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Kriegslogiken

Seite beziehen. Wenn während des ersten Weltkriegs die furchtbare Stellungnahme von Kropotkin für den Sieg eines Teils der Krieg führenden Staaten im Namen der emanzipatorischen Hoffnung selbst berühmt geworden ist, trotz der damaligen Antworten anderer Anarchisten darauf, so liegt das zweifelsohne daran, dass sie das immer mögliche Versagen des Internationalismus und des Antimilitarismus verkörpert. Eine nicht mal originelle, Seite beziehende Position, da die damals wesentlichen sozialistischen Parteien und Arbeitergewerkschaften bereits den Sirenen der nationalen Einheit verfallen waren und sich hinter ihren eigenen kriegstreibenden Staaten eingereiht hatten. Auch wenn es absurd wäre zu vergessen, dass einige Anarchisten manchmal unter Zugzwang ins Wanken gerieten – auch in anderen Situationen wie etwa im Bürgerkrieg (erinnern wir uns an das Dilemma „Krieg oder Revolution?“, in dem die spanische CNT sich für ersteres aussprach) –, wäre es trotzdem etwas voreilig, nur das in Erinnerung zu behalten.

Im Laufe der Kriege, die im letzten Jahrhundert geführt und in die die Gefährten verwickelt wurden, konnten auch zahlreiche subversive Interventionen kompromisslos gegen diese gerichtet umgesetzt werden, angepasst an den Ort, an dem sich die Gefährten befanden, wie etwa autonome (normalerweise dezentralisierte und koordinierte) Kampfgruppen zu bilden, Hilfsnetzwerke für Deserteure beider Seiten aufzubauen, Sabotagen gegen den militaro-industriellen Apparat hinter der Front zu verüben, die Mobilisierung der Menschen zu untergraben und die nationale Einheit zu sprengen, die Unzufriedenheit und die Kriegsverdrossenheit zu schüren und zu versuchen, diese Kriege für das Vaterland in Aufstände für die Freiheit zu verwandeln. Man wird uns vielleicht entgegnen, dass die Umstände sich seit diesen Experimenten stark verändert hätten, aber sicherlich nicht zu dem Punkt, dass man nicht mehr aus diesem Arsenal schöpfen könnte, wenn man in diese Feindlichkeiten hineinintervenieren möchte, d. h. indem man zuerst von den eigenen Ideen und Projektualitäten ausgeht als vom geringeren Übel, das darin besteht die Seite und die Interessen eines Staates gegen einen anderen zu unterstützen. Denn wenn wir gegen den Frieden der Herrschaft sind, gegen den Frieden der Verdummung und des Gehorsams, sind wir natürlich auch gegen den Krieg. Weil Krieg und Frieden tatsächlich zwei Begriffe sind, die eine gleiche Kontinuität der kapitalistischen Ausbeutung und der staatlichen Herrschaft abdecken.

Energie. Unter den verschiedenen großspurig angekündigten Sanktionspaketen, die von den westlichen Staaten verhängt wurden, um ihren russischen Gegenspieler an seinem Kopf und seiner Basis zu treffen, hätte jeder die ausgefeilten kleinen Betrügereien bemerken können. Unter den gewichtigen Ausnahmen dieser Sanktionen (die momentan ihre vierte Salve abfeuern) befinden sich momentan tatsächlich die russischen Exporte energetischer (Erdöl und Gas) und bergbaulicher Rohstoffe. Und das trifft sich gut, da Russland 40 % des Palladiums und 25 % des Titans auf der Welt produziert, der weltweit zweitgrößte Produzent von Aluminium und Gas ist, sowie der drittgrößte von Nickel und Erdöl. Alles Stoffe, deren Kurse seit dem Beginn der Invasion in das ukrainische Gebiet explodieren, sodass Russland noch mehr Einnahmen abgreift… die ihm übrigens hauptsächlich von den Mächtigen derselben Länder verschafft werden, die ununterbrochen humanistische Schreckensschreie aufgrund der momentanen Situation ausstoßen. Um nur ein Beispiel zu nennen: seit Kriegsbeginn zahlt die Europäische Union Russland täglich 400 Million Dollar für sein Gas und etwa 280 Millionen Dollar für sein Erdöl, deren Zahlungen die beiden Banken in Empfang nehmen, die von den Finanzsanktionen verschont wurden (und das aus guten Gründen!), die Sberbank und die Gazprombank. Die enormen Summen von all dem Rest, der für die westliche Automobilindustrie (Palladium), Aeronautik und Verteidigung (Titan) und die westlichen elektrischen Batterien (Nickel) unerlässlich ist, ersparen wir euch an dieser Stelle mal.

Wenn man sagt, dass der Krieg hier beginnt, dann ähnelt das häufig einem einfachen Wiederkäuen eines alten ideologischen Slogans des letzten Jahrhunderts, doch wenn heute jemand auf die Idee käme sich zu fragen, wer tatsächlich den russischen Angriff finanziert, könnte er sich denselben zuwenden, die die Gegenseite, die ukrainische Verteidigung, finanzieren: es handelt sich um das techno-industrielle System der westlichen Staaten, das für so eine Kleinigkeit nicht aufhören wird in vollen Touren zu laufen, insbesondere da der Krieg, die Massaker und die Zerstörungen auf dem Planeten bereits intrinsisch Teil seiner Funktionsweise sind.

Und um die Ironie perfekt zu machen, gibt es unterschiedliche Interessen, von denen die beiden Kriegsparteien sich tunlichst hüten, diese in diesem mörderischen Krieg aufs Spiel zu setzen, um ihren gemeinsamen westlichen Financiers nicht zu schaden: die zwei gigantischen Gaspipelines Brotherhood und Soyouz, die aus Russland kommen und anschließend das ganze ukrainische Gebiet durchqueren, ehe sie in Richtung Deutschland und Italien abzweigen. Ähnlich verhält es sich auch damit, dass keine der beiden Kriegsparteien andere ebenso für die nationale Wirtschaft empfindliche Ziele anzurühren wagt, weil sie lebenswichtig für die aeronautischen Industrien der europäischen Verteidigung sind (insbesondere Airbus und Safran), wie die Titanfabrik der Gruppe VSMPO-Avisma, die sich in der immer noch unter ukrainischer Kontrolle stehenden Stadt Nikopol befindet, und trotzdem direktes Eigentum des Hauptexporteurs des russischen militaro-industriellen Komplexes Rosoboronexport istDas, was wie ein Paradoxon wirken könnte, ist in Wirklichkeit nur die bittere Illustration einer der Charakteristiken zwischenstaatlicher Kriege: auch wenn sie sie ohne zu zögern im Namen des nationalistischen, religiösen oder ethnischen Hasses vom Zaune brechen, sind es selten die Mächtigen, die dafür zahlen müssen – da sie offensichtlich in der Lage sind sich wenn nötig untereinander zu einigen –, sondern die Bevölkerungen, die alle mörderischen Konsequenzen erleiden müssen. Ein bisschen wie der Umstand, dass Frankreich Russland von 2014 bis 2020 weiterhin mit Wärmebildkameras beliefert hat, um seine Panzer auszustatten, die momentan im Krieg in der Ukraine eingesetzt werden, oder mit Navigationssystemen und Infrarotdetektoren für seine Jagdflieger und seine Helikopter, während Frankreich nun die Ukraine mit Luft- und Panzerabwehrraketen ausstattet. Was die Energie wie das militärische Equipment betrifft, sind die Financiers und die Profiteure des Krieges ebenfalls hier, und hier ist es auch, wo wir sie bekämpfen können.

Einer der Vorteile der Bildung kleiner autonomer Gruppen, die über ihre Ziele wie über ihre Zeitlichkeit – für jene hier, die den Krieg mit einem anderen Blick betrachten, und jene, die woanders nicht die Gelegenheit zur Flucht haben oder sich freiwillig dafür entscheiden zu bleiben –selbst entscheiden, könnte also beispielsweise in der Sabotage der gemeinsamen kapitalistischen und strategischen Interessen der Herrscher beider Staaten und ihrer Verbündeten liegen, die so anschließend weder dem einen noch dem anderen von Nutzen sein können, egal wer der Sieger ist. Gewiss, eine andere Möglichkeit, die aber keineswegs vom Himmel fallen kann angesichts der Schwierigkeiten, die es zu meistern gilt, was eventuell bedarf, dass sie bereits vorher entwickelt und vorbereitet wurde, insbesondere mithilfe organisationeller Werkzeuge, die das Teilen von Bemühungen, Wissen und adäquaten Mitteln erleichtern. Diese alte Frage der Interessen im Spiel hat übrigens bereits die Netzwerke französischer Widerstandskämpfer unter der deutschen Besatzung beschäftigt, deren Kommando wie das der anglo-amerikanischen Dienste selbstverständlich darauf bestand, dass ihre Industriesabotagen von jenem sensiblen Standort oder jener Struktur auf jeden Fall behebbar bleiben müssten, sodass die Produktion des Feindes nur verlangsamt wurde, oder dass sie nur Ziele zerstören, die für das zukünftige Neustarten des Landes nicht kritisch sind.

Subjekte. In diesem schmutzigen Krieg, in dem momentan intensive Kämpfe in städtischen Zonen vermieden werden, ist die russische Armee seit mehreren Wochen damit beschäftigt mehrere Städte einzukreisen und intensiv zu bombardieren, einer Taktik gemäß, die sich bereits in Aleppo bewährt hat. In Mariupol beispielsweise, wo 300 000 Personen belagert unter fürchterlichen Bedingungen überleben, haben viele auf ihre Kosten verstehen müssen, dass sie in Wirklichkeit unter dem Feuer beider Staaten als Geiseln genommen wurden. Inmitten der zerstörten Gebäude ist es so ihre eigene Armee, der zahlreiche kleine Gruppen von hungernden Zivilisten entgegentreten müssen, wenn sie sich aus ihren Unterschlüpfen wagen, um in den verlassenen Geschäften nach Nahrungsmitteln zu suchen.

Um sein Monopol in den Ruinen aufrechtzuerhalten und weiterhin jegliche Ressource prioritär den bewaffneten Männern zukommen zu lassen, hat der ukrainische Staat also den Freiwilligen der Brigaden der Territorialen Verteidigung (Teroborona) nicht nur die Aufgabe übertragen, seine kritischen Infrastrukturen in zweiter Linie zu verteidigen, sondern auch jene, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten, was beispielsweise die Plünderungsversuche der Verzweifelten umfasst. Für einen Staat, der das Kriegsrecht ausgerufen hat, während er in den bombardierten Städten kontrollierte Formen der Selbstorganisierung, die erlauben die eigenen Mängel zu ergänzen, wesentlich toleriert, sei es natürlich die patriotische Pflicht, auf die einem zugestandenen Krümel mit leerem Bauch zu warten, während man das Wasser aus den Heizkörpern trinkt, da es wohlbekannt ist, dass Plünderungen des allerheiligsten verlassenen Eigentums nur von feindlichen Soldaten oder von Verrätern kommen kann, wie es die täglichen Befehle einhämmern. Und über die tragische Situation in Mariupol hinaus handelt es sich um dieselbe Logik, die in der Hauptstadt Kiew, während sie immer weiter von den russischen Truppen eingekreist wird, zur Anwendung kommt, diesmal mit Ausgangssperren, bei der die letzte nicht mehr nächtlich war, sondern 36 Stunden am Stück umfasste, um der Armee und der Polizei die Priorität zu geben, und in der man „jede Person, die sich in diesem Zeitraum auf der Straße befindet, als Mitglied von Gruppen feindlicher Saboteure“ betrachtete, mit allen Konsequenzen, die das mit sich zieht.

Auch hier ist die Feststellung, dass der Staat seinen eisernen Arm in Kriegszeiten noch mehr als in Friedenszeiten nicht nur auf den Geist, sondern auch auf die Körper all seiner Subjekte auflegt, nicht nur eine abgedroschene Phrase: Kanon- oder Bombenfutter, auf der Suche nach Essen oder nach Komplizen, um sich außerhalb des staatlichen Joches selbst zu organisieren, oder auch nur um eine andere Luft zu atmen als die in der Enge der Unterschlüpfe oder um sich selbst ein Bild zu machen, jeder Individualität wird befohlen, sich auf dem Schachbrett der zwei anwesenden Armeen freiwillig oder mittels Zwang aufzulösen. Eine Situation, die sich offensichtlich bis an die westlichen Grenzen der Ukraine erstreckt, die mehr als drei Millionen Flüchtende bereits überquert haben… nachdem sie penibel kontrolliert wurden, um alle wehrfähigen Männer zwischen 18 und 60 Jahren unter ihnen zu entfernen. Während sich eine Welle der Unterstützung der Familien auf beiden Seiten der Grenze ausgebreitet hat, betrifft einer der bemerkenswertesten Aspekte jedoch die feine Solidarität mit jenen, die sich weigern zu kämpfen und nicht die Möglichkeit haben den korrupten ukrainischen Grenzern 1500 € zu zahlen, die gerade anfängt sich trotz der Feindseligkeit eines Teils der Bewohner zu bilden. Insbesondere durch das Verteilen gefälschter Atteste und Spenden biometrischer Pässe, das einzige offizielle Dokument, das in Ungarn oder in Rumänien während der ersten zwei Wochen des Konflikts akzeptiert wurde, um die Geflüchteten ihr Territorium betreten zu lassen.

Sortieren, auswählen, piorisieren, registrieren, klassifizieren, um an den Grenzen die guten Armen von den schlechten Armen (ihre Nationalität eingeschlossen, wie es die Staatsangehörigen von afrikanischen Ländern am eigenen Leib erfahren mussten) zu trennen, ist natürlich keine Besonderheit des ukrainischen Staates in Kriegszeiten, sondern die Kontinuität einer weitläufigen Hölle der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit, ökonomischen Kuhhandels und geostrategischer Imperative. Das ist der Grund, aus dem die einen dazu verurteilt werden im Mittelmeer zu ertrinken, die anderen in den Lagern des UNHCR zu vegetieren, um in benachbarten Territorien festgehalten zu werden, und die letzten glorreich ihrem Vaterland zu dienen oder als Lohnsklaven in reichen Ländern, die immer auf der Suche nach ausbeutbarer Arbeitskraft zu einem Spottpreis sind. Denn letzten Endes rührt die Grausamkeit der Herrschaft – die sich nie so sehr enthüllt wie in Kriegen, im Elend und den Massakern, die sie hervorruft – zuerst vielleicht davon her: ihrem intrinsischen Anspruch, als Herrin im Namen ihrer eigenen Interessen auf dem Gebiet, das sie kontrolliert, zu herrschen, und zu versuchen jedes Lebewesen, das sie beherrscht, in austauschbare Subjekte zu verwandeln, zum Preis ihrer Vernichtung als Individuen.

Dringlichkeit. Seit Jahren schon werden Wellen von Bedrohungen aus allen Windrichtungen hochgehalten und instrumentalisiert, um die Angst innerhalb einer immer militarisierteren Verwaltung des sozialen „Friedens“ zu destillieren: Terrorismus, Naturkatastrophe, Covid-19… oder nun die mögliche nukleare Entfesselung in der Ausweitung des Konflikts an den Außengrenzen Europas. Und natürlich wird die kleine Musik des xten Opfers, das gebracht werden muss, um in Reih und Glied hinterm Staat zuzustimmen, immer schriller. Doch ist es im Grunde vielleicht wahr, dass es etwas zu opfern gäbe, ohne dass man dafür tausende Kilometer zurücklegen muss. Denn dieses weitläufige System des Todes im großen Maßstab, wird es nicht von einer Energie, einer Industrie, Transporten, Kommunikationen und einer Technologie genährt, die täglich vor unserer Nase vorbeiziehen? Den Krieg der Welt zurückzugeben, die ihn hervorbringt, indem man seinen Nachschub unterbricht, wäre also eine andere Art und Weise, um die Reihen des Feindes zu durchbrechen, indem man überall den Konflikt gegen ihn verbreitet.


Übersetzung aus dem Französischen, „Logiques de Guerre“, Avis de Tempêtes #51, 15. März 2022.

Sich vorantastend…

Alleine im Wald?

»Isère: Verschwörungstheoretiker voller Wut gegen den Staat fackelte Funkmasten ab«

»Drôme: Der Brandstifter von Pierrelatte: Gegen 5G, aber nicht gegen Glasfaser«

»Rhône: Zwei Mönche für das Abfackeln von 5G-Funkmasten verhaftet«

»Paris: Der Impfgegner sabotiert 26 5G-Antennen, um Frankreich vor den Covid-19-Verschwörungen zu retten«

Presseschlagzeilen der letzten Monate

Die Staatsbehörden haben seit 2018 hunderte Sabotagen gegen Telekommunikationsinfrastruktur registriert. Abgefackelte Funkmasten, durchgeschnittene Glasfaserkabel, verkohlte Verteiler, zerstörte Telefonschränke: diese Praktiken haben sich auf das gesamte Territorium ausgebreitet und haben definitiv in den letzten zwei Jahren eine quantitative Steigerung erfahren. Die Qualität der nächtlichen Aktivitäten der Saboteure und Saboteurinnen scheint ebenfalls einen Sprung gemacht zu haben: es kam zu Sabotagen, die besonders sensible Knotenpunkte trafen, andere waren koordiniert oder wiederholten sich in derselben geographischen Zone, andere zielten auf die Störung der Kommunikation einer genauen Struktur, Zone oder eines genauen Moments ab… Kurz, trotz der wiederholten Warnungen der Autoritäten, der Alarmschreie der Anbieter und einer nicht zu vernachlässigenden Zahl an Festnahmen zielen Angriffe weiterhin auf diese Infrastrukturen, die sich schwer vor einem verstohlenen Schnitt mit der Zange oder einem nächtlichen Brand schützen lassen.

Während letztere unleugbar die Venen der technologischen Herrschaft anvisierten, bleiben die individuellen Beweggründe und die darüber hinausgehenden Sehnsüchte der Hände, die diese vollbrachten, hingegen häufig im Dunkeln. Die Repression, deren eine primäre Aufgabe es natürlich ist, die Urheber der Missetaten, die das reibungslose Funktionieren der Gesellschaft durcheinander bringen, zu identifizieren, hat dennoch ein wenig die Diversität der Personen enthüllt, die sich auf Spaziergänge im Mondschein begeben. Auch wenn man dabei mit den Informationen vorsichtig sein muss, die in den Zeitungen veröffentlicht werden, ebenso wie mit den Anliegen der Verurteilten, die von Journalisten „zitiert“ werden, und ebenso vermeiden will, für uns die „Profile“ und „Kategorien“ zu übernehmen, die von den Staatsbehörden zum Zwecke der Kartographierung, der Aktenführung und der Repression etabliert wurden, hat man in diesen letzten Jahren äußerst unterschiedliche Personen gesehen, die für Angriffe auf die permanente Konnektivität verurteilt wurden. Während der Glanzzeiten der Gelbwesten haben beispielsweise zahlreiche Kleingruppen Sabotagen innerhalb oder am Rande dieser Bewegung der heterogenen Revolte verübt. Andere Verurteilte betonten vor dem Gericht ihre ökologische Sensibilität, ihren Widerstand gegen 5G wegen seiner schädlichen Auswirkungen auf die Gesundheit und die Umwelt, ihre linke Gesinnung oder ihre Verweigerung der Kontrolle. Andere wieder, auch mit belastenden Beweisen und letzten Endes Verurteilungen konfrontiert, weigerten sich bis zum Ende vor Gericht oder in der Presse lange Erklärungen abzugeben. Hinter ihrer sturen Stummheit könnten sich sicherlich wenig freiheitliche Ansichten verstecken, allerdings heißt der Umstand, dass man keinen Sinn darin sieht, seine Spannungen und seine Ideen einem Journalisten zu erklären, sicherlich nicht, dass man notwendigerweise kein „Problem damit hat mit Verschwörungstheoretikern oder Rechtsextremen in Verbindung gebracht zu werden“. Genauso wie der Umstand, dass man nicht Teil eines mehr oder weniger „militanten“ Milieus ist, dass man kein „Solidaritätskomitee“ hat, das die eigenen Ideen verteidigt, sobald die Bullen sich auf einen stürzen, dass man keine öffentlichen Briefe schreibt, um unsere Handlungen zu erklären, nicht heißt, dass man automatisch Teil der „Faschos“ ist, die planen einen Rassenkrieg durch das Verursachen von Chaos auszulösen, oder der „Verschwörungstheoretiker“, die sich den Kopf im digitalen Netz vollstopfen lassen, oder der „Fundis“, die die neuen Technologien als Werk des Teufels betrachten.

In den letzten Monaten haben Presseschlagzeilen wie jene am Anfang des Textes zitierten etwas, das einige das „Wohlwollen“ gegenüber dem Schweigen der Urheber von Angriffen nennen würden, strapaziert, was sogar so weit ging, bei Gefährten einen existenziellen Fieberschub auszulösen. Die Logik scheint dabei standzuhalten: wenn es erwiesenermaßen hinter all den anonymen Angriffen – ja, das muss man hier erklären, die meisten Angriffe gegen die Telekommunikationsinfrastruktur wurden nicht von einem Communiqué begleitet und haben weder den Ermittlern noch den wachsamen Hütern der Genealogie einen Hinweis auf die ideologische Gesinnung gegeben – manchmal wenig empfehlenswerte Leute wie Gotteserleuchtete, patriotische Aktivisten oder besonders verwirrte Personen gegeben hat, die sich in irgendwas verrannt haben,… dann muss also jeder anonyme Angriff als etwas behandelt werden, das möglicherweise, sehr möglicherweise, von wenig empfehlenswerten Leuten kommt.

Der logische Fehler springt einem sofort ins Auge, doch was für eine Bedeutung haben schon die Überlegungen, die Argumente, die kritischen Evaluationen oder die Vertiefungen, wenn es einfacher ist sich alleine im Wald zu wähnen anstatt zu begreifen, dass nicht verachtenswerte Personen, die man nicht kennt und die vielleicht, ja wahrscheinlich, sehr unterschiedliche Visionen und Empfindsamkeiten von den unsrigen haben, ebenfalls durch das Unterholz schleichen könnten. Alleine im Wald, alleine wie Anarchisten, edle Diener eines höheren Ideals, ohne Widersprüche in unserem Leben, ohne „Schandflecken“ auf unserem ererbten Wappen, ohne Zweifel in unserem Denken und ohne „Fehl und Tadel“ in unseren Beziehungen und unserer Lebensweise, klar wie ein Vollmond und ohne eine einzige „revolutionäre“ oder „aufständische Illusion“. Trotzdem, auch wenn es immer möglich ist, sich selbst in die Tasche zu lügen, auch wenn es immer möglich ist sich ein Kartenhaus zu errichten, das der erste Windhauch der Realität wie Sand davonfegen wird, gibt es auch andere Wege, die sich nicht von der Welt, die uns umgebt, abgrenzen, die es nicht nötig haben unsere Ideen und jene, die sie verkörpern, auf ein Podest überhalb jeder Möglichkeit eines Fehlers zu erheben, um dem Kampf einen Sinn und unserem Leben Bedeutung zu verleihen.

Denn wir sind im Wald nicht allein. Wir sind nicht die einzigen menschlichen Faktoren der Unordnung, genauso wie die Menschen nicht mal der einzige Faktor sind, der die fragilen Gleichgewichte, auf denen die Welt in voller vernichtender Niederlage sich fortzubewegen sucht, ins Schwanken bringt. Andere Personen handeln, vielleicht mit weniger vertieften Ideen als den deinen, mit feineren Empfindsamkeiten als den meinen, von einem unmittelbaren Verlangen nach Rache gegen ein tödliches System bewegt, von einer finsteren Rache gegen ein Leben, dem jeder Sinn genommen wurde, ebenso wie von einem ideologischen oder religiösen Glauben, der in Konflikt ist mit dem technologischen Marsch der Welt.

Die Gründe

»Weil im Grunde das Wesentliche der Frage nicht die vermuteten Beweggründe von absoluten Unbekannten, über die man sowieso niemals etwas wissen wird (außer im Falle einer eventuellen Verhaftung, die wir niemandem wünschen), betrifft, sondern wie wir, innerhalb des sozialen Krieges, unsere Handlungen, die zu uns sprechen und mit unseren Ideen vibrieren, widerhallen lassen wollen. Ob sie nun kollektiv sind oder individuell, diffus oder sehr konkret, breit teilbar oder bösartig ketzerisch, komplett anonym oder subversiv gelabelt, im Schatten der Projektoren oder von ihren Urhebern auf verschiedene Weisen publik gemacht.«

Wanted interconnectés, Juli 2021

Angesichts der Feststellung, dass der Wald nicht nur Anarchisten Schutz bietet, öffnen sich im Großen und Ganzen zwei Möglichkeiten mit wie immer tausenden dazwischen liegenden Nuancen.

Die erste besteht darin zu denken, dass angesichts dessen, dass niemand anderes als wir anarchistische Ideen teilt (zumindest in ihrer Ganzheit, die sie stark von anderen Ideologien unterscheiden, die man mehr oder weniger je nach Situation und Präferenz des Moments in Stückchen zerschneiden kann), alle „Akte der Revolte“, alle „Momente der Unordnung“, alle „Fragmente des sozialen Kriegs“ oder wie auch immer man das nennen will, sicherlich das Panorama, den Hintergrund ausmachen, in dem wir handeln, aber dass wir uns davor hüten müssen, ihnen irgendwelche Beweggründe zu unterstellen. Dann, je mehr im Laufe der Zeit Beweggründe dem Zwielicht des Waldes entfliehen und diesen Handlungen eine bestimmte Farbe verleihen, eine Farbe, die uns aus Prinzip schon nicht ganz und gar gefallen kann (da schließlich die Anarchisten die einzigen sind, die anarchistische Ideen teilen), desto mehr wird es nötig sein unsere Absichten und Beweggründe gegenüber denen der anderen zu betonen oder klarzustellen. Denn jedes Schweigen von unserer Seite aus könnte Wasser auf den Mühlen der Absichten und Beweggründe sein, die wir nicht teilen. Wir sind also dazu gezwungen Fackeln inmitten des Wald zu entfachen, und dafür zu sorgen, dass die Scheiterhaufen, die wir damit entzünden, stärker, höher und heller brennen als die der anderen. Und dabei stark zu riskieren, dass in Wirklichkeit die anarchistische Identität unsere Hauptsorge wird, dass man damit endet (einschließlich in unseren eigenen Kreisen) eine Art von Katechismus zu etablieren, der die guten und die schlechten Punkte abhakt, und damit letztlich darin versagt, die Diversität und den Reichtum der Individualitäten als eine Frucht der Freiheit zu begreifen, sondern als eine fürchterliche Bedrohung.

Die zweite Möglichkeit bleibt immer noch diejenige, von uns selbst auszugehen, von unseren anarchistischen Ideen und Antrieben, aber die anderen „Faktoren der Unordnung“ nicht als Dinge zu begreifen, die es zu assimilieren oder sie derart zu präsentieren gilt, als seien sie – unbewusst und begraben – vom heiligen Feuer der Anarchie inspiriert, sonder einfach als Elemente, die ihr Gewicht und ihre Bedeutung im konkreten (und nicht etwa platonischen oder idealistischen) Krieg, der von den Menschen geführt wird, haben. Ein „sozialer“ Krieg, wenn man so will, im Sinne, in dem dieser die ganze Gesellschaft durchzieht und um die Frage der Herrschaft (in all ihren Deklinationen) kreist, und wo die Anarchisten jene sind, die die Notwendigkeit der Zerstörung der Herrschaft anstatt ihrer Reorganisierung verteidigen. Dieser „soziale Krieg“ ist nicht der Ausdruck einer Spannung in Richtung der „totalen Befreiung“ oder „der Anarchie“, er macht nur den Konflikt aus, aus dem die sozialen Beziehungen geboren werden und sich verändern, die wiederum im Gegenzug die Modalitäten dieses „sozialen Krieges“ prägen. Die von jenen, die an diesem Krieg beteiligt sind, stillschweigend oder explizit geäußerten Beweggründe müssen also in ihren historischen Kontext platziert und nicht extrahiert werden, um sie dann im Pantheon der Abstraktionen zu vergleichen.

Ohne natürlich ihr Gewicht zu leugnen, nimmt diese zweite Möglichkeit (entschuldigt mich für diese viel zu grobe Schematisierung) damit diese Beweggründe nicht als die einzige Referenz, als einzigen Hinweis der Realität, sondern als eine unter anderen. Das Bedürfnis eine Genealogie der „Akte der Revolte“ herzustellen, die Beweggründe der Urheber herauszufinden, ist viel weniger spürbar – ebenso das Bedürfnis systematisch Erklärungen der eigenen zu liefern. Der Erklärung der Handlungen macht damit Platz für die Elaborierung einer Projektualität, die danach strebt über jede einzelne von ihnen hinauszugehen, und der Umstand, dass diese Projektualität aufständische (die Entfesselung einer Situation des Bruchs) oder andere Absichten hat, macht dabei nicht notwendigerweise einen großen Unterschied. Es stimmt, wie es einige Kritiken betonen, dass dies dazu führen kann, das Gewicht der Beweggründe komplett beiseite zu schieben und damit zu riskieren, angesichts dieses Faktors blind zu werden, der tatsächlich zwar nicht der einzige ist, trotzdem aber einer bleibt. In diesem Fall, wenn die „Beweggründe“ hinter den Akten der Revolte nicht das exklusive Element sind, die die Anarchisten in dem, was sie verursachen, interessiert, darf das aber ebenso nicht dazu führen, ihren Einfluss auf die Realität des sozialen Kriegs komplett zu leugnen.

Handlungen, die für sich selbst sprechen?

»Nichts von dem, das geäußert wird, kann so von Drohung beladen sein wie jenes, das es nicht ist.«

Stig Dagerman

In der komplexen Realität, die die unsere ist, sind die Dinge natürlich noch komplizierter und enden sogar damit, jeden Schematismus und jedes Begreifen in ein schönes Chaos zu stürzen und dabei einige zusätzliche Bemerkungen nötig zu machen.

Einerseits, wenn das Schweigen der Aufständischen manchmal letztlich das Gewicht der Beweggründe verdunkelt, antwortet es andererseits auf die praktische Notwendigkeit, dem staatlichen Feind keinen Hinweis zu geben. Auf dieselbe Weise, wenn man einerseits nur schwerlich die Notwendigkeit bezweifelt, seine Gründe in einem wirren Kontext klarzustellen, ja gar in einem Kontext der scharfen Unzufriedenheit, die mit einer strategischen Projektion der Neofaschisten zusammenprallt (wie der gegenwärtige Widerstand gegen den »Pass Sanitaire« und die Angriffe auf Strukturen wie die Impfzentren), muss man andererseits klarsichtig bleiben, was das begrenzte Gewicht von Worten betrifft und was sie auszudrücken und zu vermitteln vermögen. Das gilt natürlich für jeden sprachlichen Ausdruck, vom Plakat zum Flyer und der Diskussion bis hin zur Zeitung oder einem Bekennerschreiben: alle sind von der Fähigkeit des anderen abhängig, das, was geschrieben oder gesagt wurde, zu verstehen.

Wenn man beispielsweise weiterhin in der Lage sein will, die Handlungen der anderen als diverse Ausdrücke innerhalb des „sozialen Krieges“ gut zu finden – von Angriffen auf Bullen in den Banlieues bis hin zu anonymen Infrastruktursabotagen –, muss man offensichtlich eine andere Weise finden das zu tun, als alles auf der kleinen Waage des Anarchismus abzuwägen. Oder wenn doch, müsste man sich definitiv darauf beschränken nur Handlungen zu erwähnen, zu denen sich vorschriftsgemäß Anarchisten bekannt haben, das einzige Mittel um radikal jedes Risiko der Spekulation, voreiligen Zustimmung oder ungesunden Nachforschung zu vermeiden – wohl wissend, dass auch das nur vorläufig sein kann, weil der Anarchist, der gestern eine schöne Handlung vollbracht hat, sich heute immer noch als Drecksack in seinen alltäglichen Beziehungen entpuppen oder morgen seine Meinung ändern kann…

Auf jeden Fall bleibt es im Grunde natürlich wichtig sich die Zeit zu nehmen unsere Beziehungen zu den anderen Lebewesen im Wald auf kritische Art und Weise zu vertiefen, ebenso unsere Art und Weise zu handeln. Jedoch, ebenso wie es tatsächlich weder ein Rezept gibt, das man einfach anwenden, noch ein Dogma, das man einfach hinunterbeten kann, kann es umgekehrt auch keine zu befolgenden Bedienungshinweise dazu geben, „wie man etwas macht“, deren Missachtung mit der Anklage, sich hinter Faschos und anderen Erleuchteten verstecken zu wollen, geahndet wird. Niemand, nicht einmal die borniertesten unter ihnen, werden wagen den Gefährtinnen und Gefährten die Verpflichtung aufzuerlegen ihre Handlungen zu erklären, ihr Projekt detailliert vorzustellen und zu rechtfertigen, ihre Handlungen hinsichtlich gewisser Vorgaben zu labeln, nur um der Bissigkeit irgendeines Chronisten des sozialen Krieges zu entgehen. Es wird immer jeder und jedem einzelnen zufallen, so zu handeln, wie es ihr oder ihm am besten scheint. Auf die Gefahr hin, die einen in Unwissenheit und Unverständnis zu lassen, und den Schatten zu bewahren um die Aktivitäten der anderen zu decken. Auf die Gefahr hin, die einen durch eine Erklärung, die als zu unredlich beurteilt wird, zu enttäuschen, oder andere durch die klare und präzise Darlegung von Ideen und Gefühlen, die einen zur Handlung inspiriert haben, zu inspirieren.

Denn sprechen letzten Endes die Handlungen für sich? Einerseits ja, in dem Sinne, dass sie die Verwirklichung eines konkreten Angriffs auf eine Struktur oder eine bestimmte Person ist. Die Zerstörung eines Funkmastes ist die Zerstörung eines Funkmastes, egal, wie man das gerne interpretieren würde. Andererseits nein, denn sie können nicht in sich selbst alle Beweggründe, Spannungen, Empfindsamkeiten ausdrücken, die den Urheber dazu motiviert haben diesen umzusetzen. Damit sind Handlungen das, was sie sind, ein materieller zerstörerischer Fakt, der die Vorstellungskraft anregen oder öffnen kann (oder auch nicht), nicht mehr, nicht weniger. Gleichzeitig sind es auch all diese Handlungen, die das Panorama ausmachen, in dem wir handeln, und von dem wir Teil sind. Sie erhalten ihren Sinn also auch in einem Kontext, und nicht nur durch die eventuelle ausdrückliche Äußerung der Urheber. Da sie das Leben anderer Menschen durcheinanderbringen, auf den Kopf stellen, infragestellen, können sie niemals das exklusive Eigentum ihrer Urheber sein, so wie auch die Urheber niemals die einzigen sein werden, die ihnen einen Sinn geben (egal ob es darum geht sie gutzuheißen oder sie zu verurteilen). Angesichts dessen ändert der Umstand sich zu einer Handlung zu bekennen oder auch nicht, nicht radikal etwas an der Ausgangssituation. „Die Anderen“ sind nicht einfach passive Zuschauer, die die Handlungen ebenso wie die Erläuterungen, die die Urheber ihnen manchmal gerne geben wollen, regungslos empfangen: sie sind direkt beteiligt, denn ihr Leben wurde (auf mehr oder weniger kurzlebige Art und Weise) von der Handlung durch den Ekel oder den Enthusiamus, den diese bei ihnen hervorruft, etc., etc. verändert.

Kann also eine Bekennung zum Verständnis einer Handlung beitragen? Natürlich, ebenso wie sie sie umgekehrt ihren Lesern unverständlich machen kann, indem sie sie beispielsweise so sehr aufbläht oder mit so vielen Wort umgibt, dass letztere die Handlung letzten Endes beinahe in ihrem Referat ertränken und damit den einfachen Vorschlag begraben, den diese immer enthält: lasst uns kaputt machen, was uns kaputt macht. Und kann außerdem der Umstand sich zu bekennen wirklich davor bewahren mit wenig empfehlenswerten Menschen in einen Topf geworfen zu werden? Da der Wald weitläufig ist und die Handlungen deutlich weiter und über unsere Worte hinaus widerhallen (die „Auswirkungen“ der Propaganda, ob sie nun von anarchistischen Zeitungen oder von anarchistischen Bekennerschreiben ausgeht, werden immer begrenzt bleiben), würde man eher dazu neigen, dies zu relativieren, und auf jeden Fall die Bekennung nicht als eine Art Zauberlösung zu betrachten, als ein Wundermittel, das alle Probleme lösen soll, die die Handlungen und ihr mögliches Verständnis hervorrufen.

Links, rechts, links, rechts: jenseits davon!

»Dass die Linken seit Wochen Hand in Hand mit Faschos/Verschwörungstheoretikern auf die Straße gehen, sollte uns eine Warnung vor der Gefahr der Idee eines gemeinsamen Kampfes sein, die dazu führt, dass es uns egal ist, mit wem wir kämpfen, solange man die gleiche Praxis und das gleiche Ziel hat. Man vergisst, dass die Menschen, deren Handlungen man bejubelt, oder mit denen man demonstriert, Positionen haben, die hinsichtlich quasi allem mit den unseren in Widerspruch stehen, und dass wir in anderen Kontexten ihr Angriffsziel sein werden.«

Einige solidarische Widerborste, ihn ihrem Bekennerschreiben eines Orange-Fahrzeugs in Grenoble, September 2021

Seit mehreren Monaten scheint ein Großteil des Widerstands gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung von Personen aus dem rechten Spektrum auszugehen. In anderen Ländern ebenfalls, wie in Italien, in den Niederlanden oder in Deutschland sind Faschos in großer Zahl auf die Straße gegangen und haben ihre Anwesenheit bei Mobilisierungen des sehr heterogenen Restes klar deutlich gemacht. Mehrere Male wurden Anarchisten sogar von faschistischen Gruppen angegriffen, und glücklicherweise hat das auch umgekehrt stattgefunden. Trotzdem bedeutet sich auf einem selben Konfliktfeld wiederzufinden nicht notwendigerweise sich das ekelhafte Vokabular von Opportunisten, die auf der Suche nach einer „Querfront“ sind oder „objektive Allianzen“ als politische Strategie theoretisieren, angeeignet zu haben. Wenn man auch immer noch die Möglichkeit hat die Tür zuzuknallen und ein Kampffeld aufzugeben, das uns keine subversive oder Handlungsmöglichkeit, die die Freiheit in sich trägt, mehr zu bieten scheint, wird jedoch kein Konflikt jemals vollständig den antiautoritären Kriterien entsprechen. In einem Konfliktfeld, das nicht „rein“ ist (aber welches Konfliktfeld ist das schon?), zu handeln bedeutet natürlich nicht den Autoritarismus zu unterstützen, der dort vorhanden sein kann, und die Frage wird immer viel eher jene bleiben, wie wir handeln, und mit welcher Perspektive.

Auf der anderen Seite des Rheins gibt es große Teile der linksradikalen und libertären Bewegung, die jenen, die die anonymen Angriffe auf die Telekommunikations- und Energieinfrastrukturen verteidigen, vorwerfen, eine Querfront mit den Nazis zu bilden, oder zumindest ihr Spiel mitzuspielen (weil die militanten Nazis im Allgemeinen nicht so versessen auf Bekennerschreiben sind und ebenfalls den Angriff auf Infrastruktur theoretisieren, um so den Tag X herbeizuführen, den Tag des gesellschaftlichen Zusammenbruchs und den Beginn des „Rassenkriegs“). Da außerdem ein Großteil des Terrains rund um den Widerstand gegen 5G von offen verschwörungstheoretischen und der extremen Rechten wohlwollend gegenüberstehenden Komitees („Querdenker“) besetzt zu sein scheint, werden Angriffe auf die Infrastruktur nicht mehr als Sabotagen gegen die Technowelt wahrgenommen, sondern als Beweise für die Virulenz der Nazis. Vom hohen Ross der antifaschistischen Kollektive und Kreise der Bewegung aus werden also Handlungen, zu denen sich niemand bekannt hat, diskreditiert, sobald das para-polizeiliche Prinzip, dass „eine Handlung gegen eine Infrastruktur, zu der sich niemand bekannt hat, einer Nazi-Aktion entspricht“, erst einmal etabliert wurde. Was noch für viele von ihnen dadurch verstärkt wird, dass sie im Allgemeinen als gute Jünger:innen des kollektiven und zivilisatorischen Fortschritts die subversive Tragweite von Angriffen auf dieses „Gemeingut“, das in ihren Augen die Elektrizität und die virtuelle Konnektivität sind, nicht zu erkennen vermögen.

Angesichts der aktuellen technologischen Restrukturierungen der Herrschaft, und egal von welcher Seite aus man diese betrachtet, bleibt ein kleiner Satz von Orwell – beileibe kein Feind jeglicher Herrschaft – beunruhigend aktuell: „Die wahre Spaltung besteht nicht zwischen Konservativen und Revolutionären, sondern zwischen Autoritären und Libertären.“ Jenseits des Rheins klagen diese Stimmen der deutschen radikalen und/oder libertären Linken also nicht nur die Anarchisten an mithilfe von Angriffen auf die Infrastruktur (die zum Hauptziel haben Chaos zu stiften und die technologischen Ketten anzugreifen, Praktiken, die in eine aufständische Projektualität eingebettet sein können oder auch nicht) einen „Bürgerkrieg“ auslösen zu wollen, sondern sie bestehen dann auch erhobenen Zeigefingers darauf, dass solche Angriffe deshalb zumindest von politischen Beteuerungen des guten Willens („soziale Gerechtigkeit“ und „progressive Emanzipation“ statt der Entfesselung der Freiheit, „gegen die Herrschenden“, aber immer indem man sich verständnisvoll gegenüber der Unterwerfung und Zustimmung der Beherrschten zeigt) begleitet sein müssten. Tatsächlich verlangen sie lediglich die Fortsetzung der guten alten opportunistischen Tradition, die sicherlich motiviert ist sich der Waffe der Sabotage zu bedienen, aber nur zu der Bedingung, dass sie als Medium und Sprachrohr für die politischen Pläne dient.

Und wenn nun die Anarchisten hier und anderswo letzten Endes mehr oder weniger dasselbe tun würden? Wenn sie Erklärungen für jeden Akt der Infrastruktursabotage verlangen würden, wenn sie sich faktisch von jeder Handlung, zu der sich nicht als „anarchistisch“ bekannt wurde, distanzieren würden, wenn sie überall nur noch die Hand der Nazis, der Verschwörungstheoretiker – und warum nicht, ein Klassiker des letzten Jahrhunderts: der ausländischen Geheimdienste – hinter den Sabotagen, deren Urheber sich dazu entscheiden im Schatten zu bleiben, sehen würden? Sie würden also darin enden, jede Projektion und jeden Willen, die eine unkontrollierte Vervielfachung der Sabotagen an Telekommunikations-, Energie- und Logistikinfrastruktur erhoffen und daran arbeiten, über Bord zu werfen, um nur noch ihre einer ideologischen Kontrolle unterworfene Vervielfachung zu akzeptieren und wertzuschätzen. Würde das bedeuten die Freiheit zu verteidigen oder eher sich vor ihr zu fürchten?

Der Umstand, dass Faschos/Verschwörungstheoretiker oder sogar Mönche einige Funkmasten angegriffen haben, nimmt kein einziges Gramm Richtigkeit daran einfach all diese Strukturen anzugreifen, zu Sabotagen gegen diese ermutigen zu wollen, die unkontrollierbare Vervielfachung letzterer zu erhoffen und daran zu arbeiten. Jedoch könnte uns das dazu zwingen noch mehr darüber nachzudenken, warum diese Handlungen vorgeschlagen werden könnten, warum wir wirklich ihre Verbreitung wollen, d. h. darüber nachzudenken um unsere Perspektiven zu verfeinern. Wenn die Terrains zu verlassen, wo andere auch aktiv sind, keine Option ist, wenn systematisch jede Handlung zu labeln nicht die Frage nach dem „selben Terrain“ löst, dann bedeutet das, dass man noch weiter suchen muss: in der Perspektive, die wir unserem Handeln geben, in den Ideen, die wir verbreiten, in den Methodologien, die wir vorschlagen, in den Projekten, die wir entwickeln.

Welche Freiheit?

Die Freiheit zu entfesseln bedeutet das Unvorhersehbare zu akzeptieren, das die Unordnung in sich trägt. Es bedeutet zu akzeptieren, dass die Freiheit nicht immer sanft ist, sondern dass sie auch ein blutiges Gesicht annehmen kann, wir wollen sie trotzdem. Wir wollen keine Freiheit, die von Risiken befreit wurde, noch wollen wir von der Freiheit verlangen, dass sie ihre Bescheinigungen, die ihr ein gutes Leben und Gebräuche attestieren, mitbringt, ehe wir sie bei uns einlassen. Das wäre keine Freiheit, das wäre Domestizierung, die sich mit libertärer Kleidung getarnt hat, der beste Boden, auf dem der Keim der Autorität wieder beginnen würde zu wachsen.“

La Forêt de l’agir, April 2021

Welche Perspektiven kann man also erkunden? Man könnte mit jenen beginnen, die man verstehen kann, uns aber am wenigsten inspirieren. Zum Beispiel diejenige, die häufig zwischen den Zeilen hindurchschlüpft, es aber schwer hat explizit ausgesprochen zu werden: es handelt sich um jene Perspektive, die die Existenz und die qualitative wie quantitative Verstärkung der anarchistischen Bewegung zum Hauptziel hat. Eine stärkere, größere, besser organisierte Bewegung, die in der Lage wäre sich den obskuren Kräften des Faschismus, der verschwörungstheoretischen Manipulation von sehr realer Wut, den linken Ideologien, deren Rolle wohl zu sein scheint den Kapitalismus und die Herrschaft in eine nachhaltigere, technologischere, fairere Zukunft zu begleiten, entgegenzustellen. Eine Bewegung, die es wagt sich selbst als Referenzpunkt zu betrachten, und die eine ausreichende Fähigkeit der Verbreitung, des Angriffs und der Relevanz entwickelt um eine wahre Kraft zu sein, die in der Lage ist in der öffentlichen Debatte Gewicht zu haben, den Unterschied in dazwischenliegenden Kämpfen zu machen, Nazis von Demonstrationen zu verjagen.

Bei einer solchen Perspektive gibt es ein starkes Risiko, dass die quantitative Verstärkung der anarchistischen Bewegung, die an sich bereits schwer vorstellbar ist (denkt man alles in allem wirklich, dass anarchistische Ideen heutzutage von Massen von Personen geteilt werden könnten?), sich letztlich mit der Repräsentation einer solchen Verstärkung zufrieden geben wird. Der Spiegeleffekt verführt leicht zum Exhibitionismus und entleert damit rasch den Kampf, um ihn mit einem Bild zu ersetzen, das man für real hält. Letztlich endet eine solche Perspektive normalerweise damit die anarchistische Identität zu verstärken, um dann mit leidenschaftlicher Feindschaft… die anderen Waldbewohner anzugreifen. Um dies zu tun hat diese Identität also Tendenz sich überdimensioniert aufzublähen, der Form den Vorrang vor der Qualität der Substanz zu geben, und endet damit, sich mittels Vergleichen im Spiegel der Repräsentation mit allen anderen Identitäten zu messen.

Andere Wege bleiben jedoch möglich, die sicherlich etwas düsterer und gefährlicher sind. Wege, die nicht für jene gemacht sind, die sich vor Schlamm fürchten oder die es nicht ertragen können im Schatten zu arbeiten. Wege, an deren Ende keine Garantie existiert, keine Anerkennung, die uns erwartet, die nicht die bloße Existenz von Anarchisten und ihr Überleben als das Alpha und Omega der Subversion oder der Anarchie betrachten. Es handelt sich um den Weg, der sich mal steil aufwärts, mal steil abwärts durch die Landschaft schlängelt, um den Zug des Fortschritts und der aktuellen Gesellschaft zum Entgleisen zu bringen. Ohne dabei die Verbreitung unserer Ideen (mittels verschiedener Mittel) aufzugeben, ohne die Nützlichkeit und die Notwendigkeit der anarchistischen Kritik zu unterschätzen, zielt der Weg, von dem wir hier sprechen, insbesondere darauf ab, zur Erschütterung der Situation, zur aufständischen Explosion, zum Zusammenbruch dessen, was die produktiven und sozialen Strukturen aufrechterhält, beizutragen. Dieses Projekt, diese Projektualität zielt weder auf das numerische Wachstum der anarchistischen Bewegung, noch auf die Vergrößerung ihres Rufs, sondern darauf, die sozialen Konflikte auf eine umfangreichere Umwälzung auszuweiten; weil auf eine unkontrollierte Vervielfachung der Handlungen und auf den unerwarteten Abbruch der Verbindung hinzuarbeiten das Aufkommen von Freiheit erlauben könnte, ja besser noch, sie ist eines der Gesichter, die die Freiheit, die heute losstürzt, annimmt.

Der Umstand, dass einige, deren Beweggründe wir sicher nicht teilen, sich ebenfalls daran beteiligen, dass andere, von denen wir überhaupt nichts wissen, sich auch darauf verlegen, verursacht in uns keine lähmende Angst, und treibt uns auch nicht dazu an einem exhibitionistischen Sichüberbieten teilzunehmen (eine Falle so alt wie die Welt, von allen gestrigen und heutigen Nachrichtendiensten bekannt und gestellt), sondern treibt uns vielmehr dazu, unsere Vorschläge, unsere Projektualität, unsere Ethik weiter zu verfeinern. Und vor allem mit unseren Mitteln und bescheidenen Fähigkeiten die dringende Zerstörung der aktuellen Gesellschaft voranzutreiben.


Übersetzung aus dem Französischen,  „En tâtonnant…“, Avis de Tempêtes #46, 15. Oktober 2021

Ein Buch, um damit die weiße Vorherrschaft zu erschlagen

Eine Rezension von »Schwarze Saat – Gesammelte Schriften zum Schwarzen und Indigenen Anarchismus«

Wer sich wie ich aufgrund des Titels ein Buch über etwas wie beispielsweise die Maroon-Gemeinschaften oder auch anarchistischere Spielarten einer Art Rainbow Coalition erwartet hat, die*der wird zunächst ein wenig enttäuscht sein, wenn sie einen Blick in das Inhaltsverzeichnis von Schwarze Saat wagt. Nein, bei dem Buch handelt es sich tatsächlich um eine Textsammlung mit Texten zu verschiedensten Themen, geschrieben von Anarchist*innen, die entlang der Identitäten “Schwarz” und “Indigen” verortet werden (können). Von der vielzitierten Lucy Parsons über die spätere anarchistische Fraktion der Gefangenen der Black Panther-Bewegung, den nigerianischen (syndikalistischen) Anarchist Sam Mbah nicht vergessend, bis hin zu einigen der indigenen und schwarzen Anarchist*innen und anarchistischen/autonomen Organisationen der heutigen Bewegung in Nordamerika, sind alle bekannten und ein paar weniger bekannte schwarze und indigene Anarchist*innen mit Texten vertreten. Dass sich dabei viele Stimmen offen widersprechen, scheint vorprogrammiert. [1] Herausgeberin, Übersetzerin und Autorin Elany begründet die Zusammenstellung im Vorwort des Buches so auch damit, der Erzählung des Anarchismus als weiße, eurozentrische Bewegung, die Stimmen schwarzer und indigener Anarchist*innen gegenüberstellen zu wollen. Dagegen habe ich nichts einzuwenden, allerdings scheint mir das Problem, mit dem man in diesem Unterfangen konfrontiert ist, dass es im heutigen Spektrum deutschsprachiger Anarchisten ganz verschiedene Erzählungen von der anarchistischen Bewegung gibt. Während sich die organisationsfixierten Anarchist*innen auf die mehr als gewagte Hypothese festgelegt zu haben scheinen, der Anarchismus sei das Erbe des antiautoritären Flügels der Ersten Internationale und entsprechend gemäß ihrem autoritären Gegenflügel neben (ihrem eigentlichen Kontrahenten) Marx vorrangig die Schriften von Proudhon, Kropotkin und gelegentlich einmal Bakunin studieren (jaja, ich polemisiere und ja, es gibt auch noch Malatesta, Rocker, Goldman, Landauer, ja sogar die bereits erwähnte schwarze Anarchistin Lucy Parsons usw., deren Namen man in diesen Kreisen wenigstens kennt …), ist es in Abwesenheit eines zwar nach Verwesung stinkenden, aber immerhin doch die Zeiten überdauernden Kadavers einer anarchistischen Einheitsorganisation, schwierig, eine klare Kontinuität anarchistischer Geschichte zu entwickeln – und nicht alle wollen das überhaupt – und so beziehen sich die formloseren oder auch informell organisierten Anarchisten zumeist eher auf nur lose miteinander in Verbindung stehende Ereignisse, Publikationen und soziale Milieus und gar nicht so selten sind es auch die etwas weniger theoretisierten, volkstümlicheren Bewegungen, auf die sich seitens der organisationsfeindlicheren Anarchist*innen bezogen wird. Maroon-Gemeinschaften mögen vielleicht nicht zu einem Anarchismus der Internationalen passen, aber ich beispielsweise fand Russell Maroon Shoatz‘ “The Dragon and the Hydra: A Historical Study of Organizational Methods” (eine deutsche Übersetzung kann etwa über die anarchistischebibliothek.org heruntergeladen werden), ebenso wie auch die Beschäftigung mit diversen millenaristischen Sekten oder den Ludditen immer schon interessanter, als mir die parlamentarischen Rededuelle zwischen Marx und Bakunin zu Gemüte zu führen oder mir die sterbenslangweiligen und fortschrittsgläubigen Revolutions-Verwaltungspläne eines Kropotkin reinzuziehen (aber ob selbst diese “weißen Anarchist*innen” “nur philosophiert haben”, das würde ich einmal so dahingestellt lassen [2]). Schwarze Saat legt sich hier nicht fest, versucht vielleicht gewissermaßen verschiedensten Erzählungen schwarze und indigene Stimmen hinzuzufügen, ohne dass diese Erzählungen jedoch voneinander unterschieden werden, und verpasst dabei einerseits vielleicht die Gelegenheit, zur einen oder anderen Erzählung wirklich eine neue, schwarze oder indigene Perspektive beizutragen oder etwa gänzlich neue Erzählungen dem anarchistischen Fundus (wobei ich schon sehr gut verstehe, dass gerade viele Indigene, aber auch Schwarze sich immer geweigert hatten, die Geschichten ihrer Ahnen einer Anarchistischen Geschichtsschreibung, wie sie von manch einer Organisation oder auch einzelnen Individuen betrieben wird, hinzufügen zu lassen, aber zumindest wenn ich von einem Fundus anarchistischer Erzählungen spreche, dann meine ich etwas anderes) hinzuzufügen, während es mir andererseits, ob intendiert oder nicht, eine Steilvorlage zu liefern scheint, eine allgemeine Identität des*der schwarzen/indigenen Anarchist*in zu begründen und/oder zu verteidigen. Aber was würde ein “wir, schwarze/indigene [3] Anarchist*innen” bringen, außer dem Potential separatistischer Organisierung?

Der anhaltende Reiz des Schwarzen Nationalismus

Ein in mehreren Texten in Schwarze Saat wiederkehrendes, zwar oft kritisch, aber meinem Geschmack nach viel zu wenig feindselig diskutiertes Konzept, mit dem ich wirklich ein Problem habe, ist das des Schwarzen Nationalismus. Lorenzo Kom’boa Ervin, die Black Autonomy Federation, Ashanti Alston, Saint Andrew und weitere Autor*innen beziehen sich letztlich positiv auf einige Aspekte des Nationalismus, die ich anhand der Texte “Nationale Befreiung & Anarchismus” von Saint Andrew und “Jenseits des Nationalismus, aber nicht ohne ihn” von Ashanti Alston kritisch diskutieren will. Auch auf die Gefahr hin, dass es manch “schwarzer Anarchist […] satt [haben wird], dass vor allem weiße Anarchist*innen den Nationalismus einfach abweisen” (Ashanti Alston, S. 195). Ein Totschlagargument, wenn man mich fragt und gewiss könnte ich in einem Anflug von Tokenizing nun im Gegenzug mindestens ein Dutzend schwarzer Kritiken am Nationalismus droppen, aber dieses Spiel ist mir beileibe zu blöde. Ashanti Alston beschreibt zunächst seine Erfahrungen mit Schwarzen Nationalismen als Teenager, die ihm “das Leben gerettet” haben. Dass man “in erster Linie auf [sich] selbst schauen muss, um [sich] zu befreien”, dass es nicht “notwendig war, bei dem weißen Mann – vom Herrscher bis zum Revolutionär – ‘einzuchecken’, um zu sehen, ob es in Ordnung war” (S. 196), das klingt erst einmal nach einer mit (meinem) anarchistischem Denken nur allzu resonierenden Kritik an Führungspersönlichkeiten und kollektiven Zwangsverhältnissen, dass dieses Gefühl, das Ashanti Alston als eine Erkenntnis, die ihm vom Schwarzen Nationalismus von Malcolm X, der Black Power Bewegung und den Black Panthers vermittelt wurde, jedoch unter anderem in dem Slogan “WIR MÜSSEN UNSERE EIGENEN GEMEINSCHAFTEN KONTROLLIEREN” gipfelt, das resoniert dann schon erheblich weniger mit meinen Ideen. Es stimmt, vieles von dem, was die Black Panther an ihrer Basis taten, ist mit (meinen) anarchistischen Vorstellungen von Selbstorganisation vereinbar und ganz gewiss kann man nicht alle Anhänger*innen dieser Partei oder gar Bewegung über einen Kamm scheren, wie die zahlreichen kritischen Stimmen später anarchistischer Mitglieder, darunter auch Ashanti Alston, durchaus beweisen, aber ist das ein Argument dafür, dass der Nationalismus (nicht nur der der Black Panther) deshalb mit anarchistischen Ideen vereinbar wäre? Nur weil an der Basis zahllose Initiativen gegenseitiger Hilfe entstanden sind, wird das doch nichts an der Tatsache ändern, dass genau jener Nationalismus, dem Ashanti Alston diese Entwicklung zuschreibt, eben auch polizeiartige Strukturen zur “Kontrolle eigener Gemeinschaften” hervorbrachte, mit den autoritären Ideologien und Praxen der Parteiführung harmonierte und Solidarität mit angeblich revolutionären, nationalstaatlichen Bewegungen hervorrief. Dass es “selbst beim Nationalismus eines Louis Farrakhan [4] um die Rettung meines Volkes” geht, wie Ashanti Alston schreibt, will ich ja gar nicht bezweifeln, ebensowenig wie ich bezweifle, dass Anarchist*innen, ja sogar “die spezifischen anarchistischen Bewegungen innerhalb eines bestimmten Landes rassistisch sind”, aber ist das wirklich ein Argument für den Schwarzen Nationalismus?

“Es ist einfach, sich zurückzulehnen und über unseren Nationalismus aus dem modernistischen eurozentrischen Rahmen rationaler, wissenschaftlicher, materialistischer Modelle zu intellektualisieren. Während man das tut, ist es unser Nationalismus, der unser Volk ständig dazu bringt, zusammenzukommen, sich an unsere Geschichte zu erinnern, uns selbst zu lieben, weiterzuträumen und zurückzuschlagen. Schwarze Anarchist*innen und antiautoritäre Revolutionär*innen verstehen die Grenzen des Nationalismus in Bezug auf seinen historischen Sexismus, die Hierarchie oder seine modernistischen Züge im Allgemeinen. Aber wir erkennen auch die modernistischen Fallen des Anarchismus in Form des amerikanischen Rassismus/Klassenprivilegs, wenn es um People of Color geht.”

schreibt Ashanti Alston in seinem Text (S. 197 f.). Fredy Perlman, der versucht zu verstehen, wie eine Familienangehörige, nachdem sie vor dem nationalsozialistischen Genozid an den Juden, in dem ein anderer Teil seiner Familie vernichtet wurde, geflohen war, den Quechuas, an deren Seite er aufwuchs mit derart rassistischer Feindseligkeit gegenüberstehen konnte, beschreibt eine eher gegenteilige Erfahrung:

“Die Verachtung meiner Verwandten war meine erste Erfahrung mit Rassismus, der dieser Verwandten eine Ähnlichkeit mit den Pogromist*innen, vor denen sie geflohen war, verlieh; dass sie ihnen nur knapp entkommen war, machte sie nicht zu einer Kritikerin von Pogromist*innen; die Erfahrung trug möglicherweise gar nichts zu ihrer Persönlichkeit bei, nicht einmal hinischtlich ihrer Identifikation mit den Konquisitadoren, da diese mit Europäer*innen geteilt wurde, die nicht die Erfahrung meiner Verwandten teilten, nur knapp dem Konzentrationslager entgangen zu sein. Unterdrückte europäische Bauern hatten sich mit den Konquisitadoren identifiziert, die bereits lange vor der Erfahrung meiner Verwandten eine noch grausamere Unterdrückung gegen Nicht-Europäer*innen durchführten.

Meine Verwandte bediente sich ihrer Erfahrung Jahre später, als sie entschied, eine Fürsprecherin für den Staat Israel zu werden; zu dieser Zeit hatte sie ihre Verachtung der Quechuas nicht aufgegeben, im Gegenteil, sie richtete ihre Verachtung vielmehr gegen Menschen in anderen Teilen der Welt, gegen Menschen, die sie niemals getroffen hatte oder unter ihnen gelebt hatte. Aber damals interessierte ich mich nicht für ihre Entscheidung diesbezüglich; vielmehr interessierte ich mich für die Schokolade, die sie mir mitbrachte.”

– Fredy Perlman. Anti-Semitism and the Beirut Pogrom.

Kurze Zeit später formuliert er seine Gedanken diesbezüglich, ebenso wie hinsichtlich revolutionärer Bewegungen, die sich nationalistische Mobilisierungsstrategien zu eigen machen, in Der anhaltende Reiz des Nationalismus prägnanter:

“Industrialisierte Nationen haben ihr ursprüngliches Kapital durch Enteignung, Deportation, Verfolgung und Segregation, wenn nicht gar immer durch Vernichtung von Menschen, die als legitime Beute bestimmt werden, beschafft. Sippschaften wurden gebrochen, Umgebungen wurden zerstört, kulturelle Orientierungen und Gepflogenheiten wurden ausgerottet.

Nachkommen der Überlebenden solcher Angriffe haben Glück, wenn sie auch nur das kleinste Relikt bewahren können, den fliehendsten Schatten der Kulturen ihrer Vorfahren. Viele der Nachfahren behalten nicht einmal Schatten; sie sind vollkommen entleert; sie gehen arbeiten; sie vergrößern weiterhin den Apparat, der die Kultur ihrer Vorfahren zerstört hat. Und in der Welt der Arbeit sind sie an den Rand verbannt, zu den unangenehmsten und am schlechtesten bezahlten Jobs. Das macht sie wahnsinnig. Ein Supermarktpacker beispielsweise kann mehr über das Lager und die Bestellungen wissen als der Manager, kann wissen, dass Rassismus der einzige Grund dafür ist, dass nicht er der Manager ist und der Manager kein Packer. Ein Security kann wissen, dass Rassismus der einzige Grund dafür ist, dass er kein Polizeichef ist. Es ist unter Menschen, die all ihre Wurzeln verloren haben, die davon träumen Supermarktmanager und Polizeichef zu werden, wo die nationale Befreiung ihre Wurzeln schlägt; das ist der Ort, an dem Anführer und Generalstab geformt werden.

Der Nationalismus übt weiterhin seinen Reiz auf die Entleerten aus, weil andere Aussichten trostloser erscheinen. Die Kultur der Vorfahren wurde zerstört, daraus lässt sich schließen, anhand pragmatischer Standards gemessen, dass sie versagt hat; die einzigen Vorfahren, die überlebt haben, waren jene, die sich an das System der Invasoren angepasst haben, und sie überlebten an den Rändern von Mülldeponien. Die unterschiedlichen Utopien der Dichter und Träumer und die zahlreichen ‘Mythologien des Proletariats’ haben auch versagt, sie haben sich in der Praxis nicht bewährt, sie sind nichts gewesen als heiße Luft, Tagträume, Luftschlösser; das aktuelle Proletariat ist genauso rassistisch gewesen, wie die Bosse und die Polizei.

Der Packer und der Security haben den Kontakt zur alten Kultur verloren; Tagträume und Utopien interessieren sie nicht, sind tatsächlich abgewehrt durch die Geringschätzung des Geschäftsmannes gegenüber Dichtern, Herumtreibern und Träumern. Der Nationalismus bietet ihnen etwas Konkretes, etwas, das seit langem erprobt ist und von dem bekannt ist, dass es funktioniert. Es gibt keinen nachvollziehbaren Grund für die Nachfahren der Verfolgten verfolgt zu bleiben, wenn der Nationalismus ihnen die Aussicht bietet, Verfolger zu werden. Nahe und entfernte Verwandte von Opfern können ein rassistischer Nationalstaat werden; sie können selbst Menschen in Konzentrationslager pferchen, andere Menschen nach Lust und Laune herumschubsen, genozidalen Krieg gegen sie führen, ursprüngliches Kapital beschaffen, indem sie diese enteignen. Und wenn rassistische Verwandte von Hitlers Opfern das tun können, so können das auch nahe und entfernte Verwandte der Opfer von Washington, Jackson, Reagan oder Begin.

Jede unterdrückte Bevölkerung kann eine Nation werden, ein fotografisches Negativ der Unterdrückernation, ein Platz, wo der ehemalige Packer der Supermarktmanager ist, wo der ehemalige Security Polizeichef ist. Indem man die korrekte Strategie anwendet, kann jeder Security dem Beispiel der prätorianischen Wachen des antiken Rom folgen. Die Sicherheitspolizei eines ausländischen Minenkartells kann sich als Republik ausrufen, das Volk befreien, bis ihm nichts anderes übrig bleibt, als zu beten, dass die Befreiung irgendwann enden möge. Sogar vor der Machtergreifung kann eine Gang sich eine Front nennen und heftig besteuerten und konstant kontrollierten armen Menschen etwas anbieten, das ihnen noch fehlt: eine tributeintreibende Organisation und ein Mordkommando, genauer zusätzliche Steuerpächter und eine Polizei, eine, die diesen Menschen gehört. Auf diese Weise können Menschen von den Zügen ihrer viktimisierten Vorfahren befreit werden; all die Relikte, die immer noch aus präindustriellen Zeiten und nicht-kapitalistischen Kulturen überlebten, können endlich permanent ausgerottet werden.

