Schlagwort-Archive: Communiqué

Sich vorantastend…

Alleine im Wald?

»Isère: Verschwörungstheoretiker voller Wut gegen den Staat fackelte Funkmasten ab«

»Drôme: Der Brandstifter von Pierrelatte: Gegen 5G, aber nicht gegen Glasfaser«

»Rhône: Zwei Mönche für das Abfackeln von 5G-Funkmasten verhaftet«

»Paris: Der Impfgegner sabotiert 26 5G-Antennen, um Frankreich vor den Covid-19-Verschwörungen zu retten«

Presseschlagzeilen der letzten Monate

Die Staatsbehörden haben seit 2018 hunderte Sabotagen gegen Telekommunikationsinfrastruktur registriert. Abgefackelte Funkmasten, durchgeschnittene Glasfaserkabel, verkohlte Verteiler, zerstörte Telefonschränke: diese Praktiken haben sich auf das gesamte Territorium ausgebreitet und haben definitiv in den letzten zwei Jahren eine quantitative Steigerung erfahren. Die Qualität der nächtlichen Aktivitäten der Saboteure und Saboteurinnen scheint ebenfalls einen Sprung gemacht zu haben: es kam zu Sabotagen, die besonders sensible Knotenpunkte trafen, andere waren koordiniert oder wiederholten sich in derselben geographischen Zone, andere zielten auf die Störung der Kommunikation einer genauen Struktur, Zone oder eines genauen Moments ab… Kurz, trotz der wiederholten Warnungen der Autoritäten, der Alarmschreie der Anbieter und einer nicht zu vernachlässigenden Zahl an Festnahmen zielen Angriffe weiterhin auf diese Infrastrukturen, die sich schwer vor einem verstohlenen Schnitt mit der Zange oder einem nächtlichen Brand schützen lassen.

Während letztere unleugbar die Venen der technologischen Herrschaft anvisierten, bleiben die individuellen Beweggründe und die darüber hinausgehenden Sehnsüchte der Hände, die diese vollbrachten, hingegen häufig im Dunkeln. Die Repression, deren eine primäre Aufgabe es natürlich ist, die Urheber der Missetaten, die das reibungslose Funktionieren der Gesellschaft durcheinander bringen, zu identifizieren, hat dennoch ein wenig die Diversität der Personen enthüllt, die sich auf Spaziergänge im Mondschein begeben. Auch wenn man dabei mit den Informationen vorsichtig sein muss, die in den Zeitungen veröffentlicht werden, ebenso wie mit den Anliegen der Verurteilten, die von Journalisten „zitiert“ werden, und ebenso vermeiden will, für uns die „Profile“ und „Kategorien“ zu übernehmen, die von den Staatsbehörden zum Zwecke der Kartographierung, der Aktenführung und der Repression etabliert wurden, hat man in diesen letzten Jahren äußerst unterschiedliche Personen gesehen, die für Angriffe auf die permanente Konnektivität verurteilt wurden. Während der Glanzzeiten der Gelbwesten haben beispielsweise zahlreiche Kleingruppen Sabotagen innerhalb oder am Rande dieser Bewegung der heterogenen Revolte verübt. Andere Verurteilte betonten vor dem Gericht ihre ökologische Sensibilität, ihren Widerstand gegen 5G wegen seiner schädlichen Auswirkungen auf die Gesundheit und die Umwelt, ihre linke Gesinnung oder ihre Verweigerung der Kontrolle. Andere wieder, auch mit belastenden Beweisen und letzten Endes Verurteilungen konfrontiert, weigerten sich bis zum Ende vor Gericht oder in der Presse lange Erklärungen abzugeben. Hinter ihrer sturen Stummheit könnten sich sicherlich wenig freiheitliche Ansichten verstecken, allerdings heißt der Umstand, dass man keinen Sinn darin sieht, seine Spannungen und seine Ideen einem Journalisten zu erklären, sicherlich nicht, dass man notwendigerweise kein „Problem damit hat mit Verschwörungstheoretikern oder Rechtsextremen in Verbindung gebracht zu werden“. Genauso wie der Umstand, dass man nicht Teil eines mehr oder weniger „militanten“ Milieus ist, dass man kein „Solidaritätskomitee“ hat, das die eigenen Ideen verteidigt, sobald die Bullen sich auf einen stürzen, dass man keine öffentlichen Briefe schreibt, um unsere Handlungen zu erklären, nicht heißt, dass man automatisch Teil der „Faschos“ ist, die planen einen Rassenkrieg durch das Verursachen von Chaos auszulösen, oder der „Verschwörungstheoretiker“, die sich den Kopf im digitalen Netz vollstopfen lassen, oder der „Fundis“, die die neuen Technologien als Werk des Teufels betrachten.

In den letzten Monaten haben Presseschlagzeilen wie jene am Anfang des Textes zitierten etwas, das einige das „Wohlwollen“ gegenüber dem Schweigen der Urheber von Angriffen nennen würden, strapaziert, was sogar so weit ging, bei Gefährten einen existenziellen Fieberschub auszulösen. Die Logik scheint dabei standzuhalten: wenn es erwiesenermaßen hinter all den anonymen Angriffen – ja, das muss man hier erklären, die meisten Angriffe gegen die Telekommunikationsinfrastruktur wurden nicht von einem Communiqué begleitet und haben weder den Ermittlern noch den wachsamen Hütern der Genealogie einen Hinweis auf die ideologische Gesinnung gegeben – manchmal wenig empfehlenswerte Leute wie Gotteserleuchtete, patriotische Aktivisten oder besonders verwirrte Personen gegeben hat, die sich in irgendwas verrannt haben,… dann muss also jeder anonyme Angriff als etwas behandelt werden, das möglicherweise, sehr möglicherweise, von wenig empfehlenswerten Leuten kommt.

Der logische Fehler springt einem sofort ins Auge, doch was für eine Bedeutung haben schon die Überlegungen, die Argumente, die kritischen Evaluationen oder die Vertiefungen, wenn es einfacher ist sich alleine im Wald zu wähnen anstatt zu begreifen, dass nicht verachtenswerte Personen, die man nicht kennt und die vielleicht, ja wahrscheinlich, sehr unterschiedliche Visionen und Empfindsamkeiten von den unsrigen haben, ebenfalls durch das Unterholz schleichen könnten. Alleine im Wald, alleine wie Anarchisten, edle Diener eines höheren Ideals, ohne Widersprüche in unserem Leben, ohne „Schandflecken“ auf unserem ererbten Wappen, ohne Zweifel in unserem Denken und ohne „Fehl und Tadel“ in unseren Beziehungen und unserer Lebensweise, klar wie ein Vollmond und ohne eine einzige „revolutionäre“ oder „aufständische Illusion“. Trotzdem, auch wenn es immer möglich ist, sich selbst in die Tasche zu lügen, auch wenn es immer möglich ist sich ein Kartenhaus zu errichten, das der erste Windhauch der Realität wie Sand davonfegen wird, gibt es auch andere Wege, die sich nicht von der Welt, die uns umgebt, abgrenzen, die es nicht nötig haben unsere Ideen und jene, die sie verkörpern, auf ein Podest überhalb jeder Möglichkeit eines Fehlers zu erheben, um dem Kampf einen Sinn und unserem Leben Bedeutung zu verleihen.

Denn wir sind im Wald nicht allein. Wir sind nicht die einzigen menschlichen Faktoren der Unordnung, genauso wie die Menschen nicht mal der einzige Faktor sind, der die fragilen Gleichgewichte, auf denen die Welt in voller vernichtender Niederlage sich fortzubewegen sucht, ins Schwanken bringt. Andere Personen handeln, vielleicht mit weniger vertieften Ideen als den deinen, mit feineren Empfindsamkeiten als den meinen, von einem unmittelbaren Verlangen nach Rache gegen ein tödliches System bewegt, von einer finsteren Rache gegen ein Leben, dem jeder Sinn genommen wurde, ebenso wie von einem ideologischen oder religiösen Glauben, der in Konflikt ist mit dem technologischen Marsch der Welt.

Die Gründe

»Weil im Grunde das Wesentliche der Frage nicht die vermuteten Beweggründe von absoluten Unbekannten, über die man sowieso niemals etwas wissen wird (außer im Falle einer eventuellen Verhaftung, die wir niemandem wünschen), betrifft, sondern wie wir, innerhalb des sozialen Krieges, unsere Handlungen, die zu uns sprechen und mit unseren Ideen vibrieren, widerhallen lassen wollen. Ob sie nun kollektiv sind oder individuell, diffus oder sehr konkret, breit teilbar oder bösartig ketzerisch, komplett anonym oder subversiv gelabelt, im Schatten der Projektoren oder von ihren Urhebern auf verschiedene Weisen publik gemacht.«

Wanted interconnectés, Juli 2021

Angesichts der Feststellung, dass der Wald nicht nur Anarchisten Schutz bietet, öffnen sich im Großen und Ganzen zwei Möglichkeiten mit wie immer tausenden dazwischen liegenden Nuancen.

Die erste besteht darin zu denken, dass angesichts dessen, dass niemand anderes als wir anarchistische Ideen teilt (zumindest in ihrer Ganzheit, die sie stark von anderen Ideologien unterscheiden, die man mehr oder weniger je nach Situation und Präferenz des Moments in Stückchen zerschneiden kann), alle „Akte der Revolte“, alle „Momente der Unordnung“, alle „Fragmente des sozialen Kriegs“ oder wie auch immer man das nennen will, sicherlich das Panorama, den Hintergrund ausmachen, in dem wir handeln, aber dass wir uns davor hüten müssen, ihnen irgendwelche Beweggründe zu unterstellen. Dann, je mehr im Laufe der Zeit Beweggründe dem Zwielicht des Waldes entfliehen und diesen Handlungen eine bestimmte Farbe verleihen, eine Farbe, die uns aus Prinzip schon nicht ganz und gar gefallen kann (da schließlich die Anarchisten die einzigen sind, die anarchistische Ideen teilen), desto mehr wird es nötig sein unsere Absichten und Beweggründe gegenüber denen der anderen zu betonen oder klarzustellen. Denn jedes Schweigen von unserer Seite aus könnte Wasser auf den Mühlen der Absichten und Beweggründe sein, die wir nicht teilen. Wir sind also dazu gezwungen Fackeln inmitten des Wald zu entfachen, und dafür zu sorgen, dass die Scheiterhaufen, die wir damit entzünden, stärker, höher und heller brennen als die der anderen. Und dabei stark zu riskieren, dass in Wirklichkeit die anarchistische Identität unsere Hauptsorge wird, dass man damit endet (einschließlich in unseren eigenen Kreisen) eine Art von Katechismus zu etablieren, der die guten und die schlechten Punkte abhakt, und damit letztlich darin versagt, die Diversität und den Reichtum der Individualitäten als eine Frucht der Freiheit zu begreifen, sondern als eine fürchterliche Bedrohung.

Die zweite Möglichkeit bleibt immer noch diejenige, von uns selbst auszugehen, von unseren anarchistischen Ideen und Antrieben, aber die anderen „Faktoren der Unordnung“ nicht als Dinge zu begreifen, die es zu assimilieren oder sie derart zu präsentieren gilt, als seien sie – unbewusst und begraben – vom heiligen Feuer der Anarchie inspiriert, sonder einfach als Elemente, die ihr Gewicht und ihre Bedeutung im konkreten (und nicht etwa platonischen oder idealistischen) Krieg, der von den Menschen geführt wird, haben. Ein „sozialer“ Krieg, wenn man so will, im Sinne, in dem dieser die ganze Gesellschaft durchzieht und um die Frage der Herrschaft (in all ihren Deklinationen) kreist, und wo die Anarchisten jene sind, die die Notwendigkeit der Zerstörung der Herrschaft anstatt ihrer Reorganisierung verteidigen. Dieser „soziale Krieg“ ist nicht der Ausdruck einer Spannung in Richtung der „totalen Befreiung“ oder „der Anarchie“, er macht nur den Konflikt aus, aus dem die sozialen Beziehungen geboren werden und sich verändern, die wiederum im Gegenzug die Modalitäten dieses „sozialen Krieges“ prägen. Die von jenen, die an diesem Krieg beteiligt sind, stillschweigend oder explizit geäußerten Beweggründe müssen also in ihren historischen Kontext platziert und nicht extrahiert werden, um sie dann im Pantheon der Abstraktionen zu vergleichen.

Ohne natürlich ihr Gewicht zu leugnen, nimmt diese zweite Möglichkeit (entschuldigt mich für diese viel zu grobe Schematisierung) damit diese Beweggründe nicht als die einzige Referenz, als einzigen Hinweis der Realität, sondern als eine unter anderen. Das Bedürfnis eine Genealogie der „Akte der Revolte“ herzustellen, die Beweggründe der Urheber herauszufinden, ist viel weniger spürbar – ebenso das Bedürfnis systematisch Erklärungen der eigenen zu liefern. Der Erklärung der Handlungen macht damit Platz für die Elaborierung einer Projektualität, die danach strebt über jede einzelne von ihnen hinauszugehen, und der Umstand, dass diese Projektualität aufständische (die Entfesselung einer Situation des Bruchs) oder andere Absichten hat, macht dabei nicht notwendigerweise einen großen Unterschied. Es stimmt, wie es einige Kritiken betonen, dass dies dazu führen kann, das Gewicht der Beweggründe komplett beiseite zu schieben und damit zu riskieren, angesichts dieses Faktors blind zu werden, der tatsächlich zwar nicht der einzige ist, trotzdem aber einer bleibt. In diesem Fall, wenn die „Beweggründe“ hinter den Akten der Revolte nicht das exklusive Element sind, die die Anarchisten in dem, was sie verursachen, interessiert, darf das aber ebenso nicht dazu führen, ihren Einfluss auf die Realität des sozialen Kriegs komplett zu leugnen.

Handlungen, die für sich selbst sprechen?

»Nichts von dem, das geäußert wird, kann so von Drohung beladen sein wie jenes, das es nicht ist.«

Stig Dagerman

In der komplexen Realität, die die unsere ist, sind die Dinge natürlich noch komplizierter und enden sogar damit, jeden Schematismus und jedes Begreifen in ein schönes Chaos zu stürzen und dabei einige zusätzliche Bemerkungen nötig zu machen.

Einerseits, wenn das Schweigen der Aufständischen manchmal letztlich das Gewicht der Beweggründe verdunkelt, antwortet es andererseits auf die praktische Notwendigkeit, dem staatlichen Feind keinen Hinweis zu geben. Auf dieselbe Weise, wenn man einerseits nur schwerlich die Notwendigkeit bezweifelt, seine Gründe in einem wirren Kontext klarzustellen, ja gar in einem Kontext der scharfen Unzufriedenheit, die mit einer strategischen Projektion der Neofaschisten zusammenprallt (wie der gegenwärtige Widerstand gegen den »Pass Sanitaire« und die Angriffe auf Strukturen wie die Impfzentren), muss man andererseits klarsichtig bleiben, was das begrenzte Gewicht von Worten betrifft und was sie auszudrücken und zu vermitteln vermögen. Das gilt natürlich für jeden sprachlichen Ausdruck, vom Plakat zum Flyer und der Diskussion bis hin zur Zeitung oder einem Bekennerschreiben: alle sind von der Fähigkeit des anderen abhängig, das, was geschrieben oder gesagt wurde, zu verstehen.

Wenn man beispielsweise weiterhin in der Lage sein will, die Handlungen der anderen als diverse Ausdrücke innerhalb des „sozialen Krieges“ gut zu finden – von Angriffen auf Bullen in den Banlieues bis hin zu anonymen Infrastruktursabotagen –, muss man offensichtlich eine andere Weise finden das zu tun, als alles auf der kleinen Waage des Anarchismus abzuwägen. Oder wenn doch, müsste man sich definitiv darauf beschränken nur Handlungen zu erwähnen, zu denen sich vorschriftsgemäß Anarchisten bekannt haben, das einzige Mittel um radikal jedes Risiko der Spekulation, voreiligen Zustimmung oder ungesunden Nachforschung zu vermeiden – wohl wissend, dass auch das nur vorläufig sein kann, weil der Anarchist, der gestern eine schöne Handlung vollbracht hat, sich heute immer noch als Drecksack in seinen alltäglichen Beziehungen entpuppen oder morgen seine Meinung ändern kann…

Auf jeden Fall bleibt es im Grunde natürlich wichtig sich die Zeit zu nehmen unsere Beziehungen zu den anderen Lebewesen im Wald auf kritische Art und Weise zu vertiefen, ebenso unsere Art und Weise zu handeln. Jedoch, ebenso wie es tatsächlich weder ein Rezept gibt, das man einfach anwenden, noch ein Dogma, das man einfach hinunterbeten kann, kann es umgekehrt auch keine zu befolgenden Bedienungshinweise dazu geben, „wie man etwas macht“, deren Missachtung mit der Anklage, sich hinter Faschos und anderen Erleuchteten verstecken zu wollen, geahndet wird. Niemand, nicht einmal die borniertesten unter ihnen, werden wagen den Gefährtinnen und Gefährten die Verpflichtung aufzuerlegen ihre Handlungen zu erklären, ihr Projekt detailliert vorzustellen und zu rechtfertigen, ihre Handlungen hinsichtlich gewisser Vorgaben zu labeln, nur um der Bissigkeit irgendeines Chronisten des sozialen Krieges zu entgehen. Es wird immer jeder und jedem einzelnen zufallen, so zu handeln, wie es ihr oder ihm am besten scheint. Auf die Gefahr hin, die einen in Unwissenheit und Unverständnis zu lassen, und den Schatten zu bewahren um die Aktivitäten der anderen zu decken. Auf die Gefahr hin, die einen durch eine Erklärung, die als zu unredlich beurteilt wird, zu enttäuschen, oder andere durch die klare und präzise Darlegung von Ideen und Gefühlen, die einen zur Handlung inspiriert haben, zu inspirieren.

Denn sprechen letzten Endes die Handlungen für sich? Einerseits ja, in dem Sinne, dass sie die Verwirklichung eines konkreten Angriffs auf eine Struktur oder eine bestimmte Person ist. Die Zerstörung eines Funkmastes ist die Zerstörung eines Funkmastes, egal, wie man das gerne interpretieren würde. Andererseits nein, denn sie können nicht in sich selbst alle Beweggründe, Spannungen, Empfindsamkeiten ausdrücken, die den Urheber dazu motiviert haben diesen umzusetzen. Damit sind Handlungen das, was sie sind, ein materieller zerstörerischer Fakt, der die Vorstellungskraft anregen oder öffnen kann (oder auch nicht), nicht mehr, nicht weniger. Gleichzeitig sind es auch all diese Handlungen, die das Panorama ausmachen, in dem wir handeln, und von dem wir Teil sind. Sie erhalten ihren Sinn also auch in einem Kontext, und nicht nur durch die eventuelle ausdrückliche Äußerung der Urheber. Da sie das Leben anderer Menschen durcheinanderbringen, auf den Kopf stellen, infragestellen, können sie niemals das exklusive Eigentum ihrer Urheber sein, so wie auch die Urheber niemals die einzigen sein werden, die ihnen einen Sinn geben (egal ob es darum geht sie gutzuheißen oder sie zu verurteilen). Angesichts dessen ändert der Umstand sich zu einer Handlung zu bekennen oder auch nicht, nicht radikal etwas an der Ausgangssituation. „Die Anderen“ sind nicht einfach passive Zuschauer, die die Handlungen ebenso wie die Erläuterungen, die die Urheber ihnen manchmal gerne geben wollen, regungslos empfangen: sie sind direkt beteiligt, denn ihr Leben wurde (auf mehr oder weniger kurzlebige Art und Weise) von der Handlung durch den Ekel oder den Enthusiamus, den diese bei ihnen hervorruft, etc., etc. verändert.

Kann also eine Bekennung zum Verständnis einer Handlung beitragen? Natürlich, ebenso wie sie sie umgekehrt ihren Lesern unverständlich machen kann, indem sie sie beispielsweise so sehr aufbläht oder mit so vielen Wort umgibt, dass letztere die Handlung letzten Endes beinahe in ihrem Referat ertränken und damit den einfachen Vorschlag begraben, den diese immer enthält: lasst uns kaputt machen, was uns kaputt macht. Und kann außerdem der Umstand sich zu bekennen wirklich davor bewahren mit wenig empfehlenswerten Menschen in einen Topf geworfen zu werden? Da der Wald weitläufig ist und die Handlungen deutlich weiter und über unsere Worte hinaus widerhallen (die „Auswirkungen“ der Propaganda, ob sie nun von anarchistischen Zeitungen oder von anarchistischen Bekennerschreiben ausgeht, werden immer begrenzt bleiben), würde man eher dazu neigen, dies zu relativieren, und auf jeden Fall die Bekennung nicht als eine Art Zauberlösung zu betrachten, als ein Wundermittel, das alle Probleme lösen soll, die die Handlungen und ihr mögliches Verständnis hervorrufen.

Links, rechts, links, rechts: jenseits davon!

»Dass die Linken seit Wochen Hand in Hand mit Faschos/Verschwörungstheoretikern auf die Straße gehen, sollte uns eine Warnung vor der Gefahr der Idee eines gemeinsamen Kampfes sein, die dazu führt, dass es uns egal ist, mit wem wir kämpfen, solange man die gleiche Praxis und das gleiche Ziel hat. Man vergisst, dass die Menschen, deren Handlungen man bejubelt, oder mit denen man demonstriert, Positionen haben, die hinsichtlich quasi allem mit den unseren in Widerspruch stehen, und dass wir in anderen Kontexten ihr Angriffsziel sein werden.«

Einige solidarische Widerborste, ihn ihrem Bekennerschreiben eines Orange-Fahrzeugs in Grenoble, September 2021

Seit mehreren Monaten scheint ein Großteil des Widerstands gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung von Personen aus dem rechten Spektrum auszugehen. In anderen Ländern ebenfalls, wie in Italien, in den Niederlanden oder in Deutschland sind Faschos in großer Zahl auf die Straße gegangen und haben ihre Anwesenheit bei Mobilisierungen des sehr heterogenen Restes klar deutlich gemacht. Mehrere Male wurden Anarchisten sogar von faschistischen Gruppen angegriffen, und glücklicherweise hat das auch umgekehrt stattgefunden. Trotzdem bedeutet sich auf einem selben Konfliktfeld wiederzufinden nicht notwendigerweise sich das ekelhafte Vokabular von Opportunisten, die auf der Suche nach einer „Querfront“ sind oder „objektive Allianzen“ als politische Strategie theoretisieren, angeeignet zu haben. Wenn man auch immer noch die Möglichkeit hat die Tür zuzuknallen und ein Kampffeld aufzugeben, das uns keine subversive oder Handlungsmöglichkeit, die die Freiheit in sich trägt, mehr zu bieten scheint, wird jedoch kein Konflikt jemals vollständig den antiautoritären Kriterien entsprechen. In einem Konfliktfeld, das nicht „rein“ ist (aber welches Konfliktfeld ist das schon?), zu handeln bedeutet natürlich nicht den Autoritarismus zu unterstützen, der dort vorhanden sein kann, und die Frage wird immer viel eher jene bleiben, wie wir handeln, und mit welcher Perspektive.

Auf der anderen Seite des Rheins gibt es große Teile der linksradikalen und libertären Bewegung, die jenen, die die anonymen Angriffe auf die Telekommunikations- und Energieinfrastrukturen verteidigen, vorwerfen, eine Querfront mit den Nazis zu bilden, oder zumindest ihr Spiel mitzuspielen (weil die militanten Nazis im Allgemeinen nicht so versessen auf Bekennerschreiben sind und ebenfalls den Angriff auf Infrastruktur theoretisieren, um so den Tag X herbeizuführen, den Tag des gesellschaftlichen Zusammenbruchs und den Beginn des „Rassenkriegs“). Da außerdem ein Großteil des Terrains rund um den Widerstand gegen 5G von offen verschwörungstheoretischen und der extremen Rechten wohlwollend gegenüberstehenden Komitees („Querdenker“) besetzt zu sein scheint, werden Angriffe auf die Infrastruktur nicht mehr als Sabotagen gegen die Technowelt wahrgenommen, sondern als Beweise für die Virulenz der Nazis. Vom hohen Ross der antifaschistischen Kollektive und Kreise der Bewegung aus werden also Handlungen, zu denen sich niemand bekannt hat, diskreditiert, sobald das para-polizeiliche Prinzip, dass „eine Handlung gegen eine Infrastruktur, zu der sich niemand bekannt hat, einer Nazi-Aktion entspricht“, erst einmal etabliert wurde. Was noch für viele von ihnen dadurch verstärkt wird, dass sie im Allgemeinen als gute Jünger:innen des kollektiven und zivilisatorischen Fortschritts die subversive Tragweite von Angriffen auf dieses „Gemeingut“, das in ihren Augen die Elektrizität und die virtuelle Konnektivität sind, nicht zu erkennen vermögen.

Angesichts der aktuellen technologischen Restrukturierungen der Herrschaft, und egal von welcher Seite aus man diese betrachtet, bleibt ein kleiner Satz von Orwell – beileibe kein Feind jeglicher Herrschaft – beunruhigend aktuell: „Die wahre Spaltung besteht nicht zwischen Konservativen und Revolutionären, sondern zwischen Autoritären und Libertären.“ Jenseits des Rheins klagen diese Stimmen der deutschen radikalen und/oder libertären Linken also nicht nur die Anarchisten an mithilfe von Angriffen auf die Infrastruktur (die zum Hauptziel haben Chaos zu stiften und die technologischen Ketten anzugreifen, Praktiken, die in eine aufständische Projektualität eingebettet sein können oder auch nicht) einen „Bürgerkrieg“ auslösen zu wollen, sondern sie bestehen dann auch erhobenen Zeigefingers darauf, dass solche Angriffe deshalb zumindest von politischen Beteuerungen des guten Willens („soziale Gerechtigkeit“ und „progressive Emanzipation“ statt der Entfesselung der Freiheit, „gegen die Herrschenden“, aber immer indem man sich verständnisvoll gegenüber der Unterwerfung und Zustimmung der Beherrschten zeigt) begleitet sein müssten. Tatsächlich verlangen sie lediglich die Fortsetzung der guten alten opportunistischen Tradition, die sicherlich motiviert ist sich der Waffe der Sabotage zu bedienen, aber nur zu der Bedingung, dass sie als Medium und Sprachrohr für die politischen Pläne dient.

Und wenn nun die Anarchisten hier und anderswo letzten Endes mehr oder weniger dasselbe tun würden? Wenn sie Erklärungen für jeden Akt der Infrastruktursabotage verlangen würden, wenn sie sich faktisch von jeder Handlung, zu der sich nicht als „anarchistisch“ bekannt wurde, distanzieren würden, wenn sie überall nur noch die Hand der Nazis, der Verschwörungstheoretiker – und warum nicht, ein Klassiker des letzten Jahrhunderts: der ausländischen Geheimdienste – hinter den Sabotagen, deren Urheber sich dazu entscheiden im Schatten zu bleiben, sehen würden? Sie würden also darin enden, jede Projektion und jeden Willen, die eine unkontrollierte Vervielfachung der Sabotagen an Telekommunikations-, Energie- und Logistikinfrastruktur erhoffen und daran arbeiten, über Bord zu werfen, um nur noch ihre einer ideologischen Kontrolle unterworfene Vervielfachung zu akzeptieren und wertzuschätzen. Würde das bedeuten die Freiheit zu verteidigen oder eher sich vor ihr zu fürchten?

Der Umstand, dass Faschos/Verschwörungstheoretiker oder sogar Mönche einige Funkmasten angegriffen haben, nimmt kein einziges Gramm Richtigkeit daran einfach all diese Strukturen anzugreifen, zu Sabotagen gegen diese ermutigen zu wollen, die unkontrollierbare Vervielfachung letzterer zu erhoffen und daran zu arbeiten. Jedoch könnte uns das dazu zwingen noch mehr darüber nachzudenken, warum diese Handlungen vorgeschlagen werden könnten, warum wir wirklich ihre Verbreitung wollen, d. h. darüber nachzudenken um unsere Perspektiven zu verfeinern. Wenn die Terrains zu verlassen, wo andere auch aktiv sind, keine Option ist, wenn systematisch jede Handlung zu labeln nicht die Frage nach dem „selben Terrain“ löst, dann bedeutet das, dass man noch weiter suchen muss: in der Perspektive, die wir unserem Handeln geben, in den Ideen, die wir verbreiten, in den Methodologien, die wir vorschlagen, in den Projekten, die wir entwickeln.

Welche Freiheit?

Die Freiheit zu entfesseln bedeutet das Unvorhersehbare zu akzeptieren, das die Unordnung in sich trägt. Es bedeutet zu akzeptieren, dass die Freiheit nicht immer sanft ist, sondern dass sie auch ein blutiges Gesicht annehmen kann, wir wollen sie trotzdem. Wir wollen keine Freiheit, die von Risiken befreit wurde, noch wollen wir von der Freiheit verlangen, dass sie ihre Bescheinigungen, die ihr ein gutes Leben und Gebräuche attestieren, mitbringt, ehe wir sie bei uns einlassen. Das wäre keine Freiheit, das wäre Domestizierung, die sich mit libertärer Kleidung getarnt hat, der beste Boden, auf dem der Keim der Autorität wieder beginnen würde zu wachsen.“

La Forêt de l’agir, April 2021

Welche Perspektiven kann man also erkunden? Man könnte mit jenen beginnen, die man verstehen kann, uns aber am wenigsten inspirieren. Zum Beispiel diejenige, die häufig zwischen den Zeilen hindurchschlüpft, es aber schwer hat explizit ausgesprochen zu werden: es handelt sich um jene Perspektive, die die Existenz und die qualitative wie quantitative Verstärkung der anarchistischen Bewegung zum Hauptziel hat. Eine stärkere, größere, besser organisierte Bewegung, die in der Lage wäre sich den obskuren Kräften des Faschismus, der verschwörungstheoretischen Manipulation von sehr realer Wut, den linken Ideologien, deren Rolle wohl zu sein scheint den Kapitalismus und die Herrschaft in eine nachhaltigere, technologischere, fairere Zukunft zu begleiten, entgegenzustellen. Eine Bewegung, die es wagt sich selbst als Referenzpunkt zu betrachten, und die eine ausreichende Fähigkeit der Verbreitung, des Angriffs und der Relevanz entwickelt um eine wahre Kraft zu sein, die in der Lage ist in der öffentlichen Debatte Gewicht zu haben, den Unterschied in dazwischenliegenden Kämpfen zu machen, Nazis von Demonstrationen zu verjagen.

Bei einer solchen Perspektive gibt es ein starkes Risiko, dass die quantitative Verstärkung der anarchistischen Bewegung, die an sich bereits schwer vorstellbar ist (denkt man alles in allem wirklich, dass anarchistische Ideen heutzutage von Massen von Personen geteilt werden könnten?), sich letztlich mit der Repräsentation einer solchen Verstärkung zufrieden geben wird. Der Spiegeleffekt verführt leicht zum Exhibitionismus und entleert damit rasch den Kampf, um ihn mit einem Bild zu ersetzen, das man für real hält. Letztlich endet eine solche Perspektive normalerweise damit die anarchistische Identität zu verstärken, um dann mit leidenschaftlicher Feindschaft… die anderen Waldbewohner anzugreifen. Um dies zu tun hat diese Identität also Tendenz sich überdimensioniert aufzublähen, der Form den Vorrang vor der Qualität der Substanz zu geben, und endet damit, sich mittels Vergleichen im Spiegel der Repräsentation mit allen anderen Identitäten zu messen.

Andere Wege bleiben jedoch möglich, die sicherlich etwas düsterer und gefährlicher sind. Wege, die nicht für jene gemacht sind, die sich vor Schlamm fürchten oder die es nicht ertragen können im Schatten zu arbeiten. Wege, an deren Ende keine Garantie existiert, keine Anerkennung, die uns erwartet, die nicht die bloße Existenz von Anarchisten und ihr Überleben als das Alpha und Omega der Subversion oder der Anarchie betrachten. Es handelt sich um den Weg, der sich mal steil aufwärts, mal steