne Artikel, von denen wir denken, dass sie zu jenen Diskussionen passen, die wir in den Untiefen des kybernetischen Netzes aufspüren, auch auf einem Blog veröffentlichen. Denn wer weiß, manchmal entspringen doch einige der größten Spannungen hin zur Revolte aus dem Unerwarteten …

Über Communiqués

Die Frage von Bekennungen und Communiqués wurde und wird immer wieder heftig diskutiert. Unserer Meinung nach werden im deutschsprachigen Raum viel zu häufig und vor allem viel zu ausschweifende Communiqués zu Angriffen verfasst, die entweder selbsterklärend sind, oder aber auch mit wenigen Zeilen erklärt werden könnten. Als Herausgeber*innen einer Zeitung, in der wir selbstverständlich auch diverse Angriffe auf die Herrschaft abbilden wollen, mit denen wir Sympathien empfinden, stehen wir vor dem Problem, dass wir einerseits die Entscheidung von Angreifer*innen, die Communiqués verfassen respektieren und diese entsprechend möglichst ungekürzt wiedergeben wollen, andererseits keinesfalls der Dynamik zutragen wollen, dass Angriffe, die nicht von Communiqués begleitet sind, alleine schon vom beanspruchten Platz, den diese im Vergleich zu ellenlangen Communiqués einnehmen, untergehen. Wir haben uns daher für eine sehr pragmatische Lösung entschieden: Je länger ein Communiqué, desto kleiner werden wir die Schriftgröße wählen, in der wir es abdrucken, im Zweifel ohne jede Rücksicht auf Lesbarkeit. Natürlich mag es immer auch Ausnahmen geben, denn natürlich mag es auch Communiqués geben, die notwendig erscheinen, um den Kontext und die Gründe eines Angriffs zu erklären. Allerdings kann man wohl mit gutem Recht sagen, dass dies nur auf eine absolute Minderheit der Fälle zutrifft.

Selbstverständlich werden wir über Angriffe, zu denen es uns bekannte Communiqués gibt, die diese Angriffe trotz grundsätzlicher Sympathien mit unseren Ideen unvereinbar erscheinen lassen, nicht berichten.

Und wo wir hier schon einmal davon reden, wollen wir auch kurz und knapp auf die Gefahren, die das Verfassen von Communiqués unserer Meinung nach mit sich bringt, eingehen:

  • Mithilfe von Stylometrischen Untersuchungen arbeitet das BKA daran, Communiqués, ebenso wie andere Texte bestimmter Millieus einander zuzuordnen, um so Hinweise auf Tatserien, ebenso wie Täter*innen zu bekommen. Mehr dazu hier.
  • Es ist äußerst schwierig beim Veröffentlichen von Communiqués, sei es in der klassischen Form auf Papier oder auch im Internet jegliche Spuren zu vermeiden. Selbst wenn Communiqués in nicht-persistenter Form (beispielsweise mithilfe von Tails) verfasst und unter Einsatz von Anonymisierungssoftware (wie beispielsweise Tor) publiziert werden, so gibt es dabei eine Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigen, die letztlich dennoch zur Ergreifung von Täter*innen führen können.
  • Selbst wenn die Publikation eines Communiqués soweit klappte, ist es in der Vergangenheit durchaus schon passiert, dass Personen bei dieser Tätigkeit observiert wurden und auch wenn die Cops nicht gesehen haben, was genau sie da an ihrem Computer getrieben haben, ihnen diese Tätigkeit im Nachhinein dennoch zuordnen konnten.