Die Vorstellung, dass ein Verständnis des Genozids, eine Erinnerung an die Holocauste, Menschen nur dazu bringen kann, das System niederzureißen, ist irrtümlich. Der anhaltende Reiz des Nationalismus legt nahe, dass das Gegenteil wahrer ist, nämlich dass ein Verständnis der Genozide Menschen dazu gebracht hat, genozidale Armeen zu mobilisieren, dass die Erinnerung an Holocauste Menschen dazu gebracht hat, Holocauste zu begehen. Die sensiblen Dichter, die sich der Verluste erinnerten, die Forscher, die diese dokumentiert haben, sind wie die reinen Wissenschaftler gewesen, die die Struktur des Atoms entdeckt haben. Angewandte Wissenschaftler verwendeten die Entdeckung wie man den Atomkern spaltet, dazu Waffen zu produzieren, die jeden Atomkern spalten konnten; Nationalisten verwendeten die Poesie, um menschliche Bevölkerungen zu spalten und zu fusionieren, genozidale Armeen zu mobilisieren, neue Holocauste zu begehen.”

Flower Bomb drückt einen im Grunde ähnlichen Gedanken in dem Text “Really though, not all “black” people give a fuck about “white” dreads”, von dem auch eine deutschsprachige Übersetzung als hübsche Broschüre kursiert, etwas anders aus:

“Die geteilte Erfahrung im Kapitalismus “schwarz” zu sein, ist nur auf die Identität beschränkt. Nur weil Menschen die gleiche(n) institutionalisierte(n) Form(en) der Unterdrückung teilen, bedeutet das nicht automatisch, dass sie die gleichen Visionen und Absichten teilen, wie sie zu zerstören sind. Dies sind wichtige Unterschiede, die nicht abgeflacht werden sollten. Während diese Gruppen ihre betäubenden Versuche fortsetzen, ein neues System des Rassenessentialismus in der Schale des alten zu erschaffen, haben einige von uns Spaß daran, alle Systeme zu zerstören. Meine Anarchie ist eine existenzielle Erweiterung der Individualität jenseits der Grenzen rassenbasierter (und geschlechtsspezifischer) sozialer Konstrukte. Wenn sie von “schwarzer und brauner” Einheit gegen Rassismus und Faschismus sprechen, dann sagen einige von uns: Alle gegen Rassismus und Faschismus und auch gegen die festen Identitäten, die letztere funktionsfähig machen. Wo das Chaos mit der Emanzipation und dem grenzenlosen Potenzial, das sich daraus ergibt, blüht, wird Individualität zu einer Kriegswaffe gegen Kontrolle und kategorischer Enge. […]”

Eine meiner Meinung nach differenziertere Auseinandersetzung mit Nationalismus, die nicht einfach die sehr realen Erfahrungen, dass die Black Panthers autoritäre Nationalstaaten unter schwarzer Führung unterstützten, die im Endeffekt die koloniale Ausbeutung ihrer Bevölkerung beinahe unvermindert fortsetzte, mit dem meiner Meinung nach schwachen Argument beiseitewischt, dass die nationalistische Propaganda vielen Schwarzen dabei half, sich nicht als minderwertige Existenzen zu begreifen, liefert das Essay “Nationale Befreiung & Anarchismus – Reaktionär oder Revolutionär” von Saint Andrew (S. 173).

Saint Andrew definiert eine Nation als “eine imaginäre Gemeinschaft von Menschen, die sich auf der Grundlage einer gemeinsamen Sprache, Geschichte, Abstammung, Gesellschaft oder Kultur bildet und sich ihrer Autonomie bewusst ist.” Daher ist der “nationale Befreiungskampf” für ihn ein Kampf gegen das einer solchen Nation auferlegte Verhältnis von Ausbeutung und Unterdrückung. Also ein Kampf einer Nation gegen ihre Unterdrückung durch eine andere und das kann unterschiedlichste Formen annehmen, wobei eine bestimmte Form, nämlich die des Nationalismus von ihm als diejenige Form definiert wird, bei der in der Regel durch die Angehörigen der Nation bzw. eben diejenigen, welche sich anmaßen in ihrem Namen zu sprechen, ein unabhängiger Staat geformt werden soll. Eigentlich ist damit klar, dass Anarchist*innen mit Nationalismus nichts zu tun haben können. Saint Andrew scheut sich jedoch vor dieser Absolutheit und bringt den Revolutionären Schwarzen Nationalismus ins Spiel, dem er seinen Platz im Kampf gegen Patriarchat, den Kapitalismus und den Staat attestiert. Zudem führt er den kurdischen nationalen Befreiungskampf der PKK als ein Beispiel für nationale Befreiung an, bei der man sich zugleich gegen einen Staat gestellt hätte.

Ich denke, dass, obwohl Saint Andrew versucht, auseinanderzuklauben, was an nationalen Befreiungskämpfen mit anarchistischem Denken vereinbar ist und was nicht, er vor allem an dem Ballast dessen, was er zuvor als Nation definiert hat, scheitert, scheitern muss, eine anarchistische Perspektive zu entwickeln. Wenn man eine Nation als eine “imaginäre Gemeinschaft” definiert, dann zeigt dies meiner Meinung nach zugleich auch das Problem an diesem Konstrukt auf: Es handelt sich hier eben um eine “imaginäre Gemeinschaft”, also eine Konstruktion, die geschaffen wurde, um über dem Individuum zu stehen und die folglich immer auch ein Instrument sein wird, Autorität zu rechtfertigen. Vielleicht wird das besonders anhand seines Beispiels des kurdischen nationalen Befreiungskampfes sichtbar. Man kann sich sicherlich trefflich darüber streiten, ab wann etwas ein Staat ist. Ob nur weil es keine formelle Bindung diverser parlamentarischer, polizeilicher und juristischer Institutionen – die es in Rojava allesamt gibt – an eine Verfassung oder etwas ähnliches gibt (dafür aber durchaus eine gewisse “Parteitreue”), und nur weil es teilweise konkurrierende Polizeien, Parlamente, Justizen gibt, eine Konstellation wie die in Rojava kein Staat ist, würde ich persönlich ja in Frage stellen. Nichtsdestotrotz ist diese Frage für mich irrelevant, denn nur weil es keinen (formellen) Staat gibt, ist etwas noch lange nicht anarchistisch, d.h. ohne Herrschaft. Das Problem dabei kann man durchaus an der konstruierten kurdischen Nation festmachen. Denn es ist eben bloß eine imaginäre Gemeinschaft. In Wahrheit jedoch sind es hunderte, ja sogar tausende reale kurdische Gemeinschaften, die hier unter der Flagge einer Nation vereint werden (und das gleiche gilt auch für die afroamerikanischen Gemeinschaften, die im Schwarzen Nationalismus als eine Nation betrachtet werden). Und wenn eine bestimmte Gemeinschaft (die PKK, bzw. ihre entsprechenden bewaffneten und unbewaffneten Arme) nun mehr oder minder beansprucht, für diese imaginäre kurdische Gemeinschaft zu sprechen, Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen, usw., dann werden am Ende wiederum Gemeinschaften und Individuen unterdrückt.

Bei all dem stimme ich natürlich sowohl Saint Andrew als auch Ashanti Alston zu, wenn diese den Kampf der schwarzen Bevölkerung gegen ihre Unterdrückung als einen Kampf von Bedeutung ansehen. Das tue ich auch. Aber muss man deshalb die Probleme nationalen/nationalistischen Denkens und ihre Widersprüchlichkeit mit dem Anarchismus unter den Teppich kehren?

Ist die Anarchie demokratisch?

Der meiner Meinung nach von manchen Anarchist*innen (inklusive der Black Autonomy Federation) nur halbherzig vollzogene Bruch mit dem (schwarzen) Nationalismus, er ist möglicherweise auch im Text “Die kommunale Kontrolle der schwarzen Gemeinschaft” (S. 52 ff.) der Black Autonomy Federation prägend dafür, dass meiner Meinung nach äußerst unappetitliche Vorschläge eines polizeiartigen Parastaates Teil dieser Perspektive sind, in deren Zentrum die Bildung autonomer, aber föderierter, schwarzer Kommunen steht, die dank einer verwirrenden Wortverdrehung, die finanzielle staatliche Einflussnahmen, die schon seit den 1960er Jahren schwarze Befreiungsbewegungen befriedet, zersetzt und unschädlich gemacht haben, zu einer Art Bankraub verklärt (anstatt einfach den Bankraub als Mittel der Finanzierung vorzuschlagen! Eine Praxis, die der schwarzen Befreiungsbewegung alles andere als fremd ist), sogar eine staatliche Finanzierung erhalten sollen. Nicht nur demokratisch gewählte Räte sieht diese Kommune vor, sondern nicht zuletzt auch einen schulischen Indoktrinationsapparat, während eine Föderation dieser Kommunen “mit einer Stimme in allen Angelegenheiten” sprechen solle. Während die Frage einer schwarzen Polizei innerhalb dieser Kommunen zwar schlicht unbehandelt bleibt, macht dieser Text vielmehr offensichtlich, dass es selbstverständlich auch die üblichen repressiven Institutionen eines Staates in dieser Kommune geben würde, wenn die Rede davon ist, “in Schulen, Gemeindezentren, Gefängnissen und in schwarzen Gemeinden in ganz Nordamerika Veranstaltungen zur Bewusstseinsbildung für Schwarze ab[zu]halten – die Kindern und Erwachsenen Schwarze Geschichte und Kultur, neue befreiende soziale Ideen und Werte sowie Beratungs- und Therapietechniken zur Lösung von Familien- und Eheproblemen beibringen würden […]”. Wer die Institution der Familie und Ehe mittels Therapie und Co. erhalten will, der wird schon wissen, warum man lieber einfach nichts zu Knästen und Polizei sagt.

Auch wenn ich persönlich finde, dass Texte wie dieser in einer anarchistischen Textsammlung nichts zu suchen haben, bilden solche demokratischen Ausfälligkeiten eher eine Ausnahme und bleiben auch nicht unwidersprochen. “Unterstützen Anarchist*innen die Demokratie?” (S. 167), fragt etwa ziq und kommt dabei zu dem Schluss:

“Die Demokratie ist seit jeher ein Synonym für klassenbasierte Gesellschaften. Sie hat ganze Länder in zwei kaum unterscheidbare politische Parteien (konservativ und “progressiv”) gespalten, die sich dennoch ständig an die Gurgel gehen. Selbst in ihren libertärfreundlichsten Formen hat es immer wieder versagt, Hierarchie, Zwang und die autoritären Machenschaften von Mehrheitsgruppen zu verhindern. Du kannst nicht versuchen, ein künstliches System, das so brutal hierarchisch ist wie die Demokratie, durch eine vermeintlich egalitärere Version desselben Systems zu ersetzen und es Anarchie nennen. Du musst das ganze verrottete System über Bord werfen” (S. 172).

Wenn womöglich der von der Black Rose Anarchist Federation herausgegebene Reader “Black Anarchism” eine der ursprünglichen Inspirationen für die Textsammlung Schwarze Saat gewesen sein mag, so lässt sich generalisierend, aber dennoch eine gewisse Wahrheit beanspruchend, behaupten, dass es gerade jene Beiträge sind, die im englischen Vorbild nicht enthalten sind und die zudem mit der auf anarchistische Organisationen fixierten Perspektive brechen, die dieses Vorbild aus naheliegenden Gründen hochhält, die meiner Meinung nach die spannendsten Perspektiven in Schwarze Saat ausmachen.

Die Revolte beginnt bei uns selbst

Dass die Umwälzung aller Verhältnisse bei einer*m selbst beginnt, ist nun wirklich zu einer Binsenweisheit geworden, die viel zu oft wie ein Mantra wiederholt und ihres eigentliches Inhalts beraubt von einigen ewiggleichen Nörgler*innen (häufig in Form eines Privilegiendiskurses) gegen jene gewendet wird, die ohne dies beständig vor sich hinzubeten den Angriff auf etwas anderes als ihre ewig “mangelnde Reflektiertheit” vorschlagen oder praktizieren. Umso erfreulicher ist es, wenn der Ruf nach mehr Auseinandersetzung mit der eigenen Domestizierung (und Vergeschlechtlichung – Geschlecht ist meiner Meinung nach, da schließe ich mich “Gegen den vergeschlechtlichten Albtraum” aus baedan Vol. 2 an, eine der – und zwar eine der grundsätzlicheren – Kategorien in die wir “hineindomestiziert” werden) eine klare Analyse vorzulegen vermag und den liberalen Reflex ablegt, als Gegenteil einer Revolte gegen die äußeren Zwangsverhältnisse daherzukommen.

In “Kindheit und die psychologische Dimension der Revolution” (S. 405) beschreibt Ashanti Alston den Domestizierungsprozess, in dem jedes Kind in dieser Gesellschaft gebrochen wird und die gesellschaftlichen Regeln indoktriniert bekommt. Ausgehend davon, dass das Kind durch die Familie und die innerhalb dieser stattfindende Erziehung gebrochen wird und lernt, zu GEHORCHEN, beschreibt Ashanti Alston, wie sich jedes Kind dabei eine Maske erschafft, durch die reaktiven Versuche mit den traumatischen Erfahrungen der 6.000 bis 10.000 Jahre alten Kultur, in die es hineingezwängt wird, umzugehen. Diese Maske “dient dazu, die gerechten Ströme der Lebensenergie zu binden und zu verzerren, um sie in sozial akzeptables, pathologisches Denken, Fühlen und handeln umzuwandeln … was eine Gesellschaft charakterisiert, die auf Rassismus, Klassismus, Sexismus, Imperialismus, Profithunger, Krieg und andere antihumanistische Tendenzen ausgerichtet ist.” Diese Maske abzustreifen, meint Ashanti Alston, “ist vorbereitend und unausweichlich, wenn wir unsere hohen verbal ausgedrückten Ziele erfolgreich verwirklichen wollen.” Aber wie lässt sich das erreichen?

“Zunächst durch die Erkenntnis, dass in der heutigen Phase des wissenschaftlichen Kapitalismus die repressive (psychische) Beherrschung und (soziale) Verwaltung der Gesellschaft zu einem fortgeschrittenen “1984” wird – wissenschaftlich, produktiv und total. Als Malcolm X von ihren Kräften sprach, uns zu manipulieren und uns denken zu lassen, dass unsere wahren Freund*innen unsere Feind*innen sind und umgekehrt, wusste er selbst, dass die Manipulation tief in unsere Seelen reicht. Sie ging tief genug, um uns glauben zu machen, dass wir unser eigenes Denken und Handeln tun. Und Malcolm hatte nur DIE SPITZE des Eisbergs durchdrungen.

Niemand ist immun gegen die psychische Beherrschung, die dieses unterdrückerische Monster, oder ‘Gott’, über uns hat. Die unsichtbare Maske hält diese Herrschaft aufrecht, diese blinde Sucht nach Autoritarismus. Sie unterdrückt die instinktiven Freiheitswünsche eines Menschen. Das gilt selbst dann, wenn man ALLEIN ist und KEINE SICHTBARE politische oder polizeiliche Kraft in der Nähe ist. Wie Sklav*innen, die nicht vom Meister wegrennen, wenn sie losgekettet werden und kein physisches Hindernis in Sicht ist. […]”

Also töte den Bullen in deinem Kopf? Nun, so einfach will eine*n Ashanti Alston wohl nicht davon kommen lassen.

“Jede*r dessen Einstellung ist, dass er*sie bereits revolutionär (oder menschlich) genug ist und keine weiteren Veränderungen mehr durchmachen muss, ist offensichtlich eine selbstversklavte Person, die damit zufrieden ist, in der gleichen alten Form stecken zu bleiben. Diese Art von Mensch kann sich nicht selbst helfen und wird sich wahrscheinlich auch nicht von anderen helfen lassen, wenn sich diese negative Anti-Freiheits-Haltung nicht in eine Haltung ändert, die ein Zeichen dafür ist, dass man sich der Welt der positiven “Reize”, des Guten in den Menschen, der bereichernden, befreienden Erfahrungen und dergleichen öffnet.

Ich würde ja dazu neigen zu sagen: Jede*r, der von sich denkt, sich in einem Idealzustand (sei es ein revolutionärer oder menschlicher oder irgendein anderer) zu befinden, der*die ist halt ein*e Dogmatiker*in und als solche*r gewissermaßen natürlich selbst versklavt. Ja, töte den Bullen in deinem Kopf, und töte auch gleich die Politikerin, den Virologen, den Rassist*in und den Patriarchen, ebenso wie die Sklavin, den Arbeiter, den*die Schönheitsprinz*essin, den Patienten und den Gläubigen, die sich dort ebenfalls befinden. Und ja, ein*e jede*r, die*der das jemals ernsthaft in Angriff genommen hat, weiß, dass das ein schmerzhafter und beständiger Prozess ist. Ich denke jedoch, dass es diesem Prozess niemals zuträglich ist, und das meine ich auch hier bei Ashanti Alston zu erkennen, wenn wir uns dabei gegenseitig be- und verurteilen, wenn wir einen Wettkampf daraus machen, wer die “aufrichtigsten” (und das heißt eigentlich selbstmitleidigsten) Reden über die eigenen Schwächen und Beschädigungen schwingt, wenn wir übersehen, dass in jedem aufrichtigen Handeln, das von der in unserem Herzen noch immer lodernden Flamme der Freiheit ausgeht, immer auch eben jener Versuch steckt, das “innere Ghetto” zu zerstören. Denn dann gefallen wir uns letztlich darin, mit unseren sogenannten Schwächen und Beschädigungen zu leben, anstatt sie in einem Akt der Stärke erst zu akzeptieren und dann als solche zu überwinden.

Überlegungen zum Rassismus

Was ich mich vielfach bei der Lektüre jener Texte gefragt habe, die ihre Analysen rund um eine Auseinandersetzung mit Rassismus entwickeln, ist, inwiefern dieser nordamerikanische Kontext tatsächlich 1:1 hierher, auf den deutschsprachigen Raum, ja auf den mitteleuropäischen Raum im Allgemeinen übertragen werden kann. Ich will nicht sagen, hier gäbe es keinen Rassismus, um Himmels Willen … Sicherlich nicht. Auch hier werden Schwarze und People of Color von Bullen ermordet, von Neonazi-Gruppen ermordet, sie üben oft die schlechtbezahltesten und gesundheitsschädlichsten Jobs aus, werden bei der Wohnungssuche diskriminiert, werden viel häufiger Opfer polizeilicher Kontrollen als Weiße, werden wenn sie keine Arbeit haben und keinen deutschen Pass besitzen, des Landes verwiesen, werden in Lagern eingepfercht und auf abertausende Arten und Weisen daran erinnert, dass sie nicht zur weißen Herrenrasse gehören und folglich all diese Schikanen zu erdulden hätten. Aber: Formal gilt der offen geäußerte und individuell ausgelebte Rassismus in weiten Teilen der Gesellschaft als unschicklich. Jedes Kind weiß heute, dass man nicht Neger sagt, Unternehmen stellen ihr fortschrittliches Denken unter Beweis, indem sie eine*n Quotenschwarze*n in ihren Aufsichtsrat aufnehmen, die NGO-getriebene und als Flüchtlingshilfe euphemisierte Verwaltung von Flüchtlingen boomt geradezu vor Ehrenamtlichen, reiche Bonzen gefallen sich darin, schwarze Bedienstete/Knechte einzustellen und ihnen trotzdem den vollen Hungerlohn zu bezahlen, den sie ihren weißen Vorgängern gezahlt haben, und es gehört im linken Bürgertum geradezu zum guten Ton, bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit seinen schwarzen Freund*innen anzugeben, während eine angeblich antirassistisch motivierte fairtrade-Bewegung unkritisch mit Kolonialwaren handelt und von “Kindern in Afrika” gefertigte, koloniale Kunst verkauft, um die Erlöse an jene NGOs zu spenden, die damit im globalen Süden ihre Bevölkerungspolitik finanzieren. Ändert das etwas an den rassistischen Verhältnissen? Gewiss nicht, vielmehr kaschiert es sie. Aber angenommen es würde, wie liberale antirassistische Aktivist*innen das vielleicht anstreben, gelingen, dass ein*e Schwarze*r hierzulande tatsächlich gleich behandelt wird, wie ein*e Weiße*r, wäre der Rassismus dann besiegt? Auch wenn ich persönlich bezweifle, dass sich so tief sitzende Ideologien wie der Rassismus in einer Gesellschaft einfach wegreformieren lassen, so denke ich, dass der derzeitige Fokus, der bei der Analyse von Rassismus auf Diskriminierungen und Privilegien innerhalb dieser (westlichen) Gesellschaft gelegt wird, von den sehr viel brutaleren, tödlicheren und stetig voranschreitenden rassistischen Prozessen ablenkt, die außerhalb der Mauern der Festung Europa vor sich gehen.

Das macht nicht ungültig, was Lorenzo Kom’boa Ervin, die Black Autonomy Federation und weitere in den in Schwarze Saat abgedruckten Texten im Großen und Ganzen als die Triebkraft des Rassismus analysieren, dass nämlich die Unterdrückung der Schwarzen und anderer PoC wie sie heute in Nordamerika verbreitet ist, noch immer die Reform der historischen Sklaverei darstellt und Schwarze nach wie vor jene tödlichen, gesundheitszerstörenden Jobs zu geringfügiger Entlohnung – oder, im Falle von Knastarbeit, so gut wie gar keiner – zu verrichten gezwungen sind, von denen einige weiße Bonzen auch weiterhin profitieren. Wenn man dies auf den hiesigen Kontext überträgt, so ist das auch nicht weniger wahr. Die antirassistische Bewegung hierzulande, ebenso wie in weiten Teilen Nordamerikas jedoch, blendet häufig den globalen Kontext dieser rassistischen Unterdrückung aus: Dass nämlich der Kolonialismus niemals aufgehört hat, dass die politische Administration von den weißen Kolonialherren vielfach an lokale, schwarze Despoten abgetreten wurde, die die ebenfalls schwarze Bevölkerung im Namen der weißen Kolonialherren weiter knechten, dass die Kredite der Weltbank und die vermeintlichen “Hilfsprogramme” verschiedener, sogenannter Philantropen diese nationalen Administrationen in eine Abhängigkeit gezungen haben, dass Bevölkerungspolitik, sei es mit Sterilisationsversuchen oder durch industrielle Landwirtschaft und patentiertes Saatgut induzierte Hungersnöte, dazu dient, die Bevölkerungen der einstigen Kolonien in die Rohstoffminen und auf die Plantagen zu treiben und dort festzuhalten, wo sie ein Dasein als Sklav*innen fristen, während um sie herum ein Krieg zwischen ihren nationalen Ausbeuter*innen darum entbrennt, wer von ihnen der Sklaventreiber sein darf; geführt mit Waffen aus dem Westen. Und wer vor dieser unsäglichen Vernichtung ganzer Lebensräume flieht, landet in den diversen Flüchtlingslagern, die dazu dienen, die Menschenströme weit vor der Festung Europa abzufangen und fernab der Augen der westlichen Bevölkerung verrecken zu lassen, während diejenigen, denen es gelingt, diesen Lagern zu entkommen entweder im Mittelmeer ersaufen, an den Grenzen Europas eingesperrt werden oder bei erstbester Gelegenheit dorthin zurück deportiert werden, von wo sie ihre Flucht begonnen haben.

Das gesamte kapitalistische System basiert auf dieser kolonialen, rassistischen Unterdrückung ganzer Bevölkerungen und der ökozidalen Vernichtung ihrer Lebensräume. Während die antirassistische Bewegung hier – und das gilt teilweise auch für die in Nordamerika – von kultureller Vielfalt spricht und daran arbeitet den Rassismus gegen Menschen, die bereits im Westen leben, hinter Sprachreformen und Quoten-Posten in Politik, Wirtschaft und Kultur zu verbergen, vernichtet dieses System weltweit die eigentliche Vielfalt von Lebensweisen zunehmend.

Es ist nicht so, dass nicht auch einige Beiträge in Schwarze Saat diese Kritik an kolonialer rassistischer Unterdrückung äußern würden, insbesondere die Texte von ziq, aber auch Elanys Text “Werkzeuge des Anarchismus Teil 2: Über Entkolonialisierung (und die technologische Komponente des Kolonialismus)” (S. 359) sind hier schonungslos. Angesichts der immer weiter voranschreitenden ökologischen Zerstörung im globalen Süden und der Involviertheit der kapitalistischen Akteur*innen hierzulande, steht die Entwicklung konkreter anarchistischer Perspektiven ebenso wie Strategien im Kampf gegen diese Form des kolonialen Rassismus weiter aus, aber wie Elany in ihrem Text nahelegt, könnten die Fäden dieser Kämpfe vielleicht dort wo antizivilisatorische Analysen die industrielle Todesmaschinerie enttarnt haben und antitechnologische Kämpfe damit begonnen haben, die Technologie zu zerstören, wiederaufgenommen werden.

Wer das Brot erobert, erobert und verteidigt die Industrie

Einer der bärtigen Propheten einer bestimmten Spielart des Anarchismus hatte damals eine Vision. Die Eroberung des Brotes sollte Wohlstand für Alle bringen. Kurz gesagt: Kostenloses Brot für alle. Und wer hätte da schon etwas dagegen? Nun, wozu das Brot erobern, wenn man auch Kuchen essen kann, mag einer dazu einfallen, aber ich fürchte der von ziq formulierte Einwand “Verbrennt das Brotbuch” (S. 515) wird auch die Kuchen-statt-Brot-Ernährungslehre entmystifizieren. Der Einwand ist geradezu banalen Charakters, aber doch unmittelbar einleuchtend: Um Brot zu backen bedarf es einerseits ausreichend Getreide und andererseits einer Menge Holz, um die Backöfen zu heizen. Heißt: Es ist erforderlich, Wälder zu roden, um die Öfen zu befeuern und das Getreide anzubauen, mit allen bekannten Folgen, dass nämlich die Böden vergiftet und weggespült werden und die einst auf dem Land lebenden Tiere größtenteils aussterben. Sprich: Man braucht gar nicht allzu viele Jahre Brot backen und wird schließlich merken, dass die Felder immer weniger Ertrag abwerfen. Man muss also noch mehr Wald roden, den auf dem Land seiner Nachbar*innen, denen man damit wiederum ihre Lebensgrundlage raubt, usw. Man zerstört also Stück für Stück die Natur, die einst in der Lage gewesen ist, alle Menschen zu ernähren und man wird nichteinmal mehr die eigentliche Ursache für diese Zerstörung erkennen.

Ob die Brotproduktion nun kapitalistisch ist, wie heute, oder kommunistisch, das ist für dieses Problem herzlich egal. Und weil es für die indigenen Nachbar*innen von jenen, die vielleicht Anarcho-Kommunist*innen mit den besten Absichten sein mögen, “egal [ist], dass die Bulldozer jetzt im kollektiven Besitz sind oder dass das Land, auf dem sie seit Jahrtausenden leben, jetzt “dem Volk” (der zivilisierten Mehrheit) gehört und nicht mehr dem Staat oder dem Kapital”, werden sich gewisse Konflikte einstellen, in denen es, um weiter Brot produzieren zu können unmöglich ist, nicht zu drastischen Maßnahmen zu greifen:

Wenn Menschen nicht damit einverstanden sind, von ihrem angestammten Land vertrieben zu werden, um in den Industriebetrieben und Fabriken zu arbeiten, die die Zerstörung ihrer Heimat vorantreiben, werden sie als “Kulaken”, “Konterrevolutionäre” und “Reaktionäre” abgestempelt und systemtisch ermordet, meist durch die Zerstörung ihrer Nahrungsquellen.

So anekdotisch und scheinbar banal ziqs Argument auch sein mag, es ist doch unmittelbar einleuchtend. Und ein klein wenig peinlich berührt muss man doch an all die vielen eigenen Worte denken, mit denen man die Industrie und ihre Verteidiger*innen immer angegriffen hatte. Dabei wäre es doch so einfach gewesen …

Und nun?

Schwarze Saat endet mit einem von Übersetzer*in Elany und ihrem Vater Samuel geschriebenen “Manifest” in Anführungszeichen, einem “Wildpunk-’Manifest’”. Zugegeben: Ich hasse Manifeste, Programme, usw. und es erinnert mich immer wieder an Tiqqun und das Unsichtbare Komitee, wenn autoritäre Begriffe in Anführungszeichen gesetzt werden, um der*dem Leser*in zu versichern, dass man sich des autoritären Charakters bewusst ist, nur um im weiteren Verlauf genau diesen autoritären Charakter anzupreisen. Nein, ein “Manifest” ist ebenso ein Manifest, wie auch eine imaginäre Partei eine Partei bleibt. Aber auch wenn ich mich entschieden dagegen wende, an diesem neokommunistischen, okkulten Spiel um althergebrachte Institutionen in Anführungszeichen, des Unsichtbaren oder der Einbildung teilzunehmen, will ich nicht unfair werden. Immerhin lautet der erste Punkt dieses “Wildpunk-’Manifests’”:

“Wildpunk entwickelt kein Programm für die Zukunft und hält nichts von vorgefertigten Bauplänen. […] Während du liest, denke darüber nach, was für dich persönlich mitschwingt und was nicht. Erschaffe dein eigenes Manifest. Wildpunk ist so wild wie die Anarchie selbst.”

Also schön, ein Programm in Anführungszeichen, das nicht nur sagt, dass es gar kein Programm ist, sondern auch dazu auffordert, Programme, inklusive es selbst abzulehnen und stattdessen selbst zu denken. Also doch nur ein literarischer Kunstgriff ohne autoritäre Absichten. Da könnte sich die imaginäre Partei ja noch eine Scheibe abschneiden.

Aber was sagt uns dieses Nicht-Programm nun? Eigentlich ziemlich viel sympathisches. Ich würde ein grundlegendes Uneinverständnis über die Bedeutung, die dem Werk “Desert” in dem gesamten Text verliehen wird (als “wahrscheinlich wichtigstes anarchistisches Werk der jüngeren Zeit”), bekunden, zumal es bloß ein paar alte Thesen wieder aufwärmt, ohne einen konkreten Kampf vorzuschlagen, aber davon abgesehen bereitet es mir Freude zu sehen, dass auch andere die Zerstörung der Industrie und die Sabotage an den (technologischen) Infrastrukturen der Herrschaft in den Mittelpunkt ihrer Perspektive stellen.

“Der zentrale Angriffspunkt der kapitalistischen Zivilisation ist die Industrie, welche die Erde und unsere Körper vergiftet hat. Wildpunk kämpft nicht dafür, die Produktionsmittel zu übernehmen, sondern die Mittel der Zerstörung zu ergreifen und sie verdammt nochmal zu sabotieren und niederzubrennen.”

Und auch all den Klimabewegten, die bisher noch einer der zentralen Lügen des grünen Kapitalismus aufgesessen sind, und jede Hoffnung auf eine Abwendung der Klimakrise bei gleichzeitiger Bewahrung der westlichen, zivilisierten Lebensweise in sie gesetzt haben, haben Elany und Samuel etwas wichtiges zu sagen:

“Wildpunk erkennt, dass vermeintlich grüne Energien nicht grün sind. Egal was die Herrschenden uns auch auftischen wollen, jede dieser Energien wurzelt in einem beispiellosen Ökozid. Energieinfrastrukturen, auch die angeblich grünen, sind weitere wunde Angriffspunkte der Herrschaft.”

***

Insgesamt ist Schwarze Saat ganz gewiss ein Buch zum stöbern, ein Buch in dem sich die eine oder andere Entdeckung machen lässt, ein Buch in dem sich definitiv viele spannende Texte finden, die erstmals ins Deutsche übersetzt wurden. Und ganz gewiss ist Schwarze Saat ein unbequemes Buch für alle Angehörigen des hiesigen Ally-Industriekomplexes, oder, wie ich vorziehe, sie zu nennen, Feiglinge (“Another word for white ally is coward”), die auf der Suche nach den Stimmen derjenigen Quoten-Schwarzen, die ihre befremdlichen “anarchistischen” Utopien, die sich im Wesentlichen kaum von der heutigen Realität westlicher Lebensweisen unterscheiden, bestätigen sollen, unweigerlich mit jenen Positionen konfrontiert werden, die Anarchist*innen immer schon von Indigenen und zahlreichen schwarzen Communities gelernt haben oder immerhin lernen hätten können: Dass die gesamte Zivilisation ein einziger Vormarsch der Herrschaft ist.

Schwarze Saat kann als PDF aus den Tiefen des Internets, unter anderem von der Webseite feralfire.noblogs.org gesaugt werden. Ob derzeit noch gedruckte Ausgaben verfügbar sind, ist mir aufgrund der Tatsache, dass der herausgebende Schwarze Pfeil aufgrund von staatlicher Repression eingestellt wurde, unklar. Gewisse, auf den Ausverkauf anarchistischer Szeneidentitäten und fair gehandelte Kolonialwaren (wie Bekleidung und Kaffee) spezialisierte Versandhändler listen das Buch jedoch weiterhin zum Kaufpreis von 13,12 Euro in ihrem Sortiment auf.


[1] Ob das Ganze unbedingt unter dem Namen Schwarze Saat firmieren musste, was den Anschein erweckt, es würde sich bei mehr als nur ein paar Texten um Übersetzungen aus Black Seed handeln (und ich denke mein Unbehagen besteht hier darin, dass es gerade der syndikalistische und fortschrittsorientierte Kram aus guten Gründen wohl kaum jemals in eine Black Seed Ausgabe geschafft hätte), sei einmal so dahingestellt.

[2] Also ja, ich verstehe das Ressentiment, das aus solchen Aussagen spricht, sehr gut, gerade angesichts bestimmter “Anarchist*innen” innerhalb dessen, was sich als der deutschsprachige Anarchismus zu inszenieren versteht, die außer einer Akademisierung des Anarchismus nicht gerade viel beizutragen haben, die sich aber immer wieder dennoch in die Kämpfe (schwarzer, ebenso wie weißer) Anarchist*innen einmischen und meinen, mit dieser oder jener philosophischen Haarspalterei die sehr realen Angriffe auf die Herrschaft als nicht-anarchistisch delegitimieren zu müssen. Es mag auch die Tendenz geben, dass Persönlichkeiten wie Kropotkin, Bakunin, Proudhon, usw. von jenen rezitiert werden, die solch große Worte schwingen, aber sich am Ende des Tages ganz gut in einer vermeintlich anarchistischen Nische des Akademiebetriebs eingerichtet haben werden und von diesem Elfenbeinturm herab meinen, die Kämpfe anderer entweder dirigieren zu können oder kommentieren zu müssen, allerdings sollte man jene Zeitgenoss*innen nicht mit Bakunin oder Kropotkin oder beinahe all ihren Vorbildern aus längst vergangenen Zeiten selbst verwechseln. Während Kropotkin zwar vielleicht viel philosophiert hat und möglicherweise wenig Steine geschmissen haben mag, so hat er sich doch auch soweit an subversiven (publizistischen und organisatorischen) Tätigkeiten beteiligt, dass er in den Knast gewandert ist, hat Unterstützung für andere Anarchist*innen organisiert und wie viele andere Anarchist*innen sein Leben ganz der Revolution verschrieben. Ich mag mit Kropotkins Positionen sehr häufig uneinverstanden sein, aber ich denke nicht, dass man deshalb sagen kann, er hätte nicht versucht das zu leben, was er verzapfte – auch entgegen aller Widrigkeiten, die das mit sich brachte. Und was selbst für einen Kropotkin gilt, das gilt für einen Bakunin, der buchstäblich den revolutionären Ereignissen nur so hinterherjagte, umso mehr …

[3] Und besonders wo eine Identität rund um Indigene Anarchist*innen geschaffen werden soll, stellen sich gewiss manch einer*m die Haare zu Berge. So stieß etwa der im Buch veröffentlichte Text “Einen indigenen Anarchismus anpeilen” von Aragorn! (übrigens erschien bereits kurz vor Veröffentlichung von Schwarze Saat, im Juni 2021, ebenfalls eine Übersetzung dieses Textes unter dem Titel “Ortung eines indigenen Anarchismus” gemeinsam mit dem Text “Ein nicht-Europäischer Anarchismus” in einer Broschüre), nachdem er in Black Seed Issue 8 erneut abgedruckt worden war, durchaus auf eine gewisse Kritik, die etwa in der sehr empfehlenswerten Broschüre UNKNOWABLE. Against an Indigenous Anarchist Theory von Klee Benally elaboriert wird und die sich vielleicht grob mit folgenden Auszügen umreißen lässt: “Wenn von Anarchismus die Rede ist, dann verorten wir darin eine Affinität hinsichtlich unserer Feindschaft gegenüber denjenigen, die sich uns aufgezwungen haben. Aber wir weigern uns, zu politischen Artefakten reduziert zu werden, also weckt das auch unsere Feindschaft gegenüber anarchistischer Identität, wenn nicht gegenüber dem Anarchismus insgesamt. Wenn gefragt wird ‘Wie können wir einen indigenen Anarchismus verorten’ und ‘Wie können wir heilen und unsere Leben frei von kolonialer Einschränkung leben?’, dann besteht unsere erste Reaktion in einer Ausweitung unserer Feindschaft; Es gibt keine indigene anarchistische Theorie und vielleicht sollte es niemals eine geben.” Und: “Die tiefere Erkundung eines indigenen Anarchismus könnte unserer Meinung nach im Wesentlichen zwei Wege einschlagen: Der eine wäre der der aktivistischen Akademiker*innen (sowohl indigene, als auch siedlerische) aus einer anthropologischen und philosophischen Perspektive, der absolut keine Berührungspunkte mit jenen hat, die sich näher an den Feuern der Autonomie in unseren Landen befinden (und gewiss lehnen wir diesen Weg entschieden ab), der andere Weg wäre chaotisch, mutig, leidenschaftlich, experimentell, voller Widersprüche. Er würde im Rauch um die Feuer geteilt werden und von Träumen sprechen. Er wird zwischen dem Stilllegen von Pipelines, dem Einschmeißen der Scheiben von Unternehmen und Zeremonien verlaufen. Er wäre in Hooghans und Trailerparks zu finden. Er wäre etwas, das sich all seinem Wesen nach nicht festlegen lassen würde, das sich niemals in die Gefilde des Erfassbaren bringen lassen würde, wo es eine Erweiterung der kolonialen Ordnung von Ideen und Existenzen wäre. Er würde sich selbst unbegreifbar machen.”

[4] Das derzeitige Oberhaupt der Nation of Islam, ein Nationalist, der für eine vollständige Rassentrennung eintritt und der auch den Antisemitismus als eine herkömmliche Triebkraft des Nationalismus für seinen Schwarzen Nationalismus einzusetzen weiß, wenn er die Juden als Schuldige der Unterdrückung seiner eigentlich überlegenen, jedoch unterdrückten Rasse ausgibt.

Kammmolche [1] fackeln Molchschule ab – Warum wir die ZAD angegriffen haben

Attaque, 29. Juli 2021

„Ich hatte ganz einfach nicht gesehen, wo diesmal, diskret, aber sicher, der Reformismus durchschlüpfen würde, da, wo man doch tausende Male von Aufstand und Autonomie spricht.“

Die Bewegung ist tot… Es lebe die Reform. 2017

Die Zad, sie war unser Piratenschiff, die Mutter aller Zads. Sie erschien in einer Epoche ohne Ausweg, und es war, als würde die Welt ein bisschen erträglicher werden. Wie ein kurzer Lichtschein, eine Möglichkeit, die den dicken und klebrigen Nebel unserer Zukunft durchbrach. Für uns, die ein bewegtes Leben außerhalb der Norm führen, war es die Gewissheit, dass es immer einen Ort geben wird, um uns im Falle einer Flucht aufzufangen. Ein Ort, wo der Staat nicht hineingehen würde um uns zu holen. Ein Ort, an dem wir immer Verbündete finden würden, um uns zu nähren, zu kleiden und uns in den Falten seiner Bocage-Landschaft zu verstecken.

Und eben diesem Staat, der uns erdrückt, uns tötet, uns jagt, wurde die Zad vor drei Jahren von einer Handvoll Opportunisten übergeben. Von jenen, die bis zum Vortag noch dieses Territorium als „vom Staat getrennt“ verkündet haben.

Dieser abscheuliche Verrat im Rücken derer, die auf den Barrikaden gegen die Bullen kämpften, wird nicht vergessen werden. Besonders nicht, wenn die lokale Komintern das Projekt einer Molchschule startet, um drei Jahre dessen zu feiern, was ihnen als Sieg herhalten muss.

Auf den Planchettes [2] wiederaufbauen?  Wie nicht angesichts dieser xten Provokation vor rasender Wut frohlocken? Wie nicht zur Rache für den zerstörten Osten aufrufen?

Und dieses langsame Abrutschen, das sich in der ZAD abgespielt hat, um in den Armen des Feindes zu landen? Wir müssen noch einmal diese schreckliche Geschichte zusammensetzen, uns wieder und wieder fragen, was hätte gemacht werden können, um dieses Fiasko zu verhindern. Seitdem finden wir nichts besonderes in den Kämpfen mehr, denen wir begegnen, als wären wir nach diesen Ereignissen blind geworden.

Das ist die Geschichte, wie wir sie erlebt haben.

Lange haben wir an die Erzählung der Einheit und der Diversität der Taktiken geglaubt, wie man sie in den seelenlosen Pamphleten von Mauvaise Troupe finden kann. Die Jahre vergehen, das Leben in der ZAD ist geprägt von Querelen, die uns anstrengen, und Räumungsgerüchten, die uns Sorgen bereiten. Für sie fahren wir in die südlichen Länder um zu trainieren, testen wir Molotow-Cocktail-Rezepte, vergraben wir Kisten voller Material im Wald von Rohanne.

Ja, die Jahre sind schnell vergangen seit César [3], die Geschichten der Auseinandersetzungen mit dem Hof von Saint-Jean-Du-Tertre werden immer hartnäckiger. Stück für Stück wird der visionäre Spitzname, den man Saint-Jean gegeben hat, Teil der Alltagssprache, und beendet damit wütende Tiraden.

Die Konflikte, die rund um die Aufspaltung in Klassen [innerhalb der ZAD][4] begonnen haben, vertiefen sich. Am Vortag der Räumungen distanziert sich eine ganze Reihe der privilegiertesten Besetzer.innen vom „Zadismus“ [5], verlässt das Bewohner.innen-Plenum um das Nutzungs-Plenum zu gründen: diese neue Entscheidungsinstanz spricht sich das Recht zu, über die Zukunft des Bodens zu entscheiden und integriert in diesem Prozess bürgerliche und Vereins-Orgas, die nichts mit der Besetzung zu tun haben.

Anfang 2018 verkündet die Macht die Aufgabe des Flughafenprojektes. Im Fernsehen kann man einige Gesichter bekannter Besetzer.innen sehen, die in der Vacherie feiern und vor den Kameras posieren. Dieselben Gesichter, die man in dieser Zeitung mit einer Cap des [zweitgrößten Gewerkschaftsbunds in Frankreich] CGT gesehen hat, in jenem Aufstand in schwarzer Regenjacke. Dieselben Gesichter, die willkürlich und im Namen der Bewegung versprechen, die D281 wieder aufzumachen [6], zentraler Strang des Nervenkriegs, der zum Sieg gegen die César-Operation geführt hat.

Am Tag nach der Ankündigung der Regierung werden wir Zeug.innen einer Farce eines Plenums, wo über das Schicksal der Route des Chicanes entschieden wird. Einer der neu eingesetzten Chefbürokraten bestimmt die Gesprächsgrundlagen: die Menschen, die die Zone nicht bewohnen, haben kein Mitspracherecht. All jenen, die seit zehn Jahren bei der kleinsten Krise, beim geringsten Fieber auf diesem Territorium zu Hilfe eilten, spricht man, nun, wo das Ganze vorbei ist, jedes Recht ab, Einfluss auf das Schicksal und die Rettung des Mutterschiffs zu nehmen.

Da die Versammlung zu keinem Konsens hinsichtlich der Route des Chicanes kommt, wird der abscheuliche Julien Durand dies mit der Unterstützung des CMDO [7] und aller aus der Schicht der Meistprivilegierten der Bewegung [8] mittels des gewaltsamen Abrisses entscheiden. In diesem bestürzenden Video [9], das von der Groupe G.R.O.I.X. gedreht worden ist, sieht man (5’29), wie das CMDO anstelle der Polizei eine Hütte räumt. In den Sekunden, die dem vorangehen, erklärt uns der abscheuliche Julien Durand die Strategie, die da umgesetzt wird.

Am 26. Januar erzählt die sympathische Camille den Kameras, dass der Abriss der D281 eine Entscheidung ist, die von der gesamten Bewegung getroffen worden ist. [10] Man wird sie einige Monate später mit der Präfektin Nicole Klein bei ihrem Besuch zur Begutachtung der Wiedereroberung [11] anstoßen sehen, begleitet von ihren Freunden von der Riotière und Saint-Jean-Du-Traitre.

Einen ganzen Zwangs- und Normalisierungsapparat setzt die Regierung nun in Gang, und das ohne einen einzigen Aufseher in die Zone gesetzt zu haben.

Diese progressive Übernahme, die in der ZAD stattgefunden hat, erzeugt in uns ein starkes Gefühl des Déjà-Vu:

Die Konstruktion eines Gründungsmythos, das sich vergangene Siege zuschreibt (Plogoff, Larzac), die Inkarnation einer Bewegung durch ein „Wir“, das die Erzählung von vorneherein ausrichtet, da diese nur die reformistischsten und vorzeigbarsten Ränder der Bewegung integriert, die Verwendung eines Neusprechs, das alles möglichst breit vereinen will: Squats werden Communs, das eisige „Kamerad“ hat die „copaines“ [Freund.innen] ersetzt. Eine ganze Literatur entfaltet sich, in der man von Nutzung statt von Eigentum spricht, von Befreiung der Böden statt von Grundbesitz.

Und dann dieses kalte und autoritäre Gesicht, das uns auf einmal bekannt vorkommt, das sich einige grobe Gesten erlaubt, vielleicht um wissen zu lassen, dass der Zwang nicht nur politische Umwege nimmt und sich auch bedrohlicher zeigen kann: im Oktober wird ein Besetzer, der gegen die Freiräumung der D281 war und einen Teil der Straße beschädigt hatte, zusammengeschlagen, in einen Kofferraum gepackt und vor einer Psychiatrie gefesselt liegen gelassen. [12] Anfang November zensiert das CMDO einen Text, der die Abreise von Radio Klaxon [13] von der ZAD erklärt.

All jene jedoch, die weit weg von all diesen Intrigen waren, sind trotzdem bei den ersten Kriegsvorzeichen in die Zone geeilt. Was für ein seltsames Gefühl, wieder in der ZAD zu kämpfen, sechs Jahre nach César, und nur noch eine immobile, gleichförmige und kriegerische Masse vorzufinden, die sich hinter einem Frontzug einreiht und machtlos vor den Barrikaden steht. Wo sind die Clowns? Wo die Ungehorsamen? Und die alte Dame, die weiße Rüben auf die Baggerlader warf? Ein ästhetischer Reichtum ist verloren gegangen.

Doch das ist nicht alles, der „Support“ wird in gewisse Sektoren einquartiert und in absoluter Unwissenheit über die laufenden Verhandlungen gehalten. Auf den Barrikaden ist das CMDO zu beschäftigt, um anwesend zu sein, und Mauvaise Troupe scheint sogar so beschäftigt damit zu sein „die ZAD zu verteidigen“, dass sie eine touristische Reise ins Baskenland unternimmt [14]. Aus dem Westen erreicht uns per Hörensagen, dass eine sehr wichtige Gruppe von Freund.innen, die gekommen waren um zu kämpfen, von den Bewohner.innen weggeschickt worden sind.

Nicht nötig Bürokrat.in der Politikwissenschaften zu sein um zu verstehen, dass da etwas faul ist. Am 20. April 2018, während hunderte Personen aus ganz Europa herbeiströmen um die ZAD zu verteidigen und seit zwei Wochen Gas und Granatenexplosionen ausgesetzt sind, verrät das CMDO den Kampf und übergibt der Präfektur die Normalisierungsdossiers, die vom Staat verlangt wurden und die ausschließlich die festen Bauwerke beinhalten. [15]

Die Mitglieder des CMDO erklären alsdann den Medien, einen Schritt auf den Staat zugegangen zu sein, und dass sie im Gegenzug einen Gegenschritt in ihre Richtung von ihm erwarten würden. Auf dieses antwortet die Präfektin Nicole Klein folgendes: „Wenn Sie wollen, habe ich mir gedacht, dass sie das viel früher hätten machen können. Sie haben eine beachtliche Arbeit geleistet, sie haben uns Tabellen, Namen, Projekte präsentiert, also haben sie die Arbeit gemacht. Das heißt, dass sie immerhin fast so weit waren.“ Sich davon ausgehend vorzustellen, dass einige Orte ihre Bewahrung vor der Räumung verhandelt haben, würde eine Verschwörung aufdecken, nicht wahr?

In diesem toxischen Klima, in dem die Masken Stück für Stück fallen, verdient der Schriftsteller Alessi Dell’Umbria den Orden fürs Überlaufen, der mittels des Mediums Lundi Matin am 19. April erklärt: „Die Bewohner der ZAD werden sich also vollständig gefesselt den Verwaltungsbehörden ausliefern müssen, die genau damit beauftragt sind, die Zerstörung der bäuerlichen Welt voranzutreiben; sich ihren Normen und ihren absurden Prozeduren unterwerfen, die dazu gemacht sind nur die Agro-Industrie überleben zu lassen.“ [16] Dann, am 1. Mai, zitiert er ohne rot zu werden einen historischen Bauern des Kampfes: „In jedem Krieg verhandeln die Feinde… Das ist offensichtlich.“ [17] Offensichtlich! Wir haben hier die perfekte Illustration der Reversibilität der französischen Autonomie.

Am 14. Mai verkündet die Regierung, dass von 40 Dossiers, die bei der Präfektur eingereicht worden sind, 15 für einen befristeten Pachtvertrag geeignet sind. Am 14. September macht der französische Staat seine Wiedereroberung des verlorenen Territoriums der Republik offiziell. [11]

In der Folge wird das CMDO und Konsorten die Seile zum aufständischen Erbe kappen, mithilfe dessen sie sich bereichert haben.

Mauvaise troupe wird ein grobes Storytelling über den Sieg in Notre-Dame-des-Landes auffahren, das auf ein aus Ökos bestehendes Publikum abzielt, die sich im letzten Moment auf die Seite der ZAD geschlagen haben, und Mitgliedern der wohlhabenderen Klassen. Publikum, das sogar die Kohle locker macht, das „die Erde befreien wird“, indem man Grund kauft. [18] Zufällig entdecken wir in einem Magazin eines Bioladens eine Fotoreportage, in der Besetzer.innen, ohne sich auch nur ein bisschen zu schämen, vermummt vor einer Barrikade posieren und Geige spielen. [19] Einige Wochen nach der Räumung wird das inzwischen bettlägerige „Maison de la Grève“ [Streikhaus] sogar die Dreistigkeit haben, die Zone als „kommunistische Kriegsmaschine“ [20] zu bezeichnen.

Wir wissen, dass der Organisationsmodus und die Ideen, die am Ursprung des Kompromisseschließens mit Staat und Wirtschaft stehen, im „appelistischen“ Milieu wurzeln. Trotzdem denken wir, dass es absurd wäre, diese Praktiken heute auf dieses historische Netzwerk zu beschränken. Wenn auch die vorherrschenden Ideen innerhalb der Autonomie auf gewisse Art zutiefst von den Imaginären des Unsichtbaren Komitees beeinflusst sind, so hat man die letzten Jahre beobachten können, wie sich diese mit einem feministischen und ökologischen Lack überzogen haben, um die Rekrutierung attraktiver zu machen.

Als Sahnehäubchen dieses authentischen Fiaskos, das die Verteidigung der ZAD gewesen ist, verkündet das CMDO, zum 3. Geburtstag seines Sieges eine Molchschule auf einem der historischen Orte, die während der Räumung zerstört worden sind, zu errichten: Les Planchettes.

In der Schlacht, die sich dort abgespielt hat und die sich anderswo in jedem Moment unseres Lebens abspielt, versuchen wir eine Realität zu weben, um leben zu können.

Während der Kapitalismus und alle Herrschaftssysteme auf ihrer Seite einen allgemeinen Rahmen gestalten und auferlegen, der uns zwingt, von dieser Realität aus zu handeln, erschien die Zad wie eine gastfreundliche Insel.

Es stimmt, dass, wollen wir uns von der Tyrannei dieser Bestie befreien, die alle anderen Realitäten auffrisst, man zweifelsohne ein Universum gestalten muss, das uns eigen ist und das mithilfe unserer List und unserer Entschlossenheit nicht verschlungen werden wird.

Was wir hauptsächlich in der Zad wiederentdeckt haben, auf den Zads, ist der Wald. Da, wo einige nur Nutzung und eine klingende und wohlgewichtete Summe an Ressourcen gesehen haben, um die Autonomie aufzubauen, haben wir auf unserer Seite die Möglichkeit eines radikal anderen Lebens wiederentdeckt. Dieses Leben ist für uns ein Erlernen der Freiheit gewesen. Die Zad ist für uns vor allem die Geschichte eines Teils der westlichen Welt, der die Möglichkeit eines Lebens außerhalb der Prinzipien der Zivilisation wiederentdeckt.

Ein bisschen weiter von der Stadt entfernt, von den familiären Verpflichtungen getrennt, den aktivistischen Pflichten, der produktivistischen Logiken, die man bis weit in unsere sogenannten befreiten Zonen mit ihren Märschen voller Fantastereien und messianischen Figuren wiederfindet, haben wir wieder angefangen ein volles und komplexes Leben zu führen.

Dort haben wir Möglichkeiten erhaschen können, um zu entfliehen und bescheiden unsere kleinen Hüttenwelten neu zu erlernen und zu erfinden, die Prämissen einer neuen Magie zu gestalten und uns vor den Blicken derer zu verstecken, die ihre Gesetze auferlegen, um besser wiederaufzutauchen und anzugreifen.

Andere wiederum haben im Gegenteil vor allem die Möglichkeit gesehen neue Räume zu restaurieren und Kalorien aus dem Boden zu ziehen. Der Kampf hat sich bald in eine Buchhalterlogik eingefügt, in eine Logik zu rettender Orte und zu nutzender Ackerböden. Wieder einmal hat die aktivistische und materialistische Planifizierung über die poetische und feinfühlige Dimension gesiegt, welche aus einer Revolte mehr als nur einen Haufen an Techniken macht, die man der Welt entgegenstellt, nämlich gut und gern eine Lebensart.

Jene, die kalt strategisieren und an unserer statt ihre Kämpfe planen, werden uns immer was von Sentimentalität, Neugestaltung der Welten und von Allianzen erzählen. Ihr Blick auf die Natur ist nur das, was hinsichtlich der vorherrschenden Ökobewegung am vorteilhaftesten ist: eine Verschiebung des reformistischen Standpunkts, der in diesen Zeiten ausreichend Resonanz findet, um Orte zu besetzen und sich als neues System der Gouvernementalität zu etablieren.

Es stimmt, dass die Herrschaft in Zeiten der Antiglobalisierungsbewegung weiterhin fortgeschritten ist, indem sie sich neu konstituiert hat. Dieser ruhige kleine Kampf, unter dem Deckmantel der Inklusivität, der gegenseitigen Anerkennung von Vermittlung und Dialog, scheint die moderne Strategie zu sein um sich dem anzunähern, was bisher vollkommen verschieden war, um es besser zu erreichen und zu assimilieren. Die Allianz nützt einem jeden, die Rekonstituierung absorbiert und erodiert auch das Zerbrechlichste.

Schnell hat sich der herrschende Rand der Zad, der sich in der Politik des CMDO verkörpert, welche der Partisanenlogik seiner hochrangigsten Mitglieder treu ist, als politische Walze etabliert.

Diese Realität, nach dem Vorbild der unterschiedlichen Herrschaftssysteme, will unaufhörlich das, was ihr nicht ähnelt, absorbieren, verschlingen, verdauen und auflösen.

Wenn eine Welt um jeden Preis ihren Aufschwung strategisiert, ihr Wachstum optimiert und ausrichtet, ohne die Ethik, die doch die Nahrung ihrer Revolte gewesen ist, mit einzubeziehen, dann gesellt sie sich zum Marsch der Welten des Todes und der Vernichtung, die es zu bekämpfen gilt.

Ihr könnt uns viel von Kohlmeisen und japanischem Staudenknöterich erzählen. Ihr erwartet von den Pflanzen und den Vögeln, dass sie eure eigenen Pläne umsetzen, von deren Legitimität ihr überzeugt seid. So steuert ihr die materialistische Entfremdung der sozialen und Arbeiterkämpfe bis in die wilden Gebiete, indem ihr gemeinsame Absichten mit dem vorgebt, was euch nicht ähnelt, um es besser zu assimilieren. Doch es gibt Dinge, die weder ihr noch die, die nach herrschaftlicher Kontrolle lechzen, jemals kontrollieren werdet. Umso besser.

Es wurde alles getan, damit von der unglaublichen Vielseitigkeit der Verhältnisse zur Welt, die auf der Zad vorhanden waren, nur die triumphierende Vitrine der Sieger übrig bleibt.

Diejenigen, die das Monopol ihrer Anwesenheit organisiert haben, indem sie mit dem Staat verhandelt haben, diejenigen, die aus der Ferne zugesehen haben, als die Hütten von den Bullen dem Erdboden gleicht gemacht wurden, haben in ihrem Größenwahnsinn ein Ensemble von Zeichen, Praxen und eines Glaubens erschaffen, um die Arbeit der Kolonisierung unserer Vorstellungskraft fortzusetzen.

Bald hat die Forstverwaltung unsere Biwaks im Wald ersetzt.

Da, wo wir versucht haben, direkte Beziehungen bei Konflikten zwischen Individuen oder kollektiven Konflikten neu zu erlernen, sprachen sie von gemeinschaftlicher Mediation [médiation communautaire].

Grundstückskäufe wurden in ihrem Mund Landnahmen.

Der Nicht-Utilitarismus des Lebendigen wurde dadurch ersetzt, in den Versammlungen zu entscheiden, welche Bäume sie fällen wollen.

Die Stämme derjenigen ohne Boden, ohne Eigentumsrecht wurden letztlich von den Bauernkollektiven niedergestreckt.

Die sogenannte kommunale Horizontalität [horizontalité communale] hat die individuelle freie Assoziation gesprengt.

Was uns betrifft, wählen wir lieber das Feuer als ihren falschen Frieden.

Ihr Museumsökologismus ist eine Lüge.  Einige der befreiten Leben haben mehr zwischen den Hecken und den Hochwäldern dieser Zone gelernt, als man jemals auf den selbstgebauten Bänken dieser Schule unterrichten wird.

Die wahren Räume zum Lernen haben sie zum Tode verurteilt. Eure Schule, wie der Rest, ist nur ein weiteres Räderwerk um eine Welt nach eurem Bilde herzustellen.

Auf unserer Seite haben wir gelernt, dass viele Fallen und Schwierigkeiten sich auf den Wegen zur Emanzipation verstecken können, dass das, was sich uns entgegenstellt, unterschiedlichste Formen annehmen kann und dass es nie zu spät ist, um sich zu rächen. Die Schutzrunen auf dem Dachstuhl werden daran nichts ändern.

Zapatistische Compas, hört und seht jene, die euch aufnehmen.

Ihr werdet zweifelsohne trotz der heuchlerischen Masken die Kälte und das Kalkül jener lesen können, die von sich behaupten, dem willkürlichen Terror der Herrschaft entkommen zu sein, um diese nach ihren Vorstellungen neu zu lenken.

Im Bild der indianischen Kriege gesprochen verbünden sich einige Stämme mit dem Eroberer. Auch wenn das Überleben eines Volkes unter bestimmten Umständen eine solche Entscheidung aufzwingen kann und es kompliziert wäre hier darüber zu debattieren, ging es auf der Zone nur um ein bisschen Land.

Kein Weg ist perfekt. Einige haben ein Herz. Andere sind nur ein Hauch von Arroganz und Kalkül.

Aus all diesen Gründen haben wir uns entschieden, ins Herz dieser Expansionslogik zu schlagen, die inzwischen die Zad beherrscht, und jener, die sich mit ihr verbünden. Der Bau einer Schule der Erde im Herzen des Ostens, der von der Aufgabe des Kampfes verwüstet wurde, hat eine klare Antwort verdient.

In der Nacht vom 5. auf den 6. Juli haben wir uns im Morgengrauen in die Planchettes geschlichen, wo sich die Baustelle des zukünftigen Bauwerks befindet. Während wir erwarteten, ein Werk vorzufinden, das am Rande seiner Vollendung steht, sind wir auf einen nackten Dachstuhl getroffen, der in eine Betonplatte eingelassen war. Da wir nicht die Mittel hatten, das Ganze vollständig abzufackeln, haben wir die Hauptbalken durchgesägt, ehe wir zu ihren Füßen Bauholz aufgeschichtet haben, das wir angezündet haben. Außerdem haben wir alle Zelte und Baustellenstrukturen sorgfältig aufgeschlitzt, die vor Ort zu finden waren.

Während unserer Operation befand sich eine Person nur wenige Meter entfernt in einer Behausung. Das hat uns weder daran gehindert in ihre Kompostklos zu scheißen noch unsere Rache zu vollenden. Wir haben geduldig gewartet, dass ihre Stirnlampe ausgeht, und mehrere Brände gelegt, ehe wir wieder mit der Nacht verschmolzen.

Wir widmen diese Aktion allen Personen, die die toxische und repressive Logik erlitten haben, die vom CMDO und seiner Welt auferlegt worden ist.

Einige Geister


[1]  Anm. d. Übers: Die Gegend rund um die Zad von Notre-Dame-des-Landes ist das Habitat des „triton crêté“, des Kammmolchs, eine vom Aussterben bedrohte Salamanderart. Über die Jahre sind die „tritons crêté“ (das französische Wort crêté bezeichnet auch den Irokesenschnitt und ist auch ein Wort für „Punks“) eine ironische Bezeichnung für Personen geworden, die die ZAD verteidigen.

[2] Anm. d. Übers.: Les Planchettes war ein historisches Zentrum auf der ZAD gewesen, das 2012 zerstört und dann wieder besetzt worden war. Später war es Teil des „Osten“-Viertels, und grenzte direkt an die Route des Chicanes/D281, was die Gegend war, die am meisten von den Räumungen 2018 zerstört wurde.

[3] Anm. d. Übs.:  Am 16. Oktober 2012 haben die französische Bereitschafts- und Militärpolizei die ZAD angegriffen, um sie zu räumen. Die starke Verteidigung vor Ort und die massive Mobilisierung in ganz Frankreich (mit vielen Solidaritätsangriffen – siehe „Avé César, adieu! Chronologie des actions en solidarité avec la ZAD sous expulsion“) war erfolgreich darin, diesen Räumungsversuch zu stoppen.

[4] „A propos de mépris de classe“: https://zad.nadir.org/spip.php?article1798

[5] „Le mouvement est mort Vive la… réforme!“: https://infokiosques.net/spip.php?article1530

[6] Pressekonferenz über die ZAD – 17. Januar 2018

[7] Definition aus Zadissidences 2: „Comité pour le Maintien De l’Occupation“ [Komitee zur Aufrechterhaltung der Besetzung] ist eine Gruppierung von Besetzer-innen unterschiedlicher Orte in der ZAD, deren Initiativen hauptsächlich darauf abzielen, sich mit den „Komponenten der Bewegung“ zu spektakulären Ereignissen gegen den Flughafen zu organisieren und sich „eine Zukunft ohne Flughafen“ auszumalen. Diese anfangs geheime Gruppe hat sich mit der Zeit vom Rest der Besetzung „autonomisiert“, da sie die Kritiken – nämlich mit den anderen „Komponenten“ die Entscheidungen der Bewegung zu privatisieren – nicht akzeptierte, die, sobald ihre Existenz bekannt wurde, wegen ihrer Methoden gegen sie vorgebracht wurde.

[8] Zadissidences 1, s. den Artikel „Contre l’aéroport – et pour son monde, ou quoi?“ [„Gegen den Fluhafen – aber für seine Welt, oder was?“]
https://infokiosques.net/lire.php?id_article=1549

[9] https://www.youtube.com/watch?v=TMw1dpEeSEE

[10] NDDL: die ehemalige „Route des Chicanes“ freigeräumt

[11] France 3 TV, „Notre Dame des Landes: La reconquête [Die Wiedereroberung]“: https://www.youtube.com/watch?v=NTDygyO5jBU

[12] ZAD von Notre-Dame-des-Landes: Perquisitions en cours [Laufende Ermittlungen]

ZAD de Notre-Dame-des-Landes : Perquisitions en cours (MAJ du 25/01)

[13] Notre-Dame-des-Landes: Silence Radio. Radio Klaxon est morte… vivent les radios pirates! [Radio Ruhe. Radio Klaxon ist tot… es leben die Piratensender!]

Notre-Dame-des-Landes: Silence Radio. Radio Klaxon est morte… vivent les radios pirates!

[14] 15. Mai 2018 „Découvrir Errekaleor. Un quartier intégralement squatté au Pays basque nouvelle brochure de la Mauvaise troupe“ [Errekaleor entdecken: Ein vollständig besetztes Viertel im Baskenland neue Broschüre von Mauvaise troupe]: https://zad.nadir.org/spip.php?article5813

[15] Notre-Dame-des-Landes: 40 projets nominatifs ont été déposés [40 namentliche Projekte beantragt] – https://youtu.be/XjUU1s8rKyo

[16] https://lundi.am/ZAD-pour-l-autodefense-et-la-communalite-par-Alessi-Dell-Umbria

[17] https://lundi.am/ETRE-SUR-ZONE-Par-Alessi-Dell-Umbria

[18] https://encommun.eco/

[19] Magazin Kaizen Nr. 52

[20] Lundi Matin, la Zad est morte, vive la Zad. [Die Zad ist tot, es lebe die Zad.]

Über Spekulationen

Was Mutmaßungen über die Urheber*innenschaft von Angriffen und Co. anrichten

Es mag zunächst einmal unnötig erscheinen, einen Text über Spekulationen zu verfassen, scheint es doch zu dem Thema nicht allzu viel Neues und Spannendes zu sagen zu geben. Nichtsdestotrotz ließ sich in den letzten Jahren beobachten, wie Spekulationen über tatsächliche oder vermeintliche Täter*innen(millieus) zu konkreten Angriffen auf die Herrschaft am Rande anarchistischer Szenen, insbesondere aber in der davon nur seltenst klar getrennten, linken Szene, grassierten. Ganz besonders dann, wenn ein Angriff kontrovers diskutiert wurde, kamen diese Debatten um die Sinnhaftigkeit, die “Vermittelbarkeit” oder die (moralische?) Verwerflichkeit dieses Angriffs selten aus, ohne dass irgendwer sich bemüßigt fühlte, (sogar öffentlich) mit dem Finger auf bestimmte Gruppen und manchmal sogar konkrete Personen zu zeigen, diese verdächtigend, diese Taten begangen zu haben. Es mag vielleicht alles Relevante zu diesem Thema bereits gesagt worden sein, nichtsdestotrotz erscheint es mir dringend notwendig, einige wesentliche Überlegungen zu diesem Thema erneut aufzuwerfen und zur Diskussion zu stellen.

Zunächst möchte ich einige Worte zur Ausgangssituation verlieren: Nicht nur dank der Technologisierung und der weitestgehend erfolgreichen Selbstverwanzung der Menschen mit Smartphones (und leider macht dieser Trend auch bei Anarchist*innen immer weniger Halt), ist damit zu rechnen, dass innerhalb dessen, was man vielleicht sowohl in Ermangelung eines besseren Wortes als auch angesichts der Tatsache, dass diese Bezeichnung leider nicht grundverkehrt ist, “anarchistische Szene” nennen mag, also innerhalb eines Kreises von Anarchist*innen und jenen, die sich ihnen vielleicht als Sympathisant*innen annähern, der weder durch Affinitäten begrenzt wird, noch uneingeschränkt als zugänglich für jeden beschrieben werden kann, auch der staatliche Feind latent präsent ist, unsere Gespräche belauscht und mehr noch, vielleicht sogar die Informationen aus unterschiedlichsten Gesprächen an unterschiedlichen Orten und zwischen ganz unterschiedlichen Personen, zusammenträgt und auswertet. Smartphones, Telefongespräche und mehr mögen es dem Bullen vielleicht einfacher machen, nichtsdestotrotz wird er mit Gewissheit – das bezeugen alle Fälle, in denen entsprechende Beweise dafür gefunden wurden – auch Räume, Fahrzeuge, Wohnungen, usw., ja manchmal sogar bestimmte Bereiche von Parkanlagen, verwanzen, um unsere Gespräche zu belauschen, er wird Telefone abhören, Smartphones in Wanzen verwandeln, uns mit Richtmikrofonen nachstellen, und vieles mehr. Manchmal bemerken wir, dass wir belauscht werden, die meiste Zeit sind wir vermutlich ahnungslos. Wir können (und sollten) uns also nur der allgegenwärtigen, abstrakten Gefahr bewusst werden, dass es sehr wohl sein könnte, dass alles was wir in anarchistischen Räumen, in Wohnungen, in wiederholt genutzten Räumlichkeiten, in Anwesenheit eines Mobiltelefons, am Telefon sowieso, und bis zu einem gewissen Grad auch an häufiger genutzten Orten im Freien oder in Hörreichweite eines einem nachstellenden Schweins äußern, mit ein klein wenig Pech unmittelbar auf dem Schreibtisch eines noch in unserer Scheiße eifrig nach Informationen wühlenden Bullenschweins landen könnte, das sich brennend für manche Dinge, die da gesagt werden, interessiert.

Wenn ich dies als die Ausgangssituation schildere, als die Realität mit der wir uns als Anarchist*innen und jene, die sich innerhalb dessen, was man vielleicht eine “anarchistische Szene” nennen muss, bewegen, konfrontiert sehen müssen, so nicht, um damit Paranoia zu schüren, um dazu aufrufen, jede*n “Fremden” mit Misstrauen zu behandeln und sich einen Habitus letztlich sowieso bloß wichtigtuerischer Geheimniskrämerei zuzulegen, ganz im Gegenteil. Ich denke der Umgang mit dieser Situation, den ich bevorzuge, besteht vielmehr darin, sich dieser Ausgangslage klar zu werden, ein klares Verständnis davon zu gewinnen, was dies bedeutet und dann abseits irgendwelcher Rituale die Unsicherheiten, die einen angesichts dessen überkommen mögen, individuell und kollektiv zu überwinden, um unsere Beziehungen nicht von einem Gefühl der Paranoia überschatten zu lassen. Es ist ohnehin nur der neueste Schrei, die Beziehungen von Anarchist*innen (und nicht nur die von Anarchist*innen) mithilfe von Technologie zu infiltrieren und natürlich gibt es auch weiterhin alle möglichen Arten von Spitzeln, mit deren Anwesenheit immerhin gerechnet werden muss. Was ich vorschlage, um dieser Situation zu begegnen, ist im Grunde uralt: Beziehungen, die auf Basis von (individuellem!) Vertrauen geführt werden. Und Vertrauen muss sich entwickeln, durch gemeinsame Diskussionen, Erfahrungen und schließlich Taten. Dadurch, dass man einander kennen lernt, dass man intime Beziehungen zueinander führt, die auf geteilten Ideen basieren. Dieser Artikel ist nicht der Ort um diesen Prozess im Detail zu beleuchten, es ist ja auch ohnehin ein individueller; und ich will hier ohnehin nur klar machen, dass es mir nicht darum geht, den meiner Ansicht nach kontraproduktiven Szene-Habitus zu reproduzieren, bei dem es Codes, Rituale und Stilfragen sind, die den Eindruck von Sicherheit und Klandestinität vermitteln, dabei aber oft gar nicht verhindern, dass munter über Dinge getratscht wird, über die man besser schweigt, ja oft sogar nicht einmal eine Kritik daran formulieren, und stattdessen vielmehr eine In- und Outgroup-Erfahrung schaffen, mit allen zugehörigen Hierarchien und Illusionen.

Dies gesagt, lässt sich mein Vorschlag, und es ist derselbe, den schon Anarchist*innen vor mehr als hundert Jahren formuliert haben, sehr einfach zusammenfassen: Es obliegt ausschließlich denjenigen, die eine Tat begangen haben, darüber zu entscheiden, ob und wenn ja in welcher Form sie sich dazu bekennen wollen. Und ich würde allen empfehlen, solche Bekenntnisse, wenn sie denn unbedingt sein müssen, auf einen einmaligen Akt anonymer Erklärungen zu beschränken und ansonsten über die eigene Urheber*innenschaft geflissentlich zu schweigen.

Und um vielleicht ergänzend aus dem Communist zu zitieren:

Was einer allein thun kann, das möge er allein thun, und NIEMANDEM davon sprechen, denn dies ist für seine Sicherheit nöthig. Im Falle einer collectiven Handlung, möchten wir der Sicherheit halber davor warnen, mehr Personen in die Affäre zu ziehen, als gerade nothwendig sind. Ganz besonders warnen wir davor, eine Frau etwas ernstes wissen zu lassen, das nicht unumgänglich nothwendig ist, denn die Frauen werden fast immer für vollkommen betrachtet, und nur zu oft sind sie es welche uns verrathen.[1] Um die Anonymität zu wahren darf man selbstverständlich kein Süffel sein, der in Clubs, Vereinen und Kneipen herumsäuft und herumplagirt.

– Aus Der Communist Nr. 10, 1892, zitiert nach Namenlos. Beiträge zu einer anarchistischen Diskussion über Anonymität und Angriff.

Wenn man aber vor dem Hintergrund unserer Ausgangssituation den Täter*innen einer Tat auch tatsächlich zugestehen will, dass sie selbst entscheiden, inwiefern sie sich offenbaren, dann verbietet es sich automatisch, darüber zu sprechen, wen man hinter einer Tat vermutet. Und warum wäre einem das auch wichtig? Lässt sich nicht einerseits hervorragend über eine Tat streiten, ohne deren Urheber*innen zu kennen? Und andererseits, kann man eine Tat nicht ebensogut, ja vielleicht sogar besser noch, begrüßen, wenn man sie von der Identität – und was stünde anderes dahinter? – der Täter*in trennt? Ist es nicht sogar langweilig die Individualität der Menschen auf mit Sprache und kleingeistigem Verstand begreifbare Identitätskategorien einzuengen und dieses lächerliche Spiel sogar noch auf jene Situationen zu übertragen, in denen wir es vielmehr mit einer Handlung zu tun haben?

Und wie ist es mit Spekulationen darüber, aus welchem (anarchistischen) Millieu – und darüber hinausgehend, ob es denn überhaupt Anarchist*innen waren – eine Tat stammen könnte? Es ist gar nicht einmal von Bedeutung, ob solche Spekulationen wohl durchdacht und allgemein einleuchtend sind, ob sie bloß das unwissende Geschwätz von den ewiggleichen Tratschmäulern sind oder ob sie vielleicht eine Einschätzung wiedergeben, die ohnehin jede*r Anarchist*in bestätigen würde. Den Bullen ersteinmal vorliegend ist eine solche Einschätzung Gold wert: Immerhin geht es den Bullen und dem Staat, für den sie arbeiten, letztlich weniger darum, Leute für konkrete Straftaten einzubuchten, sondern eben Anarchist*innen dafür einzubuchten, dass sie Feinde des Staates sind. Es ist eine anarchistische Strategie innerhalb dessen, was Rechtsstaat genannt wird, einige der ideologischen Grundpfeiler dieses Staates, dass nämlich in der Regel eine individuelle Tatschuld nachgewiesen werden muss, um jemanden einzubuchten, zu ihrem Vorteil zu gebrauchen und sich dahinter zu verstecken. Wir sollten jedoch niemals den Fehler begehen und glauben, dass es sich hier um mehr als eine Täuschung handelt. Nötigenfalls hält sich der Staat nicht an Gesetze, die ihn limitieren. Er hat bloß Angst davor, die Missgunst relevanter Bevölkerungsgruppen zu wecken, hat Angst davor, dass seine Lügen entlarvt werden. Wenn aber Anarchist*innen ihm die Arbeit abnehmen, bestimmte, immer kleinere Millieus als verantwortlich für strafbare Handlungen zu vermuten und der Staat, bzw. seine Bullen, dies mitbekommt, dann nimmt er dieses Geschenk gerne auch einmal an. Ob man nun Razzien bei dutzenden Anarchist*innen veranstaltet oder gleich alle in Untersuchungshaft steckt, solange die Repression die gewünschte Wirkung entfaltet, ist es dem Staat doch einerlei, ob sie sich mit seinen Kriterien der Rechtsstaatlichkeit deckt, das ist kein Geheimnis.

Die Spekulationen darüber, wer eine Tat begangen haben könnte, auch wenn sie nur auf bestimmte Millieus verweisen, sie können dem Staat also sogar unabhängig davon gelegen kommen, ob sie letztlich ein Hinweis in die “richtige Richtung” waren, oder ob sie gänzlich der Phantasie des Spekulanten entsprungen sind. Und eben weil sie der Repression dienlich sind, erwarte ich von allen Anarchist*innen und jenen, die sich in ihrem Umfeld bewegen, dass sie diese unterlassen!

Weder schuldig noch unschuldig. Das ist die sympathischere Parole als der autoritär anmutende Imperativ von “Anna und Arthur halten’s Maul!”, sie läuft jedoch auf dasselbe hinaus. Wenn wir uns als Anarchist*innen mit jedem Angriff auf die Herrschaft soweit gemein machen, dass wir ihn in seiner Stoßrichtung begrüßen und wenn wir einander gegen die Schergen des Staates verteidigen wollen, dann bedeutet das, dass wir die polizeiliche Straflogik von Schuldig und Unschuldig ablehnen. Und ganz gewiss hat diese Logik nichts in unseren Beziehungen zueinander zu suchen, wo sie in Form von derlei Spekulationen viel zu oft Einzug hält!

Während ich bei all diesen Überlegungen durchaus sehe, und bereit bin anzuerkennen, dass die eine oder andere unbedachte Äußerung, so ärgerlich und folgenschwer sie auch sein kann, nicht die Absicht einer Person bezeugt, andere in Gefahr zu bringen und das Ganze wohl für uns alle ein ständiger Prozess der Verbesserung ist, in dem Fehler ebenso passieren, wie sie auch reflektiert werden und dies sicherlich auch eine gewisse Toleranz aller miteinander, sowie die Bereitschaft, Fehler einzugestehen eines jeden, erfordert, kann ich nicht umhin, nun noch einen Blick auf jene Zeitgenossen zu werfen, die durch öffentliche Äußerungen gegenüber der Presse oder im Internet sowie durch die praktische Polizeiarbeit, Spekulationen in Richtung konkreter Personen zu lenken, einen anderen Umgang erforderlich machen.

Es mag ein gewisser allgemeiner Usus geworden zu sein, die größte Scheiße, die einem im Hirn herumspukt, in die Tiefen des Internets zu entleeren; ganz besonders in den sogenannten “sozialen Netzwerken”. Und es ist kein Geheimnis, dass alles, was dort geschrieben wird, jedes Bild und Video, das dort hinterlassen wird und auch sonst alles erdenklich andere, von den Repressionsbehörden des Staates problemlos mitgelesen werden kann. Das gilt für Twitter ebenso wie für vermeintlich “sichere” Chatgruppen bei Signal und Co. Wie oft waren nach der (massenhaften) Beschlagnahme von Mobiltelefonen bei Demonstrationen schon die Protokolle irgendwelcher “geheimer” und sicher geglaubter Chatgruppen in den Akten der Staatsanwaltschaft aufgetaucht? Es mögen vielleicht auch zwei völlig verschiedene Welten sein, die hier aufeinandertreffen, jene der Plenumsgänger*innen, die zwar ihre Handys vorher gewissenhaft und alle zusammen in einem Kochtopf verstauen, später aber die Protokolle ihres Treffens für alle nicht-Dagewesenen oder vor Langeweile Eingeschlafenen in die Signal- oder Telegram-Gruppe stellen und die vielleicht vor allem zu befürchten haben, dass die Bullen den geheimen Strukturen ihrer internen Bürokratie auf die Schliche kommen, und dann die derjenigen, die glauben, dass die zu Beginn dieses Textes geschilderte Situation für sie eine gewisse Relevanz besitzt und die sich daher nicht nur einen gewissen “Style von Klandestinität”, wie er vielleicht für die schlechtesten Kinofilme gerade ausreichend ist, aneignen. Eigentlich kann man es nur hoffen. Aber das bedeutet nicht, dass die Scheiße, die in solche Chatgruppen geschissen wird, nicht stinken würde. Ob man Spekulationen ins Internet stellt, der Presse mitteilt (und ja, auch “ich glaube nicht, dass das jemand von meiner Peergroup war, wir sind ja auch alle ganz friedliche Leutchen” ist auch eine Spekulation und lässt sich nach dem Ausschluss-Prinzip arbeitend von den Schweinen gelegentlich sogar ganz gut gebrauchen) oder der Polizei direkt die eigene Einschätzung mitteilt, ein solches Verhalten passiert nicht einfach mal aus Versehen. Wer soetwas macht, scheißt in aller Regel ganz bewusst darauf, dass sein Verhalten andere Personen gefährdet. Ebenso wie eine Person, die versucht mit den eigenen Spekulationen auf eine konkrete Person hinzudeuten, keinen Zweifel daran lässt, dass sie die Arbeit eines Bullen verrichtet. Es mag stimmen, diese Personen verhalten sich so, weil sie keinerlei Solidarität mit jenen empfinden, die sie einer bestimmten Tat verdächtigen, und sie beweisen, dass sie in diesem Fall gewillt sind, bereitwillig der staatlichen Repression zuzuarbeiten.

Ich halte es für eine Gefahr, dass, wenn auch nur über Ecken, in irgendeiner Form mittelbare Beziehungen zu solchen Leuten bestehen und halte es darüber hinaus für unabdinglich, eine klare Trennungslinie zu solchen Gestalten zu ziehen. Notfalls auch, indem ich alle Beziehungen zu jenen abbreche, die weiterhin mit solchen Leuten abhängen.


[1] Und weil diese Passage bereits in der Vergangenheit vielleicht einem übertriebenen Reflex politischer Korrektheit nachgebend, entsprechend hinsichtlich des Naheliegenden angekreidet wurde – wobei meiner Interpretation nach vielleicht auch eher eine einordnende Fußnote Anlass der Aufregung war –, will ich hier zu einer möglichen Einordnung anmerken, dass es hier ja möglicherweise – zumindest interpretiere ich das so – um nicht tatbeteiligte Frauen, also beispielsweise Liebhaberinnen oder solche, deren Liebhaber man gerne wäre, geht. Und selbstverständlich sollte niemand so naiv sein, zu denken, nur weil man mit einer Person schläft – oder sie vielleicht auch gerne ins Bett bekommen würde und vielleicht hofft, auf diese Weise bei ihr zu landen –, man deshalb irgendwie anders handeln sollte, als man es sonst täte.

Auf der Jagd nach dem Unsichtbaren

Eine fragmentarische Kritik des Post-Covid-Riot-Prime-Manifests

Ein Gespenst geht um in Europa … Nein, Spaß. Nicht in Europa. Auch geht es nur unter Linken um; und dort bloß unter jenen, die sich angesichts der autoritären Demaskierungen durch die pandemische Realitätsverschiebung als deren sympathischerer Teil herausgestellt haben. Es ist das Gespenst des Post-Covid-Riot-Prime-Manifests. Ein Manifest? Schreibt man soetwas heute überhaupt noch? Nun, so wie es aussieht … Aber es ist keines von dieser Sorte. Oder vielleicht doch? Letztlich macht es vielleicht mehr als alles andere den Bruch zwischen jenen Linken, die “das Ende der Welt bei ein paar kühlen Drinks” genießen werden und jenen, die sich für die Straße entscheiden werden klar. Aber warum sich damit als Anarchist*in auseinandersetzen? Immerhin genieße ich kühle Drinks seit Jahren schon auf der Straße, nach jedem Angriff auf die Herrschaft, während den linken Verteidigern des Bestehenden die ihren vor Schreck und Empörung aus der Hand gleiten. Aber dieses Manifest ist vielleicht weniger selbst das Gespenst, das da durch die Oberstübchen der abtrünnigen, Drinks-verschmähenden Linken geistert, vielmehr erweckt es einige alte Gespenster. Und so finde ich dieses Manifest – wie das mit Programmen eben so ist – insgesamt zwar sehr vorschlagsarm, während ich seiner grundsätzlichen Skizze einer Analyse sogar gar nicht allzu sehr widersprechen würde, aber ich störe mich als Feind*in jedes autoritären Denkens, als Purist*in sozusagen, doch an dem einen oder anderen Detail, in dem ich die mögliche Wiederbelebung eines gewissen autoritären, aufständischen Denkens zu erkennen glaube. Die folgenden Fragmente sollen das deutlich machen.

I

Die Linken, sie sind wahrlich keine Verbündeten, soweit so gut, aber brauchte es, um das zu erkennen, wirklich die “Corona-Ära”? Dass die Linke (und nicht nur die weiße, westliche Abart) nicht erst in der Corona-Ära “der Solidarität das Wort geredet” hat, während sie “einen faktischen Schulterschluss mit der Macht” vollzog und dazu aufrief “alle grundsätzlichen Klassenkämpfe, alle Manöver des sozialen Kriegs von unten einzustellen, ruhen zu lassen”, das ist ein offenes Geheimnis unter Anarchist*innen. Haben nicht diejenigen “Anarchist*innen”, die offenbar so wenig von ihren angeblichen Ideen hielten, dass sie sich zu einem Mitglied der Regierung wählen ließen, gemeinsam mit den Kommunisten in Spanien 1936 und den diversen, auch anarchosyndikalistischen Gewerkschaften dazu aufgerufen sich in der Arbeit unter (angeblicher) Selbstverwaltung weiter zu knechten? Haben nicht erst jüngst diverse linke Politiker rund um die Riots um die Ermordung von George Floyd nicht bloß zum Rückzug geblasen, sondern auch Anstrengungen unternommen, jene zu denunzieren und zu verleumden, die es zum anhaltenden Angriff auf die Herrschaft trieb? Oder was ist mit jenen, ganz speziellen linken Wichsern, die in der besetzten ZAD von Notre-Dame-des-Landes 2018 nicht nur Verhandlungen mit dem Staat eingingen, sondern auch über die Köpfe ihrer einstigen Gefährt*innen hinweg Bedingungen akzeptierten (keine Wohnwägen, Waldhütten, usw.) und anschließend auf deren Umsetzung drängten, ja diese sogar mit Gewalt und in Ausübung polizeilicher Funktion selbst umsetzten, die sich explizit gegen ihre Mitkämpfer*innen richteten?

Kurz gesagt: Bei den Linken handelt es sich eben um jenen (demokratischen bis kommunistischen) Flügel des politischen Spektrums, der um die Macht ringt, um eine Herrschaft rund um – und legitimiert durch – seine Subjekte, traditionellerweise den industriellen Proletarier, zu errichten. Dazu zählen freilich auch jene selbsternannten Anarchist*innen, deren ideelle Anleihen immer schon mehr diesen Spektren entsprangen, als einer Feindschaft gegen jede Form der Herrschaft. Die Linken, sie konnten also noch nie Verbündete im Kampf gegen jede Herrschaft gewesen sein und immer schon hat es Anarchist*innen gegeben, die dies erkannt hatten und sich danach verhielten.

Wenn es für manch eine*n die “Corona-Ära” gebraucht hat, um dies zu erkennen, schön. Besser spät als nie, könnte man sagen. Allerdings sollte man nicht den Fehler machen, diese Erkenntnis als etwas grundsätzlich Neues, etwas bisher nicht dagewesenes zu verklären, sonst verstellt man sich selbst den Blick auf die eigentlichen Ursachen und scheitert möglicherweise darin, sich selbst von jenem linken Ballast zu befreien, den man bisher vielleicht noch mit sich herumgetragen hat.

II

Unsere Aufstände? Was soll das denn sein? Wer ist dieses Wir? Eine Unsichtbare Partei? Oder bloß eines ihrer Komitees? Und wenn ja, warum wird es hier nicht klar als solches benannt? Wenn jene Aufstände “alle Ansinnen der Repräsentanz zurückweisen”, wie könnte man dann darauf kommen, sie als die seinigen zu bezeichnen? Und das – so dünkt mich –, ohne überhaupt an ihnen teilgenommen zu haben? Es stimmt: Kein*e Aufständische*r mag die Linken. Überhaupt mag keine*r der Ausgeschlossenen, deren explodierende Wut sich zu jenen Revolten ausweitete, die man in den letzten Jahren gebannt verfolgt haben mag, ein Interesse daran haben, dass sich diese linken Vampire zu den geistigen Anführer*innen ihrer Revolte aufspielen und sie alle sind besser beraten, Politiker, linke ebenso wie rechte, aber eben auch jene unsichtbaren Parteikader von Anfang an zu verjagen.

III

Und was soll dieser Mist von Geschichteschreiben? Wer im Namen eines Wir Geschichte aufschreibt, was unterscheidet ihn von jenen His-torikern, die das im Namen der Herrschaft tun? Und ja, ich habe darüber nachgedacht, ob ich hier nicht eine bloße Bezeichnung in den falschen Hals bekommen habe, und muss das entschieden verneinen. Der Beweis: Wenn sich unsere lieben unsichtbaren Geschichtsschreiberlingen in einem Anflug von Paternalismus über die randalierenden Jugendlichen in Stuttgart erheben: “Vielleicht fehlt ihnen noch ein bisschen die Erfahrung, wie man seine eigene Geschichte aufschreibt, aber zumindest scheinen sie nicht verlernt zu haben, wie man randaliert […]”. Nun, vielleicht fehlt vielmehr unseren unsichtbaren Geschichtsschreiberlingen noch ein bisschen die Erfahrung, wie man seine eigene Geschichte aufschreibt, etwa weil man es sich vor lauter Linkstümelei in den letzten Jahren angewöhnt hat, im Pluralis Majestatis zu sprechen und dies entsprechend Zustände geistiger Verwirrung angeregt hat, bei der man sich selbst als Geschichtsschreiberling mit jenen verwechselt, denen man mithilfe der Medien beim randalieren zusieht, oder auch weil, wenn man “wieder und wieder unsere Geschichte auf[schreibt]”, die Momente des eigenen Randalierens darüber ein wenig ins Hintertreffen geraten könnten und man vielmehr eine Karriere als (unbezahlter) Journalist oder vielmehr His-toriker einschlägt, für den die niedergeschriebene Materie nichts als der leblose Stoff ist, aus dem man am Leichentuch aller lebendigen revolutionären Aufbrüche webt, die man in sein Theoriegerüst integrieren will? Und ich gebe wirklich mein bestes, um nicht allzu sehr ins polemische abzugleiten und die Sache fair zu betrachten. Denn natürlich gibt es auch Versuche, die aufgeschriebenen Geschichten jener Revoltierender, die tatsächlich ihre eigenen Geschichten aufgeschrieben haben, zu übersetzen, zu verbreiten, in dem Versuch Inspiration daraus zu ziehen, die ich nicht so bösartig als der Totengräberei der His-toriker identisch anklagen würde, aber in diesem Fall fallen die Worte wir und unser im Zusammenhang mit Geschichten, die ganz offensichtlich nicht die des Autors/der Autor*innen sind, ein paar Mal zu oft!

IV

Wir müssen im aufständischen Prozess alles zerstören, was unvermittelten Beziehungen zwischen Individuen im Weg steht. Davor ist das Unsichtbare Komitee bereits 2007 zurückgeschreckt; vielleicht weil ein Komitee, ob es nun sichtbar oder unsichtbar ist, demzufolge ebenfalls zerstört werden müsste? Wenn die Linke in den Gedankenwelten des Sturms auf das Winterpalais gefangen sein mag – und ich wäre geneigt, dem zuzustimmen –, so gibt es auch jene, die in den Gedankenwelten der “Syrischen Revolution” gefangen sein mögen. Sie mögen zwar in der Lage sein, sich den gegenwärtigen Aufständen (aus der Ferne?) anzuschließen, weil sie ihren Wesensgehalt besser begreifen mögen, aber sie scheuen sich, wie es die Linke immer schon tat, davor, etwas anderes vorzuschlagen, als sich die Mittel anzueignen, mit denen Informationen übermittelt, unterdrückt und manipuliert werden können. Sie wollen damit angeblich eine Intensivierung des Austauschs unter den Aufständischen Fraktionen erreichen, in Wahrheit jedoch, wollen sie die Medien zu den propagandistischen Zielen der Gleichschaltung aller Aufständischen gebrauchen, dazu, wie sie das nennen, “eine gemeinsame Vorstellung davon, wie ‘der Himmel zu erstürmen sei’”, zu “entwickeln”. Denn die Medien, sie dienen vielem, aber gewiss nicht der Kommunikation und des Austauschs auf Augenhöhe, sondern vielmehr der Indoktrination. Und um es konkret zu machen: Gewiss haben Kommunikationsmittel wie soziale Medien (Facebook und Youtube), die sich von Akteur*innen in der Syrischen Revolution angeeignet wurden (ohne dass man die Kontrolle darüber hätte erringen können) um die Bilder von brutaler, tödlicher Gewalt gegen Demonstranten weltweit zu verbreiten, einen gewissen Zweck erfüllt, der Einschätzung von zwei Anarchisten aus Aleppo zufolge, die sie in “Revolutionäre Echos aus Syrien” darlegen, etwa dem Schutz vor noch brutalerer Repression, aber das sollte nicht damit verwechselt werden, dass zur Entwicklung gemeinsamer Perspektiven verschiedener aufständischer Individuen letztlich nichts anderes als Diskussionen taugen kann, außer es ist einem daran gelegen, die Massen mithilfe der Propagandamaschinerie der Medien zu einem bestimmten Verhalten zu manipulieren, d.h. sie ebenso wie die Herrschenden zu belügen und zu täuschen. Eine Dynamik, die neben anderen Einwänden auch sehr schnell kontraproduktiv wird: “Und was passierte, ist, dass Leute in Homs an einem gewissen Punkt begannen zu übertreiben, was sie taten, selbst bei Zahlen zu übertreiben, die Verlustzahlen von Leuten, die wirklich starben, um diese Rolle zu behalten, dass sie diejenigen sind, die sich selbst aufopfern, sie die Hauptstadt der Revolution sind, um mit diesem Titel mitzuhalten, der ihnen [von den Medien] verliehen wurde. Sie fabrizierten eigentlich viele Nachrichten und das kostete die Revolution viel Glaubwürdigkeit, sogar in den Augen anderer Syrer, die zögerten, sich der Revolution anzuschließen oder nicht. Denn sie sahen, wenn das Regime log, so logen auch diese Leute, also unterschieden sie sich nicht wirklich so von ihnen.” (Revolutionäre Echos aus Syrien)

Sicher, im Kampf um das Leben findet man seine Verbündeten weder in der Wissenschaft, jener Folterkammer des Lebens, noch in jenen, die mit ihr und folglich mit der Herrschaft paktieren. Wenn das Unsichtbare Komitee das 2007 gesagt hat, dann hat es diesen Gedanken mit Sicherheit bei jenen Anarchist*innen gestohlen, die dies – nur um hier auch ein früheres Datum in den Raum zu werfen – spätestens in den 80er Jahren, aber eigentlich schon immer, analysiert haben. Was diese Anarchist*innen jedoch auch gesagt haben:

“[…] Wenn wir in unserem sozialen Handeln bestrebt sind, die Logiken der institutionellen Integration umzukippen, müssen wir uns über die immer gegenwärtige Notwendigkeit des Angriffs in einer Situation von permanenter Konfliktualität gegenüber allen, ob grossen oder kleinen, Strukturen des Staates und des Kapitals, die auf dem Gebiet, worauf wir leben, verstreut sind, im Klaren sein.

Dieselbe Haltung muss gegenüber den Massenmedien eingenommen werden, ohne in die Falle ihrer Überzeugungsmacht zu geraten, und zwar, um nicht selber auch als Opfer des produzierten Spektakels zu enden.

Mit der Lust, zu kämpfen, muss eine zerstörerische und konstruktive Logik vereint werden, die die verschiedenen Ziele von Mal zu Mal abzuwägen weiss und jene ermittelt, die fähig sind, die Strukturen der Herrschaft zu erschüttern. Wir müssen also diese Ziele angreifen, während wir, gleichzeitig, unter den Gefährten und Proletariern dafür sorgen, jenes Gespür für eine verstreute und horizontale Projektualität zu entwickeln, das es nicht zulässt, dass sich auf dem Gebiet Führungszentren bilden. Das Ganze, während gleichzeitig die Prozeduren entkräftet werden, die bezwecken, in den Kämpfen parteiliche Merkmale zu reproduzieren, Kämpfe, die stets ihren selbstverwalterischen Charakter bewahren müssen. Zudem ist es wichtig, sich die unentbehrliche Information und Kenntnis anzueignen, um dafür zu sorgen, dass sich die subversive Kommunikation in einen Verbindungsmoment zwischen den verschiedenen Bruchstücken der antagonistischen Bewegung übersetzt, die einheitlich bestrebt ist, ihre revolutionäre Aktion einen qualitativen Sprung machen zu lassen. ” Pierleone Porcu in “Reise ins Auge des Sturms” (1987), Kursivierungen von mir.

Und warum sollte man den einen Gedanken übernehmen, aber den anderen nicht?

Übrigens: “ohne Bullen kein Staat,” das hängt freilich sehr stark vom Polizeibegriff ab. Die Bullen zur Hölle zu jagen, was wird es wohl bringen, wenn anschließend irgendwelche “Community Accountability”- Polizeien mehr oder weniger den gleichen Zweck erfüllen werden und die Subjekte vielleicht mit, vielleicht ohne rassistische Gewalt soweit unter Kontrolle hält, dass sie ihr Dasein als Sklav*innen weiterhin hinnehmen? Aber ich denke hier könnte sogar Einigkeit mit dem Verfasser des Post-Corona-Riot-Programms bestehen. Jedenfalls sollte bedacht werden, dass ein moderner Staat in der Regel verschiedene Polizeiapparate besitzt und er (auch lokal beschränkt) durchaus gelegentlich auf den so benannten, formell-repressiven verzichten kann.

V

Die Revolten zu begreifen, wie sie in der Peripherie – und ja, diese Peripherie wir finden sie nah und fern, in den Banlieues, den Vororten Brüssels, den “Kreisverkehren des vergessenen Frankreichs”, ebenso wie in den Vororten Khartoums, bei der indischen Landbevölkerung und den todbringenden Hightech-Rohstoffminen des vom Krieg zerklüfteten kongolesischen Territoriums, aber vor allem auch in den Mapuche-Gebieten Chiles, den Land(wieder)besetzungen auf dem Territorium des kanadischen Staates, in den französischen Kolonien und überall sonst, wo sich Indigene gegen die fortgesetzte Kolonisierung ihres Landes und den an ihnen verübten (kulturellen) Genozid zur Wehr setzen – in immer kürzeren Zyklen ausbrechen, es ist bloß die eine Seite der Gleichung. Ob durch die Abschottung der europäischen Außengrenzen mittels Drohnen, Stacheldraht und Pushbacks oder durch die Etablierung kybernetischer Sozialkreditsysteme nach dem Vorbild Chinas, die Checkpoints weit im Landesinneren errichten, die verhältnismäßige Stabilität in den Metropolen wird zunehmend unabhängig von der instabilen Peripherie. Würden Atombomben auf Städte geworfen, wenn es denn nur einen geeigneten Anlass gäbe? Vielleicht. Wahrscheinlicher ist jedoch, denke ich, dass wir es in Zukunft vermehrt mit außer Kontrolle geratenen, gesetzlosen und warlordistisch-geprägten Peripherien zu tun haben könnten, deren Bevölkerung nichtsdestotrotz weiter nach Rohstoffen schürft oder auch in den Fabriken schuftet[1], um das Resultat ihrer Arbeit gegen die Brotkrumen einzutauschen, die ihr aus den stabilen Metropolen unter Vorhalt von Waffen dafür hingeworfen werden.

Ausbrechende Revolten in der Peripherie, sie sind das eine, aber wer die Herrschaft, die versuchen wird, diese Revolten zu verwalten, treffen will, die*der muss sich früher oder später in die Metropolen begeben, muss die Nachschublieferungen an die Fronten unterbrechen und einen Weg finden, die hochgerüstete, übermächtige, technologische Kriegsmaschinerie zu sabotieren, die die Revolten von den vielen Zentren der Macht fernhält. Jenen, die sich heute bereits in den Zentren der Macht befinden, die sich (noch) in den Metropolen bewegen können, könnte dabei die Aufgabe zufallen, die Tore aufzustoßen und die Barbaren in die Stadt zu lassen. Konkret kann das bedeuten, die Logistik der Herrschaft anzugreifen und lahmzulegen. Die Erfahrung, dass im Zweifel schlicht Fassbomben über Städten abgeworfen werden, in denen der Herrschaft die Kontrolle entgleitet, sie erteilt uns eine Lektion in Sachen Solidarität mit den Aufständen in der Peripherie. Es gilt, dem übermächtigen Hightech-Kriegsapparat zuzusetzen, wo wir ihm nicht in einer Frontlinie gegenüberstehen, denn dort wird er uns gemeinsam mit den übrigen Aufständischen zermalmen. Solidarität mit den Aufständen in der Peripherie, sie besteht heute vielleicht insbesondere darin, die Nachschublieferungen an die (nicht bloß militärischen) Streitkräfte der Herrschenden zu unterbrechen und den Aufständischen so die nötige Luft zu verschaffen.

Damit nicht nur die Polizeireviere der Peripherie brennen, sondern mit ihnen das gesamte Imperium und seine todbringende Produktion!


[1] Wie es etwa während des gesamten syrischen Bürgerkriegs der Fall war und ist; und dabei sollte nicht vergessen werden, dass es etwa auch ein zentrales Anliegen (wirklich nur angeblich) revolutionärer Kräfte wie der PYD war, die Erdölförderung in einem De-facto-Bündnis mit dem Assad-Regime aufrechtzuerhalten, und die Kontrolle darüber zu wahren; 2014 wurden etwa unter Aufsicht der YPG in der Region al-Hasaka rund 40.000 Barrel pro Tag gefördert; in ganz Syrien arbeiteten die Arbeiter auf den Ölfeldern je nach jeweiliger Vormachtstellung wechselnd als syrische Staatsangestellte, als Angestellte der Nusra-Front oder auch vom IS bezahlt, beinahe ohne Unterbrechung.


In diesem Text wird sich auf das Post-Covid-Riot-Prime-Manifest bezogen, das in Sunzi Bingfa #27 veröffentlicht wurde. Online kann es hier nachgelesen werden: https://sunzibingfa.noblogs.org/post/2021/08/23/post-covid-riot-prime-manifest/

Zum besseren Verständnis dieser Kritik empfiehlt sich die vorherige oder parallele Lektüre allemal.

Brandstiftungen an Test- und Impfzentren

Warum zündet man ein Test- oder Impfzentrum an? Nun, wer sich diese Frage heute noch stellt, muss entweder kürzlich erst aus seinem Dornröschenschlaf erwacht sein, oder aber auf einer der falschen Seiten stehen. Dass Testzentren Teil jener Infrastruktur sind, die durch die Erfassung von Inzidenzen und die Ausstellung von positiven wie negativen Testzertifikaten nicht nur den Legitimationsrahmen und die konkrete Umsetzungshilfe für die staatlich verhängten Einschränkungen und Schikanen sind, ist schon seit Langem offensichtlich. Und Impfzentren? Nun, spätestens seitdem ein allgemeiner Impfzwang in Aussicht gestellt wurde, ist klar, dass auch diese Infrastruktur notwendig ist, um die Einschränkungen und Schikanen durchziehen zu können. Die Frage ist also weniger, warum man Testzentren und Impfzentren anzündet, sondern vielmehr, warum es bisher so wenige gewesen sind, die den Flammen zum Opfer fielen. Allerdings haben Angriffe auf Test- und Impfzentren auch einen gewissen Makel: Mittlerweile sind diese Infrastrukturen so dezentral und zugleich so mobil und immer besser geschützt, etwa durch Wachpersonal und mancherorts sogar Polizeischutz, dass diese Angriffe letztlich wohl nicht in der Lage sein werden, sie signifikant lahmzulegen.

Nichtsdestotrotz haben uns die im folgenden dokumentierten Brandstiftungen an Impf- und Testzentren ein Lächeln auf die Lippen gezaubert.

Innerhalb weniger Stunden haben in der Nacht auf Sonntag, den 21. Dezember 2021 ein Container einer Corona-Teststelle in Ahaus und ein Testzelt, samt Container einer Teststelle im nahe gelegenen Gronau gebrannt. Es entstand jeweils ein Sachschaden in Höhe von rund 10.000 Euro. Auf in der Presse veröffentlichten Bildern lassen sich zudem die in Gronau am ausgebrannten Container des dortigen Testzentrums hinterlassenen Schriftzüge „Stop oder Tod“, sowie „La Libertad“ (etwa „Freiheit“) erkennen. Beide Teststationen hatten zuvor schon einmal gebrannt. In Ahaus hatten Unbekannte sogar schon zweimal die zur Teststelle umfunktionierten Baucontainer und Zelte angezündet. Einmal am 07. August 2021, hatte ein Müllcontainer gebrannt, nachdem er mutmaßlich in Brand gesteckt worden war, und Container, sowie Testzelt beschädigt, am 25. September dann, brannte der Container richtig. Das Feuer vernichtet rund 1000 Tests. Dieses Mal war Presseinformationen zufolge ebenfalls der Schriftzug „Stop oder Tod“ hinterlassen worden.

In einer Sommernacht Anfang Juli 2021 hatten drei Männer in der Reutlinger Innenstadt einen für Corona-Tests genutzten Pavillon in Brand gesteckt und sich dabei gefilmt. Es entstand ein Sachschaden um die 1000 Euro. Leider wurden die drei von den Bullen erwischt und von einem übereifrigen Richter wegen gemeinschädlicher Sachbeschädigung verurteilt.

Es müssen ja auch nicht immer „politische“ Motive sein. Schon ein bisschen Langeweile machte schließlich die Meisten von uns schon des Öfteren zu Brandstiftern. Und warum auch nicht? Ist Langeweile nicht ein genausoguter Grund wie jeder andere? In Mannheim jedenfalls gaben eine Frau und ein Mann, nachdem sie am 26. Oktober 2021 von den Bullen aufgegriffen wurden, nachdem sie ein Testzentrum angezündet hatten, an aus Langeweile gehandelt zu haben. Ein kleines Feuer gegen die sterile Langeweile, man hat nicht gelebt, wenn man es nicht wenigstens einmal ausprobiert hat …

Am 22. November brannte es in Graz. Eine zur Teststation umfunktionierte Holzhütte neben einer Apotheke wurde aufgebrochen und darin ein Brand gelegt.

Ein Impfzentrum brannte am 14. September 2021 im sächsischen Treuen. Drei Unbekannte sollen Bierflaschen mit einer brennbaren Flüssigkeit auf das Gelände geworfen haben. Weil die Brandsätze nicht richtig gezündet hatten, hielt sich der Schaden in Grenzen. Ein auf dem Gelände eingesetzter Wachmann konnte diesen Angriff auch nicht verhindern. Die Angreifer warteten einfach ab, bis er sich auf die andere Seite des Geländes begab und schlugen dann zu.

Bereits im April, genauer gesagt, am Ostermontag, hatten Unbekannte wohl versucht, ein Testzentrum in Berlin-Tiergarten in Brand zu stecken. Weil das Feuer wohl von selbst wieder erlosch, konnten am nächsten Tag nur ein paar kleinere Schäden an Container und Zelt bestaunt werden.

Ebenfalls beim Versuch blieb es am 15. Dezember 2021 in Landshut. Mithilfe eines auf das Gelände geworfenen Bengalos hatte wohl jemand versucht, ein dortiges Testzentrum abzufackeln. Der Bengalo erlosch jedoch, ohne dass es zum Brand kam.

Erfolgreich war dafür eine Brandstiftung in einem Testzentrum in Wiesbaden in der Nacht auf Donnerstag, den 02. Dezember 2021. Rund 30.000 Euro Sachschaden entstanden bei einem Brand in einer Teststelle von CoviMedical. Ein am Tatort hinterlassenes Communiqué erklärt die Antifaschistische Gesinnung der Brandstifter*innen:

Es fing nicht mit
Gaskammern an.
Es fing mit einer Politik an, die von
WIR
gegen DIE sprach.
Es fing mit Hetze
und Intoleranz an.
Es fing mit der
Aberkennung von Grundrechten an.
Es fing mit
Menschen an, die einfach
wegschauten.

Darunter findet sich ein durchgestrichenes Hakenkreuz.

Dass es nicht immer gleich den Griff zum Feuerzeug braucht, um ein Impfzentrum lahmzulegen, das bewies ein findiger Internetnutzer im Brandenburgischen Wandlitz. Er vereinbarte einfach rund 150 Termine und gab dabei nicht existente Personaldaten an. So war das Impfzentrum für einen Tag ausgebucht. Das Personal wartete, aber keine*r kam. So leicht das Ganze auch scheinen mag und so harmlos es klingen mag: Dass die Bullen wenige Tage nach dieser Sabotage einen Tatverdächtigen festnahmen und irgendeinen Strafparagraf aus dem Hut zauberten, sollte eventuelle Nachahmer*innen dazu ermahnen, Anonymisierungsdienste wie beispielsweise Tor zu nutzen und das Ganze nicht vom eigenen Computer aus zu machen. Vielleicht kann man ja mancherorts auch per Anruf aus Telefonzellen Termine mit Fake-Daten vereinbaren.

Und als eine Art allgemeine Erinnerung: Nicht bloß Test- und Impfzentren können angegriffen werden. Nachdem im Herbst 2020 bereits das Robert-Koch Institut in Berlin sein Fett weg, bzw. Molotow-Cocktails abbekam, traf es Ende Dezember 2021 das Bremerhavener Gesundheitsamt. Auf in den Medien veröffentlichten Bildern ist ein teilweise zerborstenes Fenster zu sehen, an dem die Rußspuren von Brandsätzen zu erkennen sind. Ein größerer Schaden blieb jedoch leider aus.

Alles in bester Ordnung

Das zügellose Ich – und das sind wir ursprünglich und in unserem geheimen Inneren bleiben Wir’s stets – ist der nie aufhörende Verbrecher im Staate. Der Mensch, den seine Kühnheit, sein Wille, seine Rücksichtslosigkeit und Furchtlosigkeit leitet, der wird vom Staate, vom Volke mit Spionen umstellt. Ich sage, vom Volke! Das Volk – Ihr gutherzigen Leute, denkt Wunder, was Ihr an ihm habt – das Volk steckt durch und durch voll Polizeigesinnung. – Nur wer sein Ich verleugnet, wer „Selbstverleugnung“ übt, ist dem Volke angenehm.

Polizeigewalt

Als am 25. Mai 2020 der schwarze George Floyd bei einer Polizeikontrolle von den Cops getötet wird, wird in den etablierten wie weniger etablierten Medien eine vermeintlich ungewöhnlich radikale Frage diskutiert: Sollte man die Polizei nicht besser abschaffen oder zumindest radikal abbauen? „Defund the Police“, „Kürzt der Polizei die Mittel“, diese Forderung geistert durch die Medien, und Minneapolis, die Stadt, in der George Floyd getötet wurde, kündigt an ihre Polizeistruktur grundlegend umzubauen. Damit wird eine Forderung populär, die von diversen schwarzen linken Organisationen in den USA wie „Black lives matter“ oder der Initiative „A World without Police“ sowie anderen Vertreter:innen der abolitionistischen Bewegung [1] bereits seit Jahren propagiert wird. Polizei und Gefängnisse müssten erst „abgeschafft“ werden, ehe sie reformiert werden könnten, meint beispielsweise Mariame Kaba, abolitionistische Aktivistin, unter anderem Direktorin des Project NIA, einer Organisation zur Beendigung von Jugendinhaftierungen. Mehr Geld für Sozialarbeit und psychologische Krisenhilfe fordern demokratische Reformisten wie letztens auch die Grüne Jugend. Die Polizei habe zu viele Zuständigkeiten, die sich durch andere Institutionen und Ansätze besser lösen ließen, wie etwa wenn es um den Umgang mit Drogen, Obdachlosigkeit und psychischen Erkrankungen geht.
Radikalere Abolitionist:innen wie etwa A World without Police – die gleichnamige Broschüre aus dieser Initiative wird beispielsweise von ABC Wien verbreitet [2]– haben da eine größere Vision:

Die einzige Möglichkeit, Polizeigewalt zu beenden, ist die Polizei als Ganzes abzuschaffen – als Teil einer revolutionären Veränderung der Gesellschaft, die den vorhandenen Wohlstand und Ressourcen auf alle verteilt.

Die Abschaffung der Polizei und des Knastes wird dabei nicht isoliert betrachtet, sondern formuliert die Sehnsucht nach einer befreiten Gesellschaft, in der die Abschaffung der Polizei nur ein Teilaspekt eines radikal anderen Miteinanders sein soll. Teil dieser Utopie ist dabei immer die Suche nach „Alternativen“ zu Polizei und Knast, um die „Sicherheit“ und den „Schutz“ der Menschen zu gewährleisten. Ob Grüne Jugend oder A World without Police, die etwa die Polizeikräfte „durch Systeme gemeinschaftlicher Sicherheit und Konfliktlösung“ ersetzen wollen, konkreter beispielsweise durch „basisdemokratisch aufgestellte Sicherheitsteams, in denen diejenigen das Sagen haben, die auf Schutz angewiesen sind“, es braucht einen Ersatz für das, was die Polizei aktuell leistet oder leisten soll.

Doch was bedeutet das, wenn ich nach „Alternativen“ zur Polizei suche? Was ist es, was ich erhalten will? Was ist „die Polizei“ überhaupt? Wo kommt sie her, was sind die Ideen und Vorstellungen, die dahinter stehen? Gibt es da wirklich etwas, das erhaltenswert ist? Oder muss die Polizei in ihrer Gesamtheit zerstört werden? Aber was bedeutet das? Ich möchte im Folgenden versuchen, diese Fragen zu erkunden. Dabei geht es mir nicht nur darum, den propagierten Reformismus der abolitionistischen Bewegung zu kritisieren, sondern ich möchte versuchen tiefer zu gehen, der Essenz der Idee der „Polizei“ nachzuspüren und mir die Frage stellen, worauf wir uns eigentlich beziehen, wenn wir über die „Polizei“ reden, und zu entlarven, dass die „Polizei“ – nicht nur als der berühmte Bulle im Kopf – unsere Vorstellungen eines menschlichen Miteinanders so tief durchdrungen hat, dass auch eine Welt ohne Polizei in den allermeisten Fällen eine polizierte Welt sein wird.

Dabei möchte ich keine einheitliche Geschichte der Polizei erzählen, keinen Entwicklungsstrang, keine Erzählung irgendeines „Fortschritts“ oder „Antifortschritts“, sondern eher Fragmente sammeln, Diskurse und Ideen wie auch Geschichten über die Polizei und das Polizieren.

Polizeigeschichten

Der Begriff der „police“ oder „Policey“ taucht erstmals im 15. und 16. Jahrhundert im Heiligen Römischen Reich, Frankreich und England auf. Er leitete sich vom Altgriechischen ab, vom Begriff „politeia“ und ist damit mit der griechischen „polis“, den antiken Stadtstaaten, verbunden und mit dem Begriff der „Politik“ eng verwandt. „Polis“ heißt übersetzt einfach „Stadt“ oder „Staat“, was im antiken Griechenland identisch war. „Politik“ bezeichnete in den antiken Stadtstaaten all diejenigen Tätigkeiten und Fragestellungen, die das Gemeinwesen – also die Polis – betrafen. Interessant ist hier das berühmteste Werk des griechischen Philosophen Plato, die Politeia, zu betrachten. In der Politeia diskutiert Plato darüber, inwiefern Gerechtigkeit in einem idealen Staat hergestellt werden kann. In Platos idealem Staat soll die Bevölkerung aus drei Ständen bestehen: den Bauern und Handwerkern, den Kriegern oder Wächtern und den „Philosophenherrschern“. Dabei sind die Wächter diejenigen, die den Staat bewachen sollen. Sie sollen den Staat nach außen wie nach innen verteidigen – nach heutigen Begriffen sollen die Wächter also militärische wie polizeiliche Aufgaben erfüllen –, wenn auch darauf zu achten sei, dass die Wächter nicht zu unterdrückerisch gegen die eigene Bevölkerung vorgehen dürften. Den Staat zu verteidigen bedeutet bei Plato auch, eine optimierte Stabilität dieses Staates herzustellen – was etwa beinhaltet dafür zu sorgen, dass die Bürger immer in einer optimalen Anzahl an Menschen für den Staat vorhanden sind, aber auch dass kulturelle „schädliche Neuerungen“ von den Bürgern ferngehalten werden müssten, also in die Fortpflanzung der Bürger im Sinne des Staates einzugreifen und alles, das die Menschen von ihrer Subjektivierung als Bürger entfernt, von diesen fernzuhalten.

Die „Policey“ des 15. und 16. Jahrhunderts – wenn auch noch nicht allgemein definiert und teilweise unterschiedlich verwendet – umfasste meist – angelehnt an die „Politik“ der Polis – einen Zustand der guten, allgemeinen Ordnung eines Gemeinwesens sowie einer allgemeinen „Wohlfahrt“ und „Sittenaufsicht“. So wurde 1530 in Augsburg eine „Reichspolizeiordnung“ beschlossen, die neben dem, was wir auch heute noch in Strafgesetzbüchern finden, auch Dinge wie Gotteslästerung, Fluchen und Schwören, Trinken, die ständische Kleiderordnung, Trompeter und Spielleute, Betteln und Müßiggang oder den Verkauf unterschiedlicher Waren wie etwa Ingwer regelte und für die Nichtbefolgung konkrete Strafen festlegte. Dabei gab es aber noch keine Institution der „Polizei“, die dafür sorgte, dass diese Regeln eingehalten werden, sondern es gab eine Fülle an unterschiedlichen Umsetzungen und Zuständigkeiten. So hatten die Zünfte in den Städten etwa häufig eigene, konkurrierende „Polizeien“, die dann mit den städtischen Wachen in Konflikt gerieten. Vielerorts übernahmen Söldner – häufig ehemalige Soldaten – die oftmals sehr niedrig angesehene Aufgabe, andere Menschen zu drangsalieren, oft waren es auch feudale Garden und Wachen, die über die Einhaltung solcher „Ordnungen“ wachten.

Die Verteidigung des Eigentums insbesondere reisender Kaufleute und der Adligen war ein wichtiger Bestandteil früher Polizeiarbeit, der Kampf gegen „Müßiggang“ und „Bettelei“ ein anderer. In der Schweiz – wenn auch nicht nur da – spielte der Kampf gegen nicht sesshafte, umherwandernde Menschen – da deutlich schwerer kontrollierbar und eine Gefahr für Eigentum und Leben insbesondere der reichen Kaufleute und Adligen –, wie „Zigeuner“, Räuberbanden, Vaganten, Fahrende und Bettler eine wichtige Rolle für die Entwicklung der frühen Polizei. Ehemalige Soldaten sollten als sogenannte „Landjäger“ das „Gesindel“ vertreiben. Im 17. Jahrhundert übernahmen im Heiligen Römischen Reich „Vogte“, niedere Adlige, die Etablierung einer „guten Ordnung“. Wachleute und Nachtwächter übernahmen dann die Aufgaben, etwa zu kontrollieren, ob sich jemand im Wirtshaus nicht an die Tischmanieren hielt oder sich nicht seines Standes gemäß kleidete. In den USA waren die Vorläufer der modernen Polizei ab circa 1700 sogenannte „slave patrols“, Sklavenpatrouillen, die Sklavenrevolten niederschlagen und geflohene Sklav·innen wieder einfangen sollten.

Das moderne Konzept der Polizei als vom Staat bezahlte und geförderte Beamte wurde von deutschsprachigen und französischen Juristen und Beamten im 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts entwickelt. Einflussreich war Nicolas Delamares Traité de la Police von 1705, ebenso wie die von Philipp von Hörnigk entwickelte Polizeiwissenschaft. Einer der bedeutendsten Theoretisierer der Polizei ist Johann Heinrich Gottlob von Justi, der 1756 die „Grundsätze der Policey-Wissenschaft“ folgendermaßen definiert:

“In weitläuftigem Verstande begreifet man unter der Policey alle Maaßregeln in innerlichen Landesangelegenheiten, wodurch das allgemeine Vermögen des Staats dauerhaftiger gegründet und vermehret, die Kräfte des Staats besser gebrauchet und überhaupt die Glückseligkeit des gemeinen Wesens befördet werden kann.”

Aufgabe des Staates sei, dass er das größtmögliche „Glück“ für die größtmögliche Anzahl seiner Bürger ermögliche. „Polizei“ bzw. ius politiae (Polizeigewalt) erwuchs zum wichtigsten Bestandteil der einheitlichen absoluten Staatsgewalt. Die Polizei sei wichtigstes Instrument zur Gewährleistung der „Herrlichkeit“ des Staates. Sie vergrößere die Stärke des Staates, während sie diesen in guter Ordnung halte. Gleichzeitig solle sie das „Glück“ aller Staatsbürger fördern. Sie solle sich nicht nur um die Durchsetzung von Gesetzen kümmern, sondern sei auch für die öffentliche Gesundheit, die Stadtplanung und die Überwachung von Preisen zuständig – ganz im Sinne von Platos Politeia. Alle möglichen Aspekte im Leben eines Untertans wurden immer umfassender reguliert. Resultat dieser Ideen war der absolutistische „Wohlfahrtsstaat“ des 17. und 18. Jahrhunderts, heute besser bekannt und verrufen als „Polizeistaat“.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts kam Kritik am Polizeistaat auf. Der Bürger dürfe „nicht zu seinem Glück gezwungen werden“. Die Aufgabe der Polizei liege ausschließlich in der sogenannten „Gefahrenabwehr“ und der Verhinderung von Straftaten. Wohlfahrtspolizeiliche Ziele müssten dabei aber nicht etwa aufgegeben, sondern lediglich eingeschränkt bzw. an andere Institutionen ausgelagert oder anders realisiert werden. Die französische Revolution organisierte die Polizei in diesem Sinne vollkommen neu und lieferte die Basis für das bis heute bestehende Verständnis und die Organisation von Polizeiarbeit:

„Die Polizei wird eingesetzt, um die öffentliche Ordnung, die Freiheit, das Eigentum, die individuelle Sicherheit aufrechtzuerhalten. Ihre Haupteigenschaft ist die Wachsamkeit. Die Gesellschaft betrachtet als Masse ist Objekt ihrer Fürsorge.“

Umgesetzt wurde diese Beschränkung allerdings noch lange nicht, weder in Frankreich noch in deutschsprachigen Gegenden. Erst mit der Weimarer Republik wurde dies im deutschsprachigen Raum mehr oder weniger umgesetzt. Im NS erweiterten sich die Befugnisse der Polizei massiv und eine neue Form des absolutistischen Polizeistaats, der totalitäre Polizeistaat, zum „Schutz der deutschen Volksgemeinschaft“ erschaffen. Nach der Niederlage 1945 erstand die Polizei in der Bundesrepublik in der heute bekannten Form wieder auf (übrigens mit weitreichenden personellen Überschneidungen, ebenso wie es bereits beim Übergang der Weimarer Schutzpolizei zur nationalsozialistischen Polizei der Fall gewesen ist. Aber das nur am Rande). In der DDR hingegen war die Polizei nun für den „Schutz der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung“ zuständig, mit den allseits bekannten polizeistaatlichen Konsequenzen.

Polizeivorstellungen

Was können wir aus diesen Geschichten und Fragmenten herausdestillieren? Was macht die Polizei aus? Auch wenn die Polizeiidee einer Entwicklung und einem Wandel unterworfen war, denke ich, dass sich gewisse Grundvorstellungen bereits herauskristallisieren.

So gehört zur „Polizei“ grundlegend die Vorstellung eines „Gemeinwesens“ oder einer „Gesellschaft“, die Vorstellung von etwas Kollektivem also, das über dem einzelnen Individuum steht, das die an einem Ort befindlichen Menschen gänzlich und unfreiwillig umfasst und eine abstrakte Gesamtheit bildet, die durch „schädliches“ Verhalten Einzelner innerhalb oder außerhalb dieses kollektiven Gebildes Schaden nehmen könnte, was wiederum zum Schaden aller gereichen würde. Deshalb muss das einzelne Individuum diesem übergeordneten Kollektiv untergeordnet werden und eine formelle Struktur gebildet werden, etwa einen Staat, um dieses „Gemeinwesen“ zu schützen. Die Verteidigung dieser Struktur gegenüber äußeren wie inneren Feinden, die „dauerhafte Gründung und Vermehrung des Vermögens des Staates“, die Herstellung einer Stabilität dieser Struktur ist dabei ein, vielleicht auch erstes Ziel der Polizeiarbeit. Das bedeutet, dass kollektives wie individuelles Verhalten, das diese Struktur gefährden könnte, bekämpft werden muss. Das Individuum spielt dabei keine Rolle, nur die „Masse“ wird dirigiert, als entindividualisierte Zellen des „Gemeinwesens“, die verwaltet und wie Schachfiguren an die richtige Stelle platziert werden müssen. Wir können das Bild dieses „Gemeinwesens“ durchaus organisch betrachten. In Leviathan, einem äußerst einflussreichen staatstheoretischen Werk der Aufklärung, beschreibt Hobbes den Staat als einen riesigen, einheitlich handelnden Körper, zusammengesetzt aus zahlreichen Menschen, die diesen Riesen mit ihren Handlungen zum Leben erwecken. Betrachten wir den Staat als ein solches Ungetüm – und der moderne Staat ist auf jeden Fall damit halbwegs treffend beschrieben –, dann muss dafür gesorgt werden, dass seine Bestandteile, oder in der modernen Variante der Körpervorstellung seine „Zellen“ ihre Aufgaben erfüllen, die diesen Riesen zum Leben erwecken, d. h. sie können nicht die Freiheit haben zu tun und zu lassen, was sie wollen. Um seine „Zellen“ zu einer für den Leviathan notwendigen Disziplin zu bewegen, braucht es eine Identifizierung der Staatssubjekte mit ihrem Staat. Unterschiedliche Methoden können dabei angewandt werden. Eine ist die Diffamierung individueller Freiheit, des ungezügelten Ichs, als „Egoismus“ und die Propagierung der Aufgabe dieser individuellen Eigenheit zum Wohle einer abstrakten und damit beliebig mit Inhalt befüllbaren „Gemeinschaft“ – genannt „Altruismus“. Eine andere ist den dem Staat unterworfenen „Zellen“ einen Nutzen durch die Teilhabe zu versprechen.

So ist Teil der Polizei-Vorstellung auch, dass der Staat oder eine andere Struktur in der Lage seien, dieses „Gemeinwesen“ zu verbessern, indem dieser die Beziehungen von Menschen und anderen Lebewesen auf eine „gute“ Art und Weise „ordnet“ und so das „Glück“ der meisten befördern würde, der „Wohlfahrt“ dienen würde. Was „Glück“ oder „Wohlfahrt“ dabei sein soll, bestimmen natürlich jene, die in diesem Konstrukt das Sagen oder Einfluss haben, ebenso wie sie bestimmen, wer genau davon wie „profitieren“ solle und wie diese „Ordnung“ auszusehen hat. Diese „Ordnung“ wird in dieser Erzählung einem furchterregenden „Chaos“ gegenübergestellt. Hobbes etwa stellt seinen Staat einem staatenlosen „Naturzustand“ entgegen, der, gemäß seiner Vorstellung, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf sei, als einzige Schlachterei unter den Menschen beschrieben wird – ein erstaunlicher Vergleich, schließlich wäre es zumindest mir neu, dass Wölfe ein solches Verhalten an den Tag legen würden. Nur ein Staat könne mithilfe der Errichtung eines Gewaltmonopols und durch Zwang auferlegte. für alle verbindliche Regeln, sogenannte Gesetze, diesen „Urdrang“ des Menschen bändigen. Nur durch die auferlegte Herrschaft des Leviathan, vor der sich jeder fürchte, könne jeder ohne Furcht vor seinem Nächsten leben und so erst zu Freiheit und Autonomie gelangen. Diese Verdrehung, die ich nicht anders als mit dem berühmten und überstrapazierten Satz aus Orwells 1984 , „Freiheit ist Sklaverei“ zusammenzufassen vermag, setzt sich in der beständigen Panikmache vor diversesten „Gefahren“ fort, etwa altbekannt die vor Mördern, Vergewaltigern und Kinderschändern, aber auch die vor Terroristen, Islamisten oder neuerdings die vor einem Virus. Gleichzeitig werden die Menschen davon entwöhnt, ja es wird ihnen sogar verboten, ihre Konflikte und sonstige Widrigkeiten direkt und selbst zu klären oder auszutragen. Das führt sogar so weit, dass – zumindest in Deutschland – Menschen die Cops rufen, wenn ihre Nachbarn zu laut sind, anstatt dass sie einfach selbst hingehen, um den Konflikt direkt mit diesen auszutragen. Durch diese bewusst herbeigeführte „Hilflosigkeit“ der Menschen und dem geschürten, manchmal trotzdem nicht einmal real vorhandenen „Sicherheitsbedürfnis“, das dann wiederum nur der Staat befriedigen und nur er für Schutz sorgen könne, wird dann die Unterwerfung der Individuen gerechtfertigt und sogar als Freiheit verkauft.

Polizeimethoden

Irgendwo sind alle diese Ideen einfach nur Blabla, um die Herrschaft derjenigen, die mithilfe der geschaffenen Struktur gefestigt und aufrechterhalten werden soll, zu legitimieren und die eigenen Vorstellungen, wie Menschen zu leben haben, durchzusetzen, sowie die Handlungen der dieser Herrschaft unterworfenen Menschen so zu beeinflussen oder zu bestimmen, dass sie der eigenen Machterhaltung und dem eigenen Profit dienen. Das bedeutet nicht, dass diejenigen, die die Gestaltung dieser „Ordnung“ mitbestimmen oder grundlegend setzen, nicht tatsächlich daran glauben, eine für alle „gute Ordnung“ zu entwerfen. Doch egal ob aus reiner Machtgeilheit oder aus Philanthropie, beide eint, dass sie andere Menschen in eine „Ordnung“ bringen wollen, die ihren Zielen entgegenkommt, dass also auf die Menschen Einfluss genommen werden müsse, etwa bei Plato Geburten kontrolliert und Zensur betrieben werden müsse, damit die Menschen auf eine die Ordnung aufrechterhaltende und dieser Ordnung entsprechenden Art und Weise handeln. Viele Kritiker des kapitalistischen demokratischen Nationalstaates werfen dieser Ordnung vor, das Versprechen darauf das größtmögliche Wohl für alle herzustellen, nicht zu erfüllen, und stellen ihm ihre eigene Utopie einer Ordnung entgegen, von der angeblich tatsächlich alle profitieren würden und die die größtmögliche Freiheit für alle etablieren würde.

Womit wir es bei dieser Art der Kritik also zu tun haben, ist eine Kritik an den Methoden und der Form, jedoch keine grundsätzliche Verwerfung von (An-)Ordnungsvorstellungen. Da sind sie nicht die einzigen, denn es gab immer viel Diskussion hinsichtlich der Methoden und Mittel zur Durchsetzung oben genannter Ziele und wieviel (physischer) Zwang und Strafe dabei eingesetzt werden sollte oder dürfe. Bereits Plato wollte nicht, dass die „eigene Bevölkerung“ zu sehr von den Wächtern unterdrückt werde, aber ein bisschen dann doch, kaschiert als das angeblich dialektische Verhältnis zwischen „Freiheit“ und „Sicherheit“, zwischen denen man eine optimale Balance finden müsse.

Während etwa in feudalen Zeiten „polizeiliche“ Institutionen ebenso wie Gerichte und Strafen auf die sichtbare und öffentlich zelebrierte körperliche Bestrafung verbotenen Verhaltens, auf das Schauspiel der Zerstörung des Körpers des Delinquenten setzte und die „Ordnung“ häufig mithilfe von offener physischer Gewalt durchgesetzt wurde, setzte mit der Aufklärung eine „Humanisierung“ und Subtilisierung dieser Kontrollinstrumente ein, die sich zukünftig nach wissenschaftlichen, „vernünftigen“ und demokratischen Prinzipien organisieren sollten. „Willkürliche“ Herrschaft und Strafen, die härter waren als das, was die Person verübt hatte, passte den protestantischen Aufklärern nicht. Mit der Absetzung der Aristokratie als die herrschende Klasse und der Emanzipation des Bürgers, der Bourgeoisie, als neue herrschende Klasse musste ein anderes Herrschaftsverhältnis her, eines, das vermeintlich auf Vernunft basierte. Die auch heute noch auf den Grundsätzen der Aufklärung basierenden polizeilichen Institutionen erheben den Anspruch, ihre Tätigkeit an gewissermaßen „objektiven“ Kriterien zu orientieren, die philosophisch und demokratisch entwickelt wurden, um ein Zusammenleben zu sichern, das im Sinne zumindest der Mehrheit bzw. der meistmöglichen Anzahl an Menschen sei.

Der Staat solle dabei das Instrument zur Durchsetzung dieser Vernunft sein. Dabei wird scheinbar jeder gleich machtlos angesichts verschriftlichter Vorschriften und Gesetze. Ein Cop hält sich nur an die Vorschriften, ein Richter ans Gesetz. Ein jeder orientiert sich an einer leblosen Sache, die weil sie leblos ist, als höhere Sache gilt, der man sich ja auch nur unterwirft. Ein jeder nur ein Rädchen in einem System, das vorgeblich dem Wohl aller dient. Ganz im Sinne von Hobbes‘ Leviathan. Gott – herrschaftliche Legitimationsstrategie vor der Aufklärung – heißt nun Vernunft und Wissenschaft.

Außerdem verschiebt sich der Fokus auf die „Prävention“ unerwünschten Verhaltens anstatt der altbewährten Bestrafung – „es ist besser zu verhindern, dass Verbrechen überhaupt stattfinden anstatt sie zu bestrafen“, proklamierte etwa der utilitaristische Philosoph Jeremy Bentham – ebenso wie auf die „Resozialisierung“ aka Umerziehung von Menschen, die trotzdem gegen Regeln verstoßen, unter anderem mithilfe von nicht körperlich sichtbaren Bestrafungen, die je nach „Besserungsgrad“ minimiert werden können. „Die Strafe soll, wenn ich so sagen darf, eher die Seele treffen als den Körper“, bemerkte der Aufklärer de Mably 1789.

Im 19. Jahrhundert wird in Großbritannien die Strategie des „policing by consent“ entwickelt. Angesichts von Arbeiterstreiks und -aufständen, die teilweise dadurch verschärft wurden, dass die Cops zahlreiche Protestierende niederschossen, musste eine neue Strategie her. Der Begründer der Londoner Metropolitan Police Force, ein Politiker namens Peel, entwickelte 1829 das „policing by consent“, das zustimmungsbasierte Polizieren. Diese Idee sollte revolutionäre Bewegungen in reformistische verwandeln, die in der Polizei ihren Partner und nicht ihren Gegner sehen. Die Idee dabei war, dass je mehr die Leute sich selbst polizieren, umso weniger brutale Gewalt zur Durchsetzung der Staatsordnung aufgewendet werden muss.

„Die Polizei muss die willige Kooperation der Öffentlichkeit bei der freiwilligen Befolgung des Gesetzes sicherstellen, um in der Lage zu sein den Respekt der Öffentlichkeit zu sichern und aufrechtzuerhalten… Der Kooperationsgrad der Öffentlichkeit, der gesichert werden kann, senkt proportional die Notwendigkeit offene brutale physische Staatsgewalt anzuwenden.“

So beschreibt Peel seine Idee. Die Polizei darf also nicht als von außen aufgedrückte Unterdrückungs-, Überwachungs- und Kontrollstruktur wahrgenommen werden, sondern muss als Ausdruck des Gemeinwillens, als „Bürger im Dienste des Bürgers“ angesehen werden, an Gesetze gebunden wie alle und nur gegen diejenigen vorgehend, die sich nicht an Gesetze halten. In diesem Sinne steht auch das 1926 in der Weimarer Republik geprägte – und von Heinrich Himmler begeistert wieder aufgenommene und bis heute verbreitete – Motto „Die Polizei – dein Freund und Helfer“. Peel prägte auch den Satz: „Die Polizei ist die Öffentlichkeit und die Öffentlichkeit ist die Polizei“, denn die erfolgreichste Polizei ist diejenige, die die Gesellschaft so durchsetzt hat, dass sie eins mit ihr geworden ist, wo sich die Leute von selbst an die Regeln halten, ohne darüber nachzudenken, diese als selbstverständlich betrachten und andere daran hindern, diese Regeln zu brechen.

Polizeigesellschaft

Humanismus: die Kunst einem Monster Lippenstift aufzutragen und es dazu zu bringen ganz süß zu gucken, während man ihm weiche mitleidsgefärbte Kleider anzieht; die Kunst die eigene Verteidigung einer solchen Unmenschlichkeit menschlich erscheinen zu lassen.
Good cop bad cop

Seit dem 18. Jahrhundert, also eigentlich seit Beginn der Institutionalisierung der Polizei, wird darüber nachgedacht, auf welche Art und Weise die Anwendung physischer Gewalt minimiert werden kann, ohne dabei die Kontrolle über die Bevölkerung zu verlieren, um so die Akzeptanz der bestehenden Herrschaftsstrukturen und ihrer Regeln zu steigern. Die meisten Kritiken am Polizeistaat – damals wie übrigens auch heute – beschränkten sich darauf, dass es nicht Sache einer physische Gewalt anwendenden Institution sei, gewisse Dinge zu regeln, dass das „unmenschlich“ sei, sondern dass es andere Institutionen oder Ansätze gebe, die besser für die Regelung dieser Dinge geeignet seien. Welcher Dinge? Handlungen, Beziehungen und Situationen, die die „Ordnung“ stören könnten, etwa dadurch, dass die Befriedung der Bevölkerung nicht mehr funktioniert, es also Potenzial für Revolten gibt, oder dass die Mitglieder dieser Ordnung ihre Aufgaben nicht (mehr) erfüllen (können). So ist beispielsweise der „Kampf“ gegen Armut, Drogenmissbrauch oder Obdachlosigkeit – Beispiele derjenigen, die etwa mehr Sozialarbeiter für diese Angelegenheiten anstelle von Cops fordern – Versuche das Versagen des Glücksversprechens des Staates zu kaschieren oder aufzufangen, ebenso wie Revolten aufgrund von existenzieller Not zu verhindern und andererseits mithilfe von „Resozialisierungs“programmen etwa von Obdachlosen oder Drogenabhängigen diese in den Körper des Leviathan als nützliche Zellen zu reintegrieren.

„Polizei“ als Etablierung und Aufrechterhaltung einer „Ordnung“ umfasst die Einfügung der Subjekte des Leviathans in seinen Körper. Doch was bedeutet das konkret? Ein altes Synonym zur „Policey“ ist „Mannszucht“. Heute kennen wir noch das „Zuchthaus“, die „Züchtigung“ oder „züchtig“ zu sein. Dabei sind die „Züchtigung“ oder das „Züchtigsein“ Dinge, das wir meist mit vielleicht etwas veraltet wirkenden Erziehungsmethoden assoziieren. Ob veraltet oder nicht, können wir allerdings sagen, dass Erziehung eine ganze Menge mit der Polizei zu tun hat.

part. policiert, in gute bürgerliche ordnung (polizei) gebracht, wol eingerichtet; gebildet, gesittet, civilisiert
„Polizieren“, Grimms Wörterbuch

Wer poliziert ist, ist laut Grimmschen Wörterbuch „gebildet, gesittet, civilisiert“. Jemand Unpoliziertes ist also ungebildet, unzivilisiert, ungesittet. Wer eine „schlechte Erziehung“ genossen hat – oder, in moderneren Worten ausgedrückt, „einen niedrigen Bildungsstandard hat“ –, der läuft Gefahr eher „straffällig“ zu werden, sprich ordnungsgefährdendes Verhalten an den Tag zu legen. Eine gute Bildung und Erziehung ist ein wichtiges Anliegen für den Staat. Die „Erziehung“ ist auch begrifflich eng mit der „Zucht“ verwandt. Das mittelhochdeutsche zühter und das althochdeutsche zuhtari bedeuten ursprünglich „Lehrer“ oder „Erzieher“. Die „Policey“ als „Mannszucht“ dient als lebenslange Erziehungsinstanz. Wer schon einmal in einem Gerichtsprozess saß, kennt den erzieherischen Charakter der ganzen Veranstaltung. Erziehung ist nichts anderes als die Einschränkung der Handlungen des freien, ungezügelten Individuums auf die erwünschten, die in unserer Gesellschaft die des arbeitenden Bürgers sind. Polizei ist auch Schule, Erziehen ist Polizieren.

Doch kehren wir zur „Zucht“ zurück. In Victor Hugos Roman Les Misérables – Geschichte eines Brotdiebes, der nach neunzehn Jahren Zwangsarbeit versucht ein moralisch „besserer“ Mensch zu werden, dabei einen Industriestandort gründet und Bürgermeister wird, dessen Versuche sich zu „rehabilitieren“ aber immer dann scheitern, sobald die Menschen von seiner Vergangenheit erfahren – begegnen wir einem Bischof – der Seelsorger des Protagonisten, der durch seine Freundlichkeit diesen zur Moral bekehrt –, der beim Anblick von Bauern, die Brennesseln aus dem Feld herausreißen und daneben in der Sonne verdorren lassen, murmelt:

Meine Freunde, behaltet dies, es gibt weder schlechtes Kraut noch schlechte Menschen. Es gibt nur schlechte Gärtner.

Der Bischof weiß, wie nützlich Brennesseln sind und was man alles damit machen könnte und ist betrübt über die Dummheit der Bauern. Ebenso ist der Protagonist mithilfe von Fürsorge „bekehrbar“ und kann zu einem nützlichen Mitglied der Gesellschaft werden, was aber durch sein Stigma als ehemaliger Strafgefangener immer wieder von der Gesellschaft zunichte gemacht wird. Ich finde das ganze Buch sehr bezeichnend für die Idee, die hinter der Polizei steht sowie für gängige Polizeikritiken, und speziell die Brennesselszene in diesem Kontext äußerst interessant. Die Moral von der Geschicht‘: der Protagonist, die „Brennessel“ könnte und ist ein so nützliches Mitglied der Gesellschaft, doch dadurch, dass ihm die Vergangenheit nicht verziehen wird, kann er dieses Potenzial nicht ausleben. Auf andere „liberale“ oder „emanzipatorische“ Kritiken übertragen, ist das Argument, dass jeder Mensch Fähigkeiten habe, die für die Gesellschaft nutzbar gemacht werden könnten, und die Methoden der Institution der Polizei und der Strafjustiz seien dafür häufig nicht geeignet, teilweise schüfen diese auch erst die Probleme, die sie vorgeben zu lösen. Die Polizei sei häufig „ein schlechter Gärtner“, doch durch eine Umstellung der Methoden, etwa durch Güte, könnte der Garten Gesellschaft viel mehr erblühen und seine Elemente maximal nützlich verwertet werden. Vieles von dem, was als „Unkraut“ entfernt wird, könnte sehr wertvoll für die Gesellschaft sein.

Der Garten im Gegensatz zum wilden Wald oder zur wilden Ebene ist das passende Pendant zur Gesellschaft im Gegensatz zur Freiheit, zum wilden, ungezähmten, freien „Naturzustand“, den Hobbes so verteufelt. Der Garten ist die geordnete, kontrollierte Umgebung, in dem jede Pflanze, jedes Tier danach sortiert wird, ob es für den Zweck des Gartens nützlich ist oder bekämpft werden muss. Und auch hier kann der Gärtner sich irren, Nützliches zerstören und Schaden anrichten und ihm werden andere widersprechen und andere Theorien haben, wie der Garten in seiner ganzen Pracht erblühen kann, doch der Garten selbst bleibt unangetastet. So wie der Gärtner seine Blumen und Nutzpflanzen zieht, Regenwürmer ansiedelt, einen Kompost anlegt und die Schnecken vergiftet, so wird der neugeborene Mensch ge- – pardon erzogen und kultiviert, einer guten „Zucht“ bzw. „Erziehung“ unterworfen, er wird zivilisiert und domestiziert, er wird poliziert.

So gibt es viele Institutionen, „Fachbereiche“, Vereine und akademische Fakultäten, die sich mit der optimalen „Zucht“ der Menschen beschäftigen und sich darum streiten, welcher Dünger die besten Resultate bringt. Was ist die effektivste Methode, um unerwünschtes Verhalten zu eliminieren und erwünschtes zu produzieren? Wie lege ich den Garten am besten an, um das beste Resultat zu erzielen, wie erschaffe ich den Raum, indem am besten das gewünschte Resultat zutage tritt? Die Psychologie, die Pädagogik, die Verhaltensforschung und die Sozialwissenschaft, die soziale Arbeit, die Architektur – etwa durch das Entwerfen „sicherer“ Wohnviertel – haben erstaunliche Arbeit geleistet, um die Produktion erwünschten Verhaltens zu steigern. „Sanftere“ Methoden als der Knüppel verringern bei vielen den Widerstand spürbar. Die Forschungen in diesem Bereich mögen die Erkenntnis geliefert haben, dass das Polizieren mithilfe physischer Gewalt nicht immer das geeignete Mittel zur Verhaltenskontrolle ist, sondern mehr als „Mittel letzter Wahl“ gebraucht bzw. zumindest der Anschein dessen vermittelt werden sollte. Eine Trennung der „Unverbesserlichen“, derjenigen also, bei denen subtilere Methoden der Verhaltenskontrolle nicht funktionieren, von denen, die für andere Mittel anfällig sind, isoliert diese „aufständischen“/kriminellen Elemente und macht sie so leichter kontrollierbar.

In einem Verständnis der Polizei als Kriegsführung gegen das ungezähmte Individuum zur Herstellung des Bürgers und des Arbeiters muss auch die moderne Unterscheidung von Militär und Polizei infragegestellt werden. In anderen Ländern als Deutschland mag diese Unterscheidung eh lächerlich erscheinen, in denen das Militär immer dann zum Einsatz kommt, wenn die klassische Polizei und die anderen Institutionen nicht mehr in der Lage sind, das Verhalten ihrer Bürger zu kontrollieren – eine Intervention, die sicherlich trotz aller „antifaschistischen“ Lippenbekenntnisse auch in Deutschland bei einem Aufstand zu erwarten wäre. Moderne Militärstrategiepapiere sehen in der zunehmend globalisierten Welt mit zunehmend gefestigten Nationen ohnehin in der Aufstandsbekämpfung das militärische Aufgabenfeld des 21. Jahrhunderts, Polizei- und Militärstrategien und -technologien befruchten sich gegenseitig, greifen ergänzend ineinander. Das Militär kommt dann zum Tragen, wenn eine neue Ordnung etabliert werden soll, etwa durch eine militärische Besatzung, oder um eine spürbar ins Wanken geratene Ordnung wieder zu stabilisieren, also quasi um die ursprüngliche Besatzung zu wiederholen. Doch eine Ordnung kann sich besser festigen, wenn die Besatzung nicht mehr als solche empfunden wird. Die militärische Besatzung eines Gebietes wird von den meisten als Freiheitseinschränkung betrachtet werden und entsprechenden Widerstand hervorrufen. Aufgabe einer Polizei ist es, eine solche ursprüngliche Besatzung so weit zu subtilisieren und zu etablieren, dass sie als von den Bewohner·innen eines Gebietes als erwünscht und als Garantin ihrer Freiheit wahrgenommen wird. Während das Militär zumindest in bisherigen Konflikten häufig den Krieg zwischen Staaten oder sonstigen Machtgefügen geführt hat und Gebiete neu besetzt, führt die Polizei in einem dann bereits gefestigten Staatsgefüge einen sozialen Krieg gegen die immer potenziell widerständischen Menschen innerhalb dieser Staaten.

Polizeianarchie?

da jeder nur für sich will leben,
nichts zum gemeinen nutz hingeben,
da geht zu grund all policei.
Georg Rollenhagen (1542-1609), froschmevseler.

Wenn wir Polizei als das Herstellen einer guten Ordnung betrachten, und wir davon ausgehen, dass eine Ordnung nur durch die Kontrolle über die Handlungen der in diese Ordnung eingegliederten Menschen (und anderen Lebewesen) hergestellt werden kann, dann ist natürlich auch klar, dass jeglicher Versuch, eine Ordnung jedweder Art herzustellen, beinhalten muss, das Verhalten der Menschen der erwünschten Ordnung anzupassen, es anzuordnen, also zu polizieren. Dass die Errichtung eines Gemeinwesens, einer Gesellschaft die Einrichtung einer Polizei, egal wie diese genannt werden wird, zur Folge haben wird. Dass alle Versuche und Vorschläge der Reformierung wie auch der Abschaffung der Polizei neue Polizeien errichten.

In gewissen anarchistischen Kreisen werden viele identitätsbasierte Befreiungskämpfe positiv rezipiert, die das Aufstellen „eigener Sicherheitskräfte“ als die Lösung bzw. die Alternative zur Polizei propagieren. Schillerndstes aktuelles Beispiel ist da die „Asayish“, die Institution zur Etablierung der öffentlichen Sicherheit in Rojava, die gerne als ein solches gelungenes Beispiel der „eigenen“ Sicherheitskultur beworben wird. So erklärte der Verwalter der Rojava-Asayish Ciwan İbrahim 2016, die Asayish sei eine „Sicherheitsinstitution, die sich nicht über, sondern innerhalb der Gesellschaft verorte“. Man könnte meinen Ciwan İbrahim hätte Peel gelesen, den Erfinder der britischen „Bobbies“, aber auch wenn dem nicht so ist, fällt es mir schwer irgendeinen Unterschied zum peelschen „Die Polizei ist die Öffentlichkeit und die Öffentlichkeit ist die Polizei“ oder dem deutschen „Die Polizei – dein Freund und Helfer“ zu sehen. Doch sie unterschieden sich schon von den Sicherheitskräften der Staaten, beteuert Ciwan İbrahim, denn:

Zuallerst basiert unsere Sicht auf gesellschaftlichen Problemen, nicht auf „Verbrechen und Strafe“. Was wir im Allgemeinen erreichen wollen ist nicht nur ein Individuum in einem Strafgericht zu bestrafen und so eine temporäre Lösung anzuwenden. Unser tatsächliches Ziel ist es die Ursache dieses Problems herauszufinden und sie umzudrehen, um sie ineffektiv zu machen und es zu verunmöglichen sie in ein Verbrechen umzuwandeln. Zum Beispiel wenn es ein Diebstahls- oder Schmuggeldelikt gibt, dann finden wir die Organisatoren und zerschlagen das Netzwerk.

Revolutionär neu, behauptet Ciwan İbrahim. Ich muss sagen, dass mir speziell bei diesem genannten Beispiel kein bisschen klar wird, inwiefern diese Methode sich von „kapitalistisch-demokratischen“ Polizeitaktiken unterscheidet, schließlich wäre mir neu, dass beispielsweise Interpol und jede sich mit Organisierter Kriminalität beschäftigende Polizeieinheit nicht versuchen würde, die Organisatoren ausfindig zu machen und die Netzwerke zu zerschlagen. Doch auch wenn man über dieses genannte Beispiel hinwegsieht, so ist das Ziel der Asayish, „nicht nur“ zu bestrafen, sondern auch die Grundbedingungen zur Begehung von Straftaten zu beseitigen, absolut identisch mit den Theorien zum präventiven Polizieren aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Die Behauptung Ciwan İbrahims in den kapitalistischen Demokratien gehe es um nur um das Bestrafen von „Verbrechen“, ist einfach falsch, und wie wir gesehen haben geht es im modernen Polizeiverständnis ganz viel auch darum die Bedingungen zur Begehung von Straftaten zu eliminieren.

Zur Frauen-Asayish, die als das besondere Element der Asayish propagiert wird und die sicherlich auch denen gefällt, die sich wünschen, dass „Sicherheitsteams“ von denjenigen gestellt werden, die „auf Schutz angewiesen sind“ – wie es etwa die vom ABC Wien beworbene Broschüre „Eine Welt ohne Polizei“ vorschlägt –, möchte ich gerne mal ganz ketzerisch die Geschichte von der Weiblichen Kriminalpolizei (WKP) in Deutschland erzählen: Nachdem in Deutschland bereits seit 1903 von Frauenrechtsvereinen durchgesetzte sogenannte Polizeifürsorgerinnen Prostituierte und minderjährige Straftäter betreuten, Heimeinweisungen erließen, Sozialprognosen für Straffällige erstellten und sonstige mit dem Strafvollzug zusammenhängende Sozialarbeit verrichteten – begründet mit der besseren Eignung von Frauen zum Umgang mit diesen Gruppen (Jugendliche und erwachsene Frauen) aufgrund spezifisch „weiblicher“ Eigenschaften wie Fürsorglichkeit und Mütterlichkeit und der Kritik an einem spezifisch „männlichen Blick“ auf „sittlich gefährdete“ Mädchen und Frauen –, wurde ebenfalls auf Betreiben von Feministinnen hin 1926/27 die Weibliche Kriminalpolizei eingerichtet, die – ähnlich zu der Frauen-Asayish in Rojava – überwiegend für „sittenpolizeiliche“ Aufgaben – etwa der Umgang mit Opfern sexualisierter Gewalt, Prostituierten und minderjährigen Straftätern – zuständig war. Dass Frauen keine „besseren“ Cops sind oder sonstwie die Zugehörigkeit zu einer solchen Gruppe nicht dazu führt, dass die Polizei auf einmal eine ganz andere Institution wird, wie teilweise die Forderungen danach, dass Betroffene von Diskriminierung o. ä. Polizeiaufgaben übernehmen sollen, suggerieren, zeigt nichts eindrucksvoller – auch wenn ich es eigentlich müßig finde, mir überhaupt die Mühe zu machen auf eine solch absurde Behauptung einzugehen – als die Rolle der WKP im Nationalsozialismus. Die WKP übernahm im nationalsozialistischen Deutschland rassepolitische Aufgaben, beteiligte sich an der sogenannten Bereitstellung von Judentransporten wie auch an der Errichtung nationalsozialistischer Jugendheime in überfallenen Gebieten. Die lesbische Kriminaldirektorin Friederike Wieking – in den 20er Jahren in der Berliner Frauenbewegung aktiv und ranghöchste Polizeibeamtin im Dritten Reich – trug dabei etwa ab 1941 die Verantwortung für das Jugendschutzlager Moringen und ab 1942 für das Mädchenlager Uckermark – beides KZs für Jugendliche und junge Erwachsene. Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb die WKP als Institution erhalten – Einstellungsvoraussetzung war vorher einen sozialen Beruf erlernt zu haben – und wurde in den 70er Jahren aufgelöst und in die Kriminalpolizei integriert. Beispiele wie die Asayish oder andere Sicherheitsinstitutionen solcher „revolutionärer und emanzipatorischer Befreiungsbewegungen“, die als ein völlig neues Konzept und eine reale bessere Alternative zur Polizei beworben werden, erinnern mich einfach nur daran, wie die Sowjetunion das Gulag als einen wertvollen Schritt propagierte, um dem Ziel näherzukommen Gefängnisse abzuschaffen und die Menschen durch Arbeit zum Sozialismus zu führen.

Auch gewisse Konzepte der abolitionistischen Bewegung, wie etwa Community Accountability oder Transformative Justice, werden als Alternativen zur Polizei diskutiert. Besonders im Trend liegt dabei die deutsche Variante der Community Accountability, die sogenannten „Awareness-Teams“. Auf vielen anarchistischen Veranstaltungen ist man auf einmal mit ihnen konfrontiert, während sie teilweise sogar uniformiert, etwa in rosa Hemdchen, Warnwesten oder mit lila oder sonstwie kennzeichnender Armbinde – mmh, vielleicht waren es auch Buttons gewesen – über das Gelände patrouillieren. Die Kritik, dass sie polizieren würden, wird meist damit abgeschmettert, dass ein Awareness-Team nicht genauso organisiert und strukturiert sei wie eine Polizei. Eine solche Betrachtungsweise ist allerdings oberflächlich und ignoriert die Ideen, die zur Einrichtung einer „Polizei“, wie wir sie heute kennen, geführt haben. Wenn wir das Polizieren als Handlungen verstehen, die dazu dienen das Verhalten der Menschen so weit unter Kontrolle zu bringen, dass bestenfalls nur noch erwünschtes Verhalten zutage trete, dann zeigt das gerne vorgebrachte Argument, dass Awareness-Teams noch so lange nötig seien, bis die Menschen endlich alle „reflektiert“ seien, bis es sich von selbst abschaffen würde, dass offenbar Awareness-Teams als Teil einer Infrastruktur gesehen werden, die auf das Ziel hinarbeitet alle Menschen zu „reflektieren“. Was anderes aber als das Verhalten von Individuen zu polizieren soll dieses „Menschen reflektieren“ bitte sein? Andere argumentieren, dass ein Awareness-Team nur dazu da sei, eine Ansprechstelle zu schaffen, doch damit bildet es immer noch einen Teil in der Infrastruktur zur Verhaltenskontrolle und wir wissen ja, wie eng „soziale“ und „Wohlfahrts“institutionen mit der Polizei verknüpft sind und auch die praktischen Umsetzungen solcher Awareness-Strukturen haben diese Verknüpfung bisher nur immer wieder bestätigt.

Nur weil ich etwas einen anderen Namen gebe und an den Methoden schraube, bedeutet das nicht, dass ich das, was ich vorgebe oder auch meine zu bekämpfen, tatsächlich zerstört habe. Und solange ich unbedingt einen Garten möchte anstatt eines Urwalds, werde ich ordnend eingreifen müssen, um diesen Garten zu erhalten. Deshalb sehe ich auch alle „anarchistischen“ Konzepte, die in irgendeiner Form eine Gesellschaft errichten wollen, als problematisch an, da sie immer mit dem Problem konfrontiert sein werden ihre Ordnung einführen, erhalten und verteidigen zu müssen. Den ungezähmt geborenen Menschen mithilfe von „Bildung“ zum reflektierten Menschen, der für die Anarchie bereit ist, zu erziehen, wie es einige „Transformationstheorien“ propagieren, bedeutet die Zähmung des wilden Individuums und seine Unterwerfung. Mir scheint es auch kein Wunder, dass insbesondere bei Verfechter·innen solcher „anarchistischen Utopien“ die Grenzen zwischen Basis- oder Rätedemokratie und ihrer angeblich anarchistischen „befreiten Gesellschaft“ nicht klar gezogen sind, ja teilweise auch als Synonyme oder zumindest nicht als Widerspruch zu den eigenen Ideen behandelt werden. Sowieso gibt es ja die Vertreter·innen des Anarchismus, die behaupten Anarchismus sei die „echte“ oder „radikale Demokratie“ im Gegensatz zu den heutigen kapitalistischen Demokratien, in der die Menschen sich endlich „selbst verwalten“ könnten. Doch was kann ich von einer auch radikalen Demokratie, die sich selbst verwaltet, schon erwarten als dass ich mich im Zweifel selbst poliziere, auch wenn ich nicht denke, dass es dabei bleiben wird, wenn ich mir so die Konzepte von „antifaschistischen Schutzgruppen“ („Für eine neue anarchistische Synthese!“) oder „basisdemokratisch aufgestellten Sicherheitsteams“ („Eine Welt ohne Polizei“), von Transformative Justice und Awareness-Teams so ansehe, die für im Hier und Jetzt als auch „nach der sozialen Revolution“ diskutiert werden.

Wer die Herrschaft hasst, kann die Polizei nicht „ersetzen“, sondern muss sie zerstören. Dafür muss man aber auch bereit sein die Kontrolle aufzugeben. Die Kontrolle über andere Menschen wie über andere Lebewesen. Wir brauchen den Mut im Urwald zu leben anstatt uns in unseren Garten zurückzuziehen. Das meine ich absolut wörtlich. Ein ungezähmtes, freies Leben kann es nur außerhalb von Mauern und Zäunen geben, außerhalb der Gesellschaft, außerhalb der Zivilisation stattfinden. Heißt das, Freiheit kann es nur als Einsiedler alleine in einer Höhle geben? Ich denke nicht. Jedoch können Beziehungen meiner Meinung nach nur herrschaftsfrei bleiben, solange sie direkt zueinander möglich sind und solange eine Gemeinschaft nicht über das Individuum gestellt wird. Aber heißt das denn, dass ich mir alles von anderen gefallen lassen muss? Gegenfrage: Lässt man sich nicht viel mehr gefallen, wenn man sich einer (Selbst-)Verwaltung und Gesetzen unterwirft, gebildet und mithilfe von Massenkommunikationsmitteln mit Propaganda bombardiert wird und mit einer Umgebung konfrontiert ist, die sich durch ihre „sichere Architektur“ auszeichnet und einer Ordnung zur besten Ausbeutung der sogenannten „natürlichen Ressourcen“? So wie ich mich gegen eine solche Einschränkung meiner Freiheit zur Wehr setze, kann ich doch auch meine Konflikte selbst klären, kann diejenigen bekämpfen, die meinen mich als Individuum in ihren Plänen übergehen oder zerstören zu können. Die Kontrolle anderer über mich allerdings damit bekämpfen zu wollen diese anderen zuerst zu kontrollieren, Freiheit dadurch garantieren zu wollen, dass ich die Freiheit aller einschränke, ist sicherlich keine Anarchie. Anarchie ist halt doch Chaos und eben nicht Ordnung, wie gewisse sich vor Kontrollverlust fürchtende Anarchist·innen immer versichern.

Angesichts einer solch verinnerlichten Sehnsucht nach Kontrolle über jegliches Leben und den sich immer weiter verfeinernden Technologien und Theorien zur immer weiteren Subtilisierung und Verinnerlichung dieser Kontrolle sieht es erstmal düster aus. Doch da eine vollständige Determinierung aller Handlungen eines Individuums auch bei allen Versuchen totalitärster Methoden an den Individuen selbst scheitern, die sich nicht auf Maschinen reduzieren lassen, wenn es auch noch so sehr versucht wird, kann auch das Netz der Kontrolle nie so engmaschig werden, dass kein Widerstand mehr zutage treten wird. Ein Garten bleibt nur durch die beständige Intervention des Gärtners ein Garten. Also lasst uns nicht den Garten übernehmen und selbstverwalten, sondern töten wir den Gärtner in unserem Kopf und ziehen mutig in die Wildnis. Denn wie es Helfrich Sturz bereits im 18. Jahrhundert erkannte:

der policierte mensch ist … nicht so zufrieden mit seinem zustande als der wilde.

Endnoten

[1] Historisch war der Abolitionismus eine Bewegung, die sich für die Abschaffung der Sklaverei einsetzte und war unter anderem in den USA sehr stark. Mit Abschaffung der Sklaverei kämpften Abolitionist·innen in den USA weiter gegen die Unterdrückung der Schwarzen. Ein Fokus liegt dabei auf der Kritik am Knast, denn dort wird die Sklaverei häufig durch Zwangsarbeit ohne oder gegen geringfügigsten Lohn fortgeführt, insbesondere an Schwarzen, die in den USA (nicht nur da) überproportional oft im Gefängnis sitzen.

[2] [UPDATE] ABC Wien hat die genannte Broschüre inzwischen von ihrer Webseite gelöscht.


Spannende Lektüren bei Entstehung dieses Textes
  • „What is Policing?“ in: The Master’s Tools: warfare and insurgent possibility
  • „Good cop bad cop“ in: Cop-out. The significance of Aufhebengate
  • „Policing on the Global Scale. On the Relationship Between Current Military Operations, Crowd Control Techniques, the Technologies of Surveillance and Control and Their Increasing Intrusion into our Daily Lives“
  • „Ich will Bullen töten, bis ich selbst sterbe. Für die Annihilation der Polizei und die Zerstörung der Menschheit“
  • „Nicht Freund, nicht Helfer – Feind!“ in: Yegussa
  • „I survived Awareness“
  • „The Continuing Appeal of Nationalism“
  • „Fragmentarische Notizen gegen die Justiz“
  • „Der Einzige und sein Eigentum“

Übernommen von Zündlumpen #083.

Beim Maschinenstürmer Distro ist dieser Text kürzlich auch als Broschüre erschienen.

Ziele, die nirgendwo anders existieren

Ein Gegenvorschlag zu den überall existierenden Zielen und eine weitere Kritik an der Militarisierung des anarchistischen Angriffs

Wer kennt es nicht? Da möchte man endlich einmal etwas reißen, möchte mit den eigenen Taten endlich die soziale Revolution vom Zaune brechen. Man zieht also des Nachts los, alleine, zu zweit oder mit einer ganzen Gang an Kompliz*innen … und wenn man am nächsten Morgen erwacht, da muss man feststellen, dass es doch wieder einmal nur des Bonzen- oder Yuppie-Nachbars Auto gewesen ist, an dem man sich da vergangen hat, ja dass die sichtbaren Spuren der Tat bereits von der Stadtreinigung zusammengefegt wurden, vielleicht begegnet man sogar dem Nachbar selbst, der einen aus dem offenen Verdeck seines Zweit- oder Drittwagens freudig begrüßt, bevor er aufbricht, sich ein neues, schickeres Auto zuzulegen. Na gut, es ist vielleicht oft weniger der Bonzen-Nachbar, dessen Auto es erwischt und selbst wenn, so gibt es doch in der Regel wesentlich mehr Anlass zur Genugtuung, weil die Stadtreinigung mit einem ausgebrannten Autowrack doch etwas mehr überfordert ist und sich selbst die reichsten Bonzen doch ein klein wenig darüber ärgern, ja manchmal sogar ein klein wenig ängstigen, dass da jemand ihr Auto angezündet hat. Meist sind es ja eher die Autos irgendwelcher großen Konzerne, die global oder lokal an Gentrifizierung, Gefängnisbau, Kriegs-, Lager-, Grenz- und Abschiebeindustrie und manchmal auch am Ausbau des smarten, technologischen Gefängnis, in dem wir alle uns befinden, beteiligt sind. Und natürlich macht auch mein Herz einen Freudensprung wann immer ich ein ausgebranntes, geplättetes, bemaltes oder anderweitig demoliertes Fahrzeug dieser Art am Wegesrand erspähe, ja sogar wenn ich in einer anarchistischen Zeitung/Broschüre von einem nahen oder fernen Ort davon lese und manchmal sogar wenn ich in den noch nicht völlig belanglosen Weiten des Internets von einem solchen Ereignis erfahre. Und doch: Wenn ich den Vorschlag vernehme, “endlich die Grenzen des symbolischen Widerstands hin zu einem materiellen Schaden an der feindlichen Infrastruktur” zu überschreiten und diese Willensbekundung in diesem Kontext durch aufgelistete Brandanschläge gegen vor allem Fahrzeuge entsprechender Unternehmen als Beispiele eines praktischen Ausdrucks dieses Vorschlags (zu finden in der Broschüre “Targets that exist everywhere – a strategic proposal for building a common front against the profiteers of war and repression”) untermauert wird, dann beschleichen mich doch erhebliche Zweifel, inwiefern das erklärte Ziel auf diesem Weg überhaupt erreicht werden kann.

Tatsächlich habe ich mich schon oft gefragt, inwiefern bestimmte, immer wiederkehrende Angriffsziele – und dazu gehören die Firmenfahrzeuge der diversen Firmen, die als überall existierende Ziele ausgemacht werden, allemal – nicht vielmehr dazu beitragen, die Angriffe auf die Herrschaft zu ritualisieren, d.h. vor allem sie zu einer symbolischen Handlung werden zu lassen, die zwar vielleicht eine gewisse Wut, ein Nichteinverständnis, usw. auf eine relativ unvereinbare Weise auszudrücken vermag, die jedoch weit davon entfernt ist, materiellen Schaden von Bedeutung zu verursachen und die damit in gewissem Grad auch kalkulierbar, vorhersehbar, kompensierbar wird. Das bedeutet nicht, dass ein solcher Angriff keinen Wert hätte. Er kann einer*m selbst die Handlungsmacht oder, vielleicht auch nur eine andere Bezeichnung dafür, die eigene Würde wiedergeben, er kann andere ermutigen, er kann die richtigen Personen einschüchtern, verunsichern und zum Nachdenken anregen. Er kann sowohl den Unterdrückten, als auch den Herrschenden vor Augen führen, dass Akte des Angriffs immer möglich sind, egal wie kontrolliert und geordnet ein bestimmter Raum auch sein mag und es kann sich um eine Tat der Genugtuung, der Rache handeln. All das hat seinen Wert, all das kann in bestimmten Situationen sogar ein gigantisches Potential entfachen oder anstacheln, das in Aufständen und Revolten münden kann, selbst wenn sich das nur sehr selten vorhersagen lässt. Und doch ist ein brennender Transporter einer Knastbaugesellschaft, eines Logistikunternehmens, eines Fahrzeughändlers, eines Technologieunternehmens, usw., so sehr er auch Symbol für bestimmte Kämpfe sein mag, nur selten mehr als das, vermag nur selten die Abläufe so empfindlich zu stören, die Infrastruktur so gewaltig zu treffen, dass dadurch ein nennenswertes Aufbruchmoment entstünde oder auch nur entstehen könnte, dass die Logistik der Herrschaft entscheidend genug gestört wäre, Produktionshallen stillstehen, Baustellen nicht weiter voranschreiten und die Nachschublieferungen an die Frontlinien des Krieges und der Repression ausbleiben würden. So viel Realismus muss nun einmal sein, will man sich nicht in einer selbstreferenziellen, ideologisierten und ritualisierten Praxis verlieren.

Wo bleibt die Kreativität bei der Identifikation lohnenswerter Ziele, fragt man sich, wenn man die Seiten der “Targets that exist everywhere”-Broschüre durchblättert? Die Antwort scheint eine ansonsten unauffällige Bemerkung zu Beginn des Vorschlags zu liefern: “Es sollte uns nicht genügen, […] jedes Mal aufs neue nach passenden Solidaritäts-Aktionen zu suchen, sondern wir schlagen vor, die Informationen über die Feinde der Freiheit zu sammeln und diese so zu verbreiten, dass diese überall bekannt werden.” Aber warum sollten wir nicht stets aufs neue überlegen, wo wir mit unseren Angriffen ansetzen könnten? Einfach nur immer mehr derselben Ziele anzugreifen, mit den immer gleichen Methoden zudem, erscheint mir ein quantitatives Argument zu sein, das zudem außer Acht lässt, dass dies – auch wenn die Verfasser*innen der Broschüre das zu übersehen scheinen – eine in den vergangenen Jahrzehnten anhaltend ebenso wie relativ flächendeckend reproduzierte Strategie ist, die sich quantitativ ohnehin nur schwerlich steigern ließe und die zudem auch bisher nicht wirklich zum Zusammenbruch der Herrschaft führte. Dass etwa Firmen bestimmte Regionen meiden, weil sie dort angegriffen werden, mag auf den ersten Blick wie ein Erfolg wirken (und ist es ja auch, nur eben nicht in einem absoluten Sinne), allerdings bedeutet das auch, dass diese Firmen dann eben ihre Standorte anderswo aufschlagen, wo sie relativ unbehelligt bleiben. Der Herrschaft selbst hat das selbst in den ursprünglich gemiedenen Regionen nur mäßig geschadet. Es geht mir nicht darum, die Erfolge dieser Strategie(en) klein zu reden, nur möchte ich mich dagegen erwehren, dass eine solche Strategie an die Stelle des eigentlichen Ziels, das mit ihr erreicht werden soll, tritt. Obwohl etwa LKWs von DB Schenker immer wieder in Flammen aufgehen, transportiert das Unternehmen weiterhin mit Erfolg Rüstungsgüter und andere Produkte. Wenn denn nur mehr dieser LKWs brennen würden, mag manch eine*r da nun schwelgen und darauf warten, dass andere sich an dieser Kampagne beteiligen. Ein*e andere*r dagegen mag losziehen und sich die Gütergleise ansehen, wie sie durch ganz Europa verlaufen, mag mal hier, mal dort ausprobieren, welchen Effekt Feuer auf Signalanlagen und Weichen hat, mag sich Möglichkeiten überlegen, Gleise zu blockieren, Kabel zu durchtrennen, usw., während wieder ein*e andere*r herausfinden mag, wie man die für die Rüstungsindustrie relevanten Lieferungen des Konzerns identifiziert und dann ganz gezielt unschädlich macht. Ein*e Dritte*r, die in einer Region lebt, in der DB Schenker seine LKW warten lässt könnte dagegen herausgefunden haben, wie dieses eine Werkstor sabotiert werden kann, so dass die LKW nach ihrer Wartung einen Tag lang nicht wieder vom Parkplatz der Werkstatt fahren können. Sekundenkleber im Schloss könnte das vollbracht haben, was anderswo Buttersäure in der Gebäudelüftung bewirkt haben mag: für eine Stunde, einen Tag oder mehr stillstehende Produktionshallen und Werkstätten. Es sind naturgemäß nur wenige, sehr grob ausgearbeitete Ideen, die ich hier präsentieren kann und will, aber ich denke dass dabei eines klar werden dürfte: Das kreative Potential weniger Individuen, die auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten und sich dabei nicht einer schon im Voraus und nach irgendwelchen Kriterien der “Krassheit” bestimmten Methodik verschreiben, kann einen sehr viel wirksameren Einfluss haben, als der Aufruf jener nach den selben Kriterien bemessenen, “krassen” Superbrandstifter*innen, die verzweifelt darauf hoffen, dass mehr und mehr Menschen eine von ihnen praktizierte und zum Ideal erhobene Methode nachahmen, weil sie alleine dadurch effizient in ihrem Sinne wird.[1] Wobei natürlich nichts dagegen spricht, Erkenntnisse zusammenzutragen, Wissen über Lieferketten, Schwachstellen, Methoden und weiteres zu kommunizieren. Aber es ist ja nicht so, dass man dazu immer ein Communiqué schreiben müsste … Auch ohne solche Communiqués lässt sich Inspiration aus den in sowohl anarchistischen Zeitungen wie auch auf diversen Blogs im Internet dokumentierten Angriffen gegen die Infrastruktur der Herrschaft ziehen, ja auch ohne Communiqués beziehen sich Angriffe und Kämpfe aufeinander in dem, was sie zu ihrem Ziel wählen, wie und wann sie durchgeführt werden, usw. usw.

Ziele, die überall existieren … Nun, sicher ist es praktisch, mal eben ein paar Fahrzeuge der Technologie-Multis und der Profiteur*innen von Knast und Krieg in der eigenen Nachbarschaft abzufackeln, wo sie unbewacht herumstehen. Und ich möchte sicher nicht dafür plädieren, das bleiben zu lassen. Aber wenn wir davon sprechen, wie wir von symbolischen Angriffen übergehen können zu einer Praxis, die unserem Feind materiellen Schaden zufügt, dann scheinen mir diese überall existierenden Ziele so ziemlich das Gegenteil zu verkörpern: Sind nicht gerade sie symbolische Interventionen? Der Unterschied zwischen materiellem Schaden und symbolischer Intervention, er besteht schließlich in aller Regel nicht im verursachten Sachschaden. Auch wenn es natürlich Ausnahmen gibt. Vielmehr ist doch die Frage, ob es einem Angriff gelingt, die Herrschaft für eine Weile lahmzulegen. Und darin muss der Ansatz der überall existierenden Ziele letztlich scheitern … zumindest wenn man davon ausgeht, dass er sich nicht massenhaft reproduzieren wird – was die Erfahrung zweifelslos zeigt. Denn mit den Fahrzeugen einer handvoll Unternehmen, zielen wir in der Logistik derselben vor allem auf einzelne Techniker*innen, die zudem oft bloß ein klein wenig in ihrer Mobilität – denn ein Ersatzauto lässt sich, zumindest wenn es sein muss, heute schnell auftreiben – beschnitten werden. Selbst die wenigen Materialien und Werkzeuge, die in den Fahrzeugen gelagert sind, lassen sich in der Regel schnell ersetzen. Es mag hier natürlich Ausnahmen geben, etwa wenn aufwändig ausgerüstete Spezialfahrzeuge getroffen werden oder Baugerät wie Bagger, Kräne, usw., wo Ersatz nicht einfach beim nächsten Autoverleih beordert werden kann, sondern erst einmal herangeschafft werden muss, aber auch wenn auch dieses Gerät vielleicht weit verbreitet sein mag, bewegen wir uns hier wenigstens vom Ansatz her bereits von den überall existierenden Zielen weg, denn es ist ja gerade die Nicht-Omnipräsenz dieser Ziele, die man sich hier zunutze macht. Um fair zu sein: In der Broschüre “Targets that exist everywhere” mangelt es an solchen Beispielen nicht. So wird etwa der Angriff auf einen Kran auf der Baustelle des geplanten Amazon-Logistikzentrums in Achim bei Bremen ebenso aufgezählt, wie der Angriff auf die gesamte Baufahrzeugflotte des Eurovia-Konzerns in Limoges, sowie einige weitere Angriffe auf schwer zu ersetzende Fahrzeugflotten. Und doch scheint es vor allem eine Sammlung an einzelnen Fahrzeugbrandstiftungen zu sein, eben “überall existierende Ziele”, die uns die Broschüre präsentiert und vorschlagen will.

Aber was wenn man die Devise einmal umkehrt? Wie wäre es, wenn statt Zielen, die überall existieren einmal Ziele, die nirgendwo sonst existieren in den Mittelpunkt gerückt werden würden? Denn die Herrschaft durchdringt den Raum weder gleichmäßig, noch gleichförmig. Jede ihrer Infrastrukturen besitzt Knotenpunkte, die von besonders zentraler Bedeutung sind, während die einen Territorien stärker von dieser und die anderen stärker von jener Infrastruktur geprägt sind. Global gesehen lassen sich etwa die Hightech-Metropolen mit ihrer Forschungs-, Finanz-, Rüstungs- und Hightechproduktionsinfrastruktur von der vielmehr extraktivistisch und landwirtschaftlich ausgebeuteten Peripherie unterscheiden. Und selbst innerhalb der kapitalistischen Metropolregionen, von denen die “Überall existierenden Ziele” vorrangig zu handeln scheinen, offenbaren sich bei einem genaueren Blick ganz unterschiedliche infrastrukturelle Schwerpunkte. Während die eine Region geprägt ist, vom Braunkohleabbau und der Energiegewinnung daraus, sitzt anderswo vor allem die Computer-Hightechbranche und wieder anderswo hat die Biotechnologiebranche ihre Zelte aufgeschlagen, während Automobilindustrie und Chemiekonzerne seit beinhe einem ganzen Jahrhundert ganze Städte und Regionen nach ihren Bedürfnissen geordnet haben, Hafenstädte wichtige Handelsmetropolen bilden und manchmal einzelne Militärstandorte und sogar einzelne Funkmasten von internationaler (militärischer) Bedeutung sind. Inmitten dieses Geflechts lassen sich ganz unterschiedliche, oft einzigartige Angriffspunkte identifizieren, die der Herrschaft sehr viel mehr materiellen Schaden zuzufügen vermögen, als das die Brandstiftung an den Fahrzeugen mit den immer gleichen Aufschriften vielleicht vermag. Es mag vielleicht einen gewissen Aufwand bedeuten, sie zu identifizieren, manchmal mögen sie besser, manchmal vielleicht auch schlechter geschützt sein, als die überall existierenden Ziele, und man mag gezwungen sein, der individuellen Kreativität freien Lauf zu lassen, bei der Identifikation und Zerstörung dieser Ziele. Nichtsdestotrotz oder gerade deswegen denke ich, dass diese Ziele möglicherweise den interessanteren Ansatzpunkt im Kampf gegen die Herrschaft liefern mögen. Nicht zuletzt, weil ihnen letztlich auch eine präzisere Analyse über die Funktionsweise der Herrschaft zugrunde liegt, als das abstrakte Schreckgespenst von global tätigen Unternehmen, Polizeien und Armeen, die einfach überall gleichermaßen latent vorhanden zu sein scheinen.

Die Broschüre “Targets that exist everywhere” schließlich, endet mit einem Aufruf zur Bildung eines “Netzwerks der Revolutionären Gewalt”, einem weiteren Vorschlag, jede Individualität des anarchistischen Angriffs aufzugeben und sich humorlos, verbissen und selbstdisziplinierend unter der Fahne einer weiteren revolutionären Organisation, den “Direct Action Cells” zu versammeln. Mit anderen Worten: Einmal mehr der Vorschlag, den anarchistischen Angriff zu militarisieren.

Es fällt mir schwer, derartige Vorschläge, gerade wenn sie so unverblümt mit Zitaten autoritärer Organisationen – deren Vorbild sie immerhin folgen – eingeleitet werden, überhaupt als antiautoritär anzuerkennen. Und ich kann nicht umhin, in diesem Vorschlag eben jene Verbissenheit wiederzuerkennen, die ich auch in dem zweifellos quantitativen Versuch von den überall existierenden Zielen zu erkennen glaube. Weil dieser Vorschlag eben nur dann erfolgreich sein kann, wenn sich ihm die Massen anschließen, verfällt man schließlich in eine avantgardistische Position, aus der heraus man einen Großteil seiner Energie darauf verschwendet, anderen zu sagen, was sie gefälligst tun sollen und ihnen, tun sie das nicht – oder nicht in der verlangten Form –, die Ernsthaftigkeit ihrer anarchistischen Ideen abzusprechen. Weil man sich selbst entschieden hat, mit dem Kopf durch die Wand brechen zu wollen, weil man sich selbst entschieden hat, die eigene Individualität, die Einzigartigkeit des eigenen Kontexts und möglicherweise auch den Spaß eines gegen die Herrschaft gelebten Lebens aufzugeben und fortan einer langweiligen, einheitlichen Organisation (“Unity”, dt. Einheit ist neben “Organisation” und “Krieg” eine der Parolen der Direct Action Cells) anzugehören, bleibt einem selbst nichts weiter vorzuschlagen, als dass andere dasselbe täten, also ebenfalls ihrer Individualität und den einzigartigen Kontexten, in denen sie sich bewegen, den Rücken zu kehren und fortan die Flagge der Direct Action Cells zu schwingen.

Aber welche Möglichkeiten eröffnet das wirklich? Sind wir – und wer ist dieses wir überhaupt – tatsächlich stärker, nur weil wir uns unter einer Flagge vereinen? Dass ich nicht der Meinung bin, dass der anarchistische Angriff durch die Verengung seines Fokus auf überall existierende Ziele einen strategischen Zugewinn erfährt, das habe ich bereits ausgeführt. Es ist unschwer zu erraten, was ich davon halten mag, unter einer Flagge vereint, ja überhaupt unter irgendeiner Flagge, zu kämpfen. Ich halte es nicht für einen Zufall, dass auch dieser konkrete Vorschlag dem Vorbild autoritärer kommunistischer Organisationen folgt. Und dies ist letztlich auch der einzige Wert – bzw. für mich ist es vielmehr kein Wert –, den dieser Vorschlag zu schaffen vermag: Einheitlichkeit. Aber was haben Anarchist*innen von Einheitlichkeit, Treue zu einer Fahne, Verbissenheit und Pflichterfüllung? Richtig: Nichts. Es ist vielmehr die Aufgabe des anarchistischen Projekts. Denn der anarchistische Angriff, er lässt sich nicht militarisieren!


[1]Ich möchte hier vielleicht anmerken, dass es nicht meine Absicht ist, spektakuläre Brandstifungen oder andere spektakuläre – oder sagen wir vielleicht lieber gewaltige – Angriffe abzuwerten und sicher habe auch ich eine Art Fetisch, solche Angriffe intuitiv ein klein wenig zu überhöhen. Mir geht es vielmehr darum, diesen Fetisch oder neutraler ausgedrückt, diese Faszination, nicht zu einem Ideal werden zu lassen, darum, zurückzutreten und hier und da einen genaueren Blick auf Angriffe zu werfen und dabei weder zu vergessen, dass auch Angriffe die nicht diese gewaltige, spektakuläre Form annehmen, sehr effizient sein können – etwa weil sie stattdessen genau die richtige Stelle treffen, um auf eine sehr unspektakuläre Weise die Produktion lahmzulegen –, genausowenig wie die Tatsache, dass es nicht jeder*m immer möglich ist und nicht jede*r immer bereit ist, so viel aufs Spiel zu setzen oder so viel Aufwand zu betreiben, wie es die meisten dieser spektakuläreren Angriffe erfordern.

Zehn Thesen zur Ausbreitung des Egokraten

I

Der Egokrat – Mao, Stalin, Hitler, Kim Il Sung – ist kein Unfall oder eine Anomalie oder ein Hervorbrechen der Irrationalität; er ist eine Personifizierung der Beziehungen der existierenden sozialen Ordnung.

II

Der Egokrat ist zunächst ein Individuum, wie jede*r andere: Ohne Stimme und machtlos in dieser Gesellschaft, ohne Gemeinschaft oder Kommunikation, dem Spektakel geopfert, “der ununterbrochene Diskurs der bestehenden Ordnung über sich selbst, seine Selbstlobrede, das Selbstporträt der Macht in der Epoche ihrer totalitären Kontrolle der Bedingungen des Seins.” (Debord) Vom Spektakel zurückgeweisen, strebt er nach “dem befreiten menschlichen Wesen, einem Wesen, das zugleich ein soziales Wesen ist, sowie ein Gemeinwesen.” (Camatte) Wenn sich seine Sehnsucht in der Praxis ausdrückt: an seinem Arbeitsplatz, auf der Straße, wo auch immer das Spektakel ihm seine Menschlichkeit raubt, dann wird er zum Rebellen.

III

Der Egokrat drückt in der Praxis nicht seine Sehnsucht nach Gemeinschaft und Kommunikation aus; er verwandelt sie in einen Gedanken. Mit diesem Gedanken bewaffnet ist er noch immer ohne Stimme und machtlos, aber er ist nicht länger wie jede*r andere: Er ist Selbstbewusst, er besitzt den Plan. Um seine Andersartigkeit zu bestätigen, um sicherzugehen, dass er sich nicht selbst betrügt, muss er von anderen als anders betrachtet werden – von jenen anderen, die bestätigen, dass er wahrhaft im Besitz des Plans ist.

IV

Der Egokrat findet “Gemeinschaft” und “Kommunikation” nicht dadurch, dass er die Elemente des Spektakels in seiner Reichweite zerstört, sondern indem er sich selbst mit ähnlich gesinnten Individuen umgibt, anderen Egos, die den Goldenen Plan einander widerspiegeln und einander ihr Recht als Besizer dieses Plans beteuern. Auserwählte. An diesem Punkt muss der Plan, wenn er gülden bleiben soll, immerfort der gleiche bleiben: unbefleckt und unkompromittiert; Kritik und Korrekturen sind Synonyme für Verrat, “folglich kann er nur als eine Kampfschrift über die Realität existieren. Er fechtet alles an. Er kann nur dadurch überleben, dass er einfriert, indem er zunehmend totalitär wird.” (Camatte) Um also den Plan widerzuspiegeln und zu bestätigen muss das Individuum aufhören zu denken.

V

Das ursprüngliche Ziel, der “befreite Mensch” wird an die Praxis verloren, wenn es dem Selbstbewusstsein des Egokraten untergeordnet wird, denn “Selbstbewusstsein wird selbst zum Ziel und verdinglicht sich in einer Organisation, die darin besteht, das Ziel zu personifizieren.” (Camatte) Die Gruppe gegenseitiger Bewunderer benötigt ein Programm und einen Treffpunkt; sie wird zu einer Institution. Die Organisation, die die Form einer bolschewistischen oder nazi-Zelle, eines sozialistischen Lesekreises oder einer anarchistischen Affinitätsgruppe annimmt, je nach lokalen Gegebenheiten und individuellen Vorlieben, “schafft ein günstiges Klima für informelle Herrschaft von Propagandisten und Verteidigern ihrer Ideologie, Spezialisten, die im allgemeinen umso mittelmäßiger sind, je mehr ihre intellektuelle Aktivität in der Widerholung bestimmter endgültiger Wahrheiten besteht. Ideologischer Respekt für einstimmige Entscheidungen ist insgesamt vorteilhaft für unkontrollierte Macht innerhalb der Organisation selbst, einer aus Spezialisten für die Freiheit” (schrieb Debord über anarchistische Organisationen). Indem es das herrschende Spektakel ideologisch ablehnt, reproduziert die Organisation aus Spezialisten für die Freiheit die Beziehungen des Spektakels in ihrer internen Praxis.

VI

Die den Plan verkörpernde Organisation wendet sich an die Welt, weil “das Projekt dieses Selbstbewusstseins darin besteht, die Realität in ihrem Konzept einzuschließen.” (Camatte) Die Gruppe wird militant. Sie zieht aus, um die internen Beziehungen der Organisation auf die Gesellschaft auszuweiten, wobei eine Variante dessen wie folgt beschrieben werden kann: “Innerhalb der Partei darf keiner zögern, wenn der Befehl der Führung erteilt wird, ‘vorwärts zu marschieren’, niemand darf sich nach rechts drehen, wenn der Befehl ‘links’ lautet.” (ein revolutionärer Anführer, zitiert nach M. Velli.) An diesem Punkt ist der spezifische Gehalt des Plans für die Praxis ebenso irrelevant wie die Geografie des christlichen Paradieses, weil das Ziel auf einen Totschläger reduziert wurde: Es dient als Rechtfertigung für die repressiven Praktiken der Gruppe und als ein Instrument der Erpressung. (Beispiele: “Von der sozialistischen Ideologie auch nur geringfügig abzuweichen, bedeutet die bourgeoise Ideologie zu stärken.” Lenin, zitiert nach M. Velli; “Wenn ‘Libertäre’ andere verleumderisch niedermachen, dann stelle ich ihre Reife und ihre Hingabe an den revolutionären sozialen Wandel in Frage”, ein “Anarchist” in einem Brief an The Fifth Estate.)

VII

Die militante Organisation wächst mithilfe von Konvertierungen und Manipulationen. Konvertierung ist die bevorzugte Technik des frühen Bolschewismus und des missionarischen Anarchismus: Die explizite Aufgabe der Kämpfer ist es der arbeitenden Klasse Selbsbewusstsein einzuflösen (Lenin), “arbeitende Menschen mit unseren Ideen zu erreichen” (ein “Anarchist” in “The Red Menace” [dt. “Die Rote Bedrohung”] Toronto). Aber die implizite Aufgabe und das praktische Resultat seiner Tätigkeit besteht darin, die Praxis der Arbeiter zu beeinflussen, nicht ihr Denken. Die Konvertierung ist erfolgreich, wenn die Arbeiter, egal was ihre Ideen sind, Beiträge an die Organisation zahlen und den Aufrufen der Organisation gehorchen (Streiks, Demonstrationen, etc.). Das implizite Ziel des Egokraten besteht darin, seine Hegemonie (und die seiner Organisation) über eine große Anzahl von Individuen zu errichten, der Anführer einer Masse an Gefolgsleuten zu werden. Dieses implizite Ziel wird auf zynische Weise zu einem expliziten, wenn es sich bei den Kämpfern um Nazis oder Stalinisten (oder eine Mischung aus beiden, wie bei der US Arbeiterpartei) handelt. Konvertierung weicht der Manipulation, die unverblühmt lügt. In diesem Modell ist die Rekrutierung von Anhängern das explizite Ziel und die Idee nicht länger ein Fixstern, perfekt und unveränderlich; die Idee wird zu einem bloßen Mittel für das explizite Ziel; was immer die meisten Anhänger*innen rekrutiert, ist eine gute Idee; die Idee wird zu einer zynisch konstruierten Collage basierend auf den Ängsten und Ressentiments potentieller Anhänger; ihr hauptsächliches Versprechen ist die Vernichtung von Sündenböcken: “Konterrevolutionäre”, “Anarchisten”, “CIA Agenten”, “Juden”, etc. Der Unterschied zwischen Manipulatoren und Missionaren ist ein theoretischer; in der Praxis sind sie Konkurrenten auf dem gleichen sozialen Millieu und sie bedienen sich der Techniken des jeweils anderen.

VIII

Um die Idee auszustrahlen, also um zu konvertieren oder zu manipulieren, benötigt der Egokrat Instrumente, Medien, und es sind genau solche Medien, die ihm die Gesellschaft des Spektakels im Überfluss zur Verfügung stellt. Eine Rechtfertigung sich dieser Medien zu bedienen lautet wie folgt: “Die Medien sind derzeit ein Monopol der herrschenden Klassen, die diese zu ihrem eigenen Nutzen zweckentfremden. Aber ihre Struktur bleibt ‘grundsätzlich egalitär’, und es ist die Aufgabe der revolutionären Praxis, dieses Potential, das sie bieten, das aber von der kapitalistischen Herrschaft pervertiert wird, hervorzuholen. In einem Wort: sie zu befreien …” (eine Position, die von Baudrillard paraphrasiert wird.) Die Ursprüngliche Ablehnung des Spektakels, die Sehnsucht nach Gemeinschaft und Kommunikation wurde durch die Sehnsucht ersetzt, Macht über genau die Instrumente auszuüben, die Gemeinschaft und Kommunikation auslöschen. Bedenken oder ein plötzlicher Ausbruch von Kritik werden durch organisatorische Erpressung ausgeschlossen: “Die Leninisten werden gewinnen, außer wir akzeptieren selbst die Verantwortung zu kämpfen, um zu gewinnen…,” (“The Red Menace.” Ein Stalinist würde sagen, “Die Trotzkisten werden gewinnen …”, etc.) Von diesem Punkt an, lässt sich alles machen; alle Mittel sind richtig, wenn sie zum Ziel führen; und an der absurden äußersten Grenze wird sogar Werbung, die Aktivität und Sprache des Kapitals selbst, zu einem gerechtfertigten revolutionären Mittel: “Wir konzentrieren uns vor allem auf Distribution und Reklame … Unsere Werbearbeit ist breit gefächert und teuer. Sie beinhaltet überregionale Anzeigen, Werbesendungen, Kataloge, Tischaufsteller im ganzen Land, etc. All das kostet eine enorme Menge Geld und Energie, die von den Einnahmen gedeckt wird, die mit dem Verkauf von Büchern gemacht werden.” (Ein “anarchistischer Geschäftsmann” in einem Brief an The Fifth Estate.) Ist dieser anarchistische Geschäftsmann ein groteskes Beispiel, weil es so lächerlich übertrieben ist, oder befindet er sich vollkommen innerhalb der orthodoxen Tradition organisierten Kampfes? “Das Hauptinstrument, das wir benötigen, um den Sozialismus einzuführen ist der ‘Staatsapparat’, den wir fertig vom Kapitalismus übernehmen; unsere Aufgabe dabei besteht darin, bloß das abzuhacken, was diesen exzellenten Apparat kapitalistisch verstümmelt, um ihn noch gewaltiger, selbst demokratischer, selbst allumfassender zu machen …” (Lenin, zitiert nach M. Velli.)

IX

Für den Egokraten sind die Medien bloße Mittel; das Ziel ist Hegemonie, Macht und die Kontrolle über die Geheimpolizei. “Als unsichtbare Piloten im Zentrum des volkstümlichen Sturms müssen wir ihn nicht mit einer sichtbaren Macht lenken, sondern mit der kollektiven Diktatur aller Verbündeten. Eine Diktatur ohne Abzeichen, ohne Namen, ohne offizielle Befugnisse, und doch eine umso mächtigere, weil sie keine der Erscheinungsformen der Macht besitzt.” (Bakunin, zitiert nach Debord) Die kollektive Diktatur aller wird schnell zur Herrschaft des einzigen Egokraten weil “wenn all die Bürokraten zusammen alles entscheiden, der Zusammenhalt ihrer eigenen Klasse nur durch die Konzentration ihrer terroristischen Macht in einer einzigen Person sichergestellt werden kann.” (Debord) Mit dem Erfolg des Unterfangens des Egokraten, der Errichtung der “Diktatur ohne offzielle Befugnisse”, ist Kommunikation nicht nur auf einer sozialen Ebene ausbleibend; jeder lokale Versuch wird von der Polizei absichtlich liquidiert. Diese Situation ist keine “Entstellung” der ursprünglichen, “reinen Absichten” der Organisation; sie ist bereits in den Mitteln angelegt, den “grundsätzlich egalitären” Instrumenten, die für ihren Sieg genutzt werden. “Was die Massenmedien ausmacht ist die Tatsache, dass sie Anti-Vermittler, Intransitive sind, die Tatsache, dass sie nicht-Kommunikation erzeugen … Fernsehen ist alleine durch seine Präsenz eine soziale Kontrolle im Zuhause. Es ist nicht notwendig, sich diese Kontrolle als das Periskop des Regimes vorzustellen, mit dem das Privatleben von jedem ausspioniert wird, da das Fernsehen bereits besser als das ist: Es stellt sicher, dass die Menschen nicht länger miteinander reden, dass sie definitiv isoliert sind, angesichts der Aussagen ohne Antworten.” (Baudrillard)

X

Das Projekt des Egokraten ist überflüssig. Die kapitalistischen Medien der Produktion und Kommunikation reduzieren die Menschen bereits zu stimmlosen und machtlosen Zuschauern, passiven Opfern, die beständig den “Eigenlobreden” der herrschenden Ordnung unterworfen sind. Die antiautoritäre Revolution erfordert nicht ein anderes Medium, sondern die Vernichtung aller Medien, “die Vernichtung ihrer gesamten derzeitigen Struktur, sowohl funktional, als auch technisch, ihrer Betriebsform sozusagen, die überall ihre soziale Form widerspiegelt. Schließlich ist es offensichtlich das bloße Konzept von Medium, das verschwindet und verschwinden muss: das ausgetauschte Wort, wechselseitiger und symbolischer Austausch, negieren die Vorstellung und Funktion des Mediums, der Vermittlung … Wechselseitigkeit entsteht durch die Zerstörung des Mediums.” (Baudrillard)

1977

Referenzen

Jean Baudrillard , Pour une critique de l‘ economie politique du signe (Paris , Gallimard , 1972)

Jacques Camatte , The Wandering of Humanity (Detroit , Black & Red , 1975)

Guy Debord , Society of the Spectacle (Detroit , Black & Red , 1970; 1977)

Claude Lefort , Un Homme e n Trap : Reflexions sur „L ‚Archipel de Goulag,“ Paris , Seuil , 1976

Michael Velli , Manual for Revolutionary Leaders (Detroit , Black & Red , 1972)


Übersetzung aus dem Englischen. Fredy Perlman. “The Theses on the Proliferation of the Egocrat” (1977) in Anything Can Happen.