Kriegslogiken

Seite beziehen. Wenn während des ersten Weltkriegs die furchtbare Stellungnahme von Kropotkin für den Sieg eines Teils der Krieg führenden Staaten im Namen der emanzipatorischen Hoffnung selbst berühmt geworden ist, trotz der damaligen Antworten anderer Anarchisten darauf, so liegt das zweifelsohne daran, dass sie das immer mögliche Versagen des Internationalismus und des Antimilitarismus verkörpert. Eine nicht mal originelle, Seite beziehende Position, da die damals wesentlichen sozialistischen Parteien und Arbeitergewerkschaften bereits den Sirenen der nationalen Einheit verfallen waren und sich hinter ihren eigenen kriegstreibenden Staaten eingereiht hatten. Auch wenn es absurd wäre zu vergessen, dass einige Anarchisten manchmal unter Zugzwang ins Wanken gerieten – auch in anderen Situationen wie etwa im Bürgerkrieg (erinnern wir uns an das Dilemma „Krieg oder Revolution?“, in dem die spanische CNT sich für ersteres aussprach) –, wäre es trotzdem etwas voreilig, nur das in Erinnerung zu behalten.

Im Laufe der Kriege, die im letzten Jahrhundert geführt und in die die Gefährten verwickelt wurden, konnten auch zahlreiche subversive Interventionen kompromisslos gegen diese gerichtet umgesetzt werden, angepasst an den Ort, an dem sich die Gefährten befanden, wie etwa autonome (normalerweise dezentralisierte und koordinierte) Kampfgruppen zu bilden, Hilfsnetzwerke für Deserteure beider Seiten aufzubauen, Sabotagen gegen den militaro-industriellen Apparat hinter der Front zu verüben, die Mobilisierung der Menschen zu untergraben und die nationale Einheit zu sprengen, die Unzufriedenheit und die Kriegsverdrossenheit zu schüren und zu versuchen, diese Kriege für das Vaterland in Aufstände für die Freiheit zu verwandeln. Man wird uns vielleicht entgegnen, dass die Umstände sich seit diesen Experimenten stark verändert hätten, aber sicherlich nicht zu dem Punkt, dass man nicht mehr aus diesem Arsenal schöpfen könnte, wenn man in diese Feindlichkeiten hineinintervenieren möchte, d. h. indem man zuerst von den eigenen Ideen und Projektualitäten ausgeht als vom geringeren Übel, das darin besteht die Seite und die Interessen eines Staates gegen einen anderen zu unterstützen. Denn wenn wir gegen den Frieden der Herrschaft sind, gegen den Frieden der Verdummung und des Gehorsams, sind wir natürlich auch gegen den Krieg. Weil Krieg und Frieden tatsächlich zwei Begriffe sind, die eine gleiche Kontinuität der kapitalistischen Ausbeutung und der staatlichen Herrschaft abdecken.

Energie. Unter den verschiedenen großspurig angekündigten Sanktionspaketen, die von den westlichen Staaten verhängt wurden, um ihren russischen Gegenspieler an seinem Kopf und seiner Basis zu treffen, hätte jeder die ausgefeilten kleinen Betrügereien bemerken können. Unter den gewichtigen Ausnahmen dieser Sanktionen (die momentan ihre vierte Salve abfeuern) befinden sich momentan tatsächlich die russischen Exporte energetischer (Erdöl und Gas) und bergbaulicher Rohstoffe. Und das trifft sich gut, da Russland 40 % des Palladiums und 25 % des Titans auf der Welt produziert, der weltweit zweitgrößte Produzent von Aluminium und Gas ist, sowie der drittgrößte von Nickel und Erdöl. Alles Stoffe, deren Kurse seit dem Beginn der Invasion in das ukrainische Gebiet explodieren, sodass Russland noch mehr Einnahmen abgreift… die ihm übrigens hauptsächlich von den Mächtigen derselben Länder verschafft werden, die ununterbrochen humanistische Schreckensschreie aufgrund der momentanen Situation ausstoßen. Um nur ein Beispiel zu nennen: seit Kriegsbeginn zahlt die Europäische Union Russland täglich 400 Million Dollar für sein Gas und etwa 280 Millionen Dollar für sein Erdöl, deren Zahlungen die beiden Banken in Empfang nehmen, die von den Finanzsanktionen verschont wurden (und das aus guten Gründen!), die Sberbank und die Gazprombank. Die enormen Summen von all dem Rest, der für die westliche Automobilindustrie (Palladium), Aeronautik und Verteidigung (Titan) und die westlichen elektrischen Batterien (Nickel) unerlässlich ist, ersparen wir euch an dieser Stelle mal.

Wenn man sagt, dass der Krieg hier beginnt, dann ähnelt das häufig einem einfachen Wiederkäuen eines alten ideologischen Slogans des letzten Jahrhunderts, doch wenn heute jemand auf die Idee käme sich zu fragen, wer tatsächlich den russischen Angriff finanziert, könnte er sich denselben zuwenden, die die Gegenseite, die ukrainische Verteidigung, finanzieren: es handelt sich um das techno-industrielle System der westlichen Staaten, das für so eine Kleinigkeit nicht aufhören wird in vollen Touren zu laufen, insbesondere da der Krieg, die Massaker und die Zerstörungen auf dem Planeten bereits intrinsisch Teil seiner Funktionsweise sind.

Und um die Ironie perfekt zu machen, gibt es unterschiedliche Interessen, von denen die beiden Kriegsparteien sich tunlichst hüten, diese in diesem mörderischen Krieg aufs Spiel zu setzen, um ihren gemeinsamen westlichen Financiers nicht zu schaden: die zwei gigantischen Gaspipelines Brotherhood und Soyouz, die aus Russland kommen und anschließend das ganze ukrainische Gebiet durchqueren, ehe sie in Richtung Deutschland und Italien abzweigen. Ähnlich verhält es sich auch damit, dass keine der beiden Kriegsparteien andere ebenso für die nationale Wirtschaft empfindliche Ziele anzurühren wagt, weil sie lebenswichtig für die aeronautischen Industrien der europäischen Verteidigung sind (insbesondere Airbus und Safran), wie die Titanfabrik der Gruppe VSMPO-Avisma, die sich in der immer noch unter ukrainischer Kontrolle stehenden Stadt Nikopol befindet, und trotzdem direktes Eigentum des Hauptexporteurs des russischen militaro-industriellen Komplexes Rosoboronexport istDas, was wie ein Paradoxon wirken könnte, ist in Wirklichkeit nur die bittere Illustration einer der Charakteristiken zwischenstaatlicher Kriege: auch wenn sie sie ohne zu zögern im Namen des nationalistischen, religiösen oder ethnischen Hasses vom Zaune brechen, sind es selten die Mächtigen, die dafür zahlen müssen – da sie offensichtlich in der Lage sind sich wenn nötig untereinander zu einigen –, sondern die Bevölkerungen, die alle mörderischen Konsequenzen erleiden müssen. Ein bisschen wie der Umstand, dass Frankreich Russland von 2014 bis 2020 weiterhin mit Wärmebildkameras beliefert hat, um seine Panzer auszustatten, die momentan im Krieg in der Ukraine eingesetzt werden, oder mit Navigationssystemen und Infrarotdetektoren für seine Jagdflieger und seine Helikopter, während Frankreich nun die Ukraine mit Luft- und Panzerabwehrraketen ausstattet. Was die Energie wie das militärische Equipment betrifft, sind die Financiers und die Profiteure des Krieges ebenfalls hier, und hier ist es auch, wo wir sie bekämpfen können.

Einer der Vorteile der Bildung kleiner autonomer Gruppen, die über ihre Ziele wie über ihre Zeitlichkeit – für jene hier, die den Krieg mit einem anderen Blick betrachten, und jene, die woanders nicht die Gelegenheit zur Flucht haben oder sich freiwillig dafür entscheiden zu bleiben –selbst entscheiden, könnte also beispielsweise in der Sabotage der gemeinsamen kapitalistischen und strategischen Interessen der Herrscher beider Staaten und ihrer Verbündeten liegen, die so anschließend weder dem einen noch dem anderen von Nutzen sein können, egal wer der Sieger ist. Gewiss, eine andere Möglichkeit, die aber keineswegs vom Himmel fallen kann angesichts der Schwierigkeiten, die es zu meistern gilt, was eventuell bedarf, dass sie bereits vorher entwickelt und vorbereitet wurde, insbesondere mithilfe organisationeller Werkzeuge, die das Teilen von Bemühungen, Wissen und adäquaten Mitteln erleichtern. Diese alte Frage der Interessen im Spiel hat übrigens bereits die Netzwerke französischer Widerstandskämpfer unter der deutschen Besatzung beschäftigt, deren Kommando wie das der anglo-amerikanischen Dienste selbstverständlich darauf bestand, dass ihre Industriesabotagen von jenem sensiblen Standort oder jener Struktur auf jeden Fall behebbar bleiben müssten, sodass die Produktion des Feindes nur verlangsamt wurde, oder dass sie nur Ziele zerstören, die für das zukünftige Neustarten des Landes nicht kritisch sind.

Subjekte. In diesem schmutzigen Krieg, in dem momentan intensive Kämpfe in städtischen Zonen vermieden werden, ist die russische Armee seit mehreren Wochen damit beschäftigt mehrere Städte einzukreisen und intensiv zu bombardieren, einer Taktik gemäß, die sich bereits in Aleppo bewährt hat. In Mariupol beispielsweise, wo 300 000 Personen belagert unter fürchterlichen Bedingungen überleben, haben viele auf ihre Kosten verstehen müssen, dass sie in Wirklichkeit unter dem Feuer beider Staaten als Geiseln genommen wurden. Inmitten der zerstörten Gebäude ist es so ihre eigene Armee, der zahlreiche kleine Gruppen von hungernden Zivilisten entgegentreten müssen, wenn sie sich aus ihren Unterschlüpfen wagen, um in den verlassenen Geschäften nach Nahrungsmitteln zu suchen.

Um sein Monopol in den Ruinen aufrechtzuerhalten und weiterhin jegliche Ressource prioritär den bewaffneten Männern zukommen zu lassen, hat der ukrainische Staat also den Freiwilligen der Brigaden der Territorialen Verteidigung (Teroborona) nicht nur die Aufgabe übertragen, seine kritischen Infrastrukturen in zweiter Linie zu verteidigen, sondern auch jene, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten, was beispielsweise die Plünderungsversuche der Verzweifelten umfasst. Für einen Staat, der das Kriegsrecht ausgerufen hat, während er in den bombardierten Städten kontrollierte Formen der Selbstorganisierung, die erlauben die eigenen Mängel zu ergänzen, wesentlich toleriert, sei es natürlich die patriotische Pflicht, auf die einem zugestandenen Krümel mit leerem Bauch zu warten, während man das Wasser aus den Heizkörpern trinkt, da es wohlbekannt ist, dass Plünderungen des allerheiligsten verlassenen Eigentums nur von feindlichen Soldaten oder von Verrätern kommen kann, wie es die täglichen Befehle einhämmern. Und über die tragische Situation in Mariupol hinaus handelt es sich um dieselbe Logik, die in der Hauptstadt Kiew, während sie immer weiter von den russischen Truppen eingekreist wird, zur Anwendung kommt, diesmal mit Ausgangssperren, bei der die letzte nicht mehr nächtlich war, sondern 36 Stunden am Stück umfasste, um der Armee und der Polizei die Priorität zu geben, und in der man „jede Person, die sich in diesem Zeitraum auf der Straße befindet, als Mitglied von Gruppen feindlicher Saboteure“ betrachtete, mit allen Konsequenzen, die das mit sich zieht.

Auch hier ist die Feststellung, dass der Staat seinen eisernen Arm in Kriegszeiten noch mehr als in Friedenszeiten nicht nur auf den Geist, sondern auch auf die Körper all seiner Subjekte auflegt, nicht nur eine abgedroschene Phrase: Kanon- oder Bombenfutter, auf der Suche nach Essen oder nach Komplizen, um sich außerhalb des staatlichen Joches selbst zu organisieren, oder auch nur um eine andere Luft zu atmen als die in der Enge der Unterschlüpfe oder um sich selbst ein Bild zu machen, jeder Individualität wird befohlen, sich auf dem Schachbrett der zwei anwesenden Armeen freiwillig oder mittels Zwang aufzulösen. Eine Situation, die sich offensichtlich bis an die westlichen Grenzen der Ukraine erstreckt, die mehr als drei Millionen Flüchtende bereits überquert haben… nachdem sie penibel kontrolliert wurden, um alle wehrfähigen Männer zwischen 18 und 60 Jahren unter ihnen zu entfernen. Während sich eine Welle der Unterstützung der Familien auf beiden Seiten der Grenze ausgebreitet hat, betrifft einer der bemerkenswertesten Aspekte jedoch die feine Solidarität mit jenen, die sich weigern zu kämpfen und nicht die Möglichkeit haben den korrupten ukrainischen Grenzern 1500 € zu zahlen, die gerade anfängt sich trotz der Feindseligkeit eines Teils der Bewohner zu bilden. Insbesondere durch das Verteilen gefälschter Atteste und Spenden biometrischer Pässe, das einzige offizielle Dokument, das in Ungarn oder in Rumänien während der ersten zwei Wochen des Konflikts akzeptiert wurde, um die Geflüchteten ihr Territorium betreten zu lassen.

Sortieren, auswählen, piorisieren, registrieren, klassifizieren, um an den Grenzen die guten Armen von den schlechten Armen (ihre Nationalität eingeschlossen, wie es die Staatsangehörigen von afrikanischen Ländern am eigenen Leib erfahren mussten) zu trennen, ist natürlich keine Besonderheit des ukrainischen Staates in Kriegszeiten, sondern die Kontinuität einer weitläufigen Hölle der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit, ökonomischen Kuhhandels und geostrategischer Imperative. Das ist der Grund, aus dem die einen dazu verurteilt werden im Mittelmeer zu ertrinken, die anderen in den Lagern des UNHCR zu vegetieren, um in benachbarten Territorien festgehalten zu werden, und die letzten glorreich ihrem Vaterland zu dienen oder als Lohnsklaven in reichen Ländern, die immer auf der Suche nach ausbeutbarer Arbeitskraft zu einem Spottpreis sind. Denn letzten Endes rührt die Grausamkeit der Herrschaft – die sich nie so sehr enthüllt wie in Kriegen, im Elend und den Massakern, die sie hervorruft – zuerst vielleicht davon her: ihrem intrinsischen Anspruch, als Herrin im Namen ihrer eigenen Interessen auf dem Gebiet, das sie kontrolliert, zu herrschen, und zu versuchen jedes Lebewesen, das sie beherrscht, in austauschbare Subjekte zu verwandeln, zum Preis ihrer Vernichtung als Individuen.

Dringlichkeit. Seit Jahren schon werden Wellen von Bedrohungen aus allen Windrichtungen hochgehalten und instrumentalisiert, um die Angst innerhalb einer immer militarisierteren Verwaltung des sozialen „Friedens“ zu destillieren: Terrorismus, Naturkatastrophe, Covid-19… oder nun die mögliche nukleare Entfesselung in der Ausweitung des Konflikts an den Außengrenzen Europas. Und natürlich wird die kleine Musik des xten Opfers, das gebracht werden muss, um in Reih und Glied hinterm Staat zuzustimmen, immer schriller. Doch ist es im Grunde vielleicht wahr, dass es etwas zu opfern gäbe, ohne dass man dafür tausende Kilometer zurücklegen muss. Denn dieses weitläufige System des Todes im großen Maßstab, wird es nicht von einer Energie, einer Industrie, Transporten, Kommunikationen und einer Technologie genährt, die täglich vor unserer Nase vorbeiziehen? Den Krieg der Welt zurückzugeben, die ihn hervorbringt, indem man seinen Nachschub unterbricht, wäre also eine andere Art und Weise, um die Reihen des Feindes zu durchbrechen, indem man überall den Konflikt gegen ihn verbreitet.


Übersetzung aus dem Französischen, „Logiques de Guerre“, Avis de Tempêtes #51, 15. März 2022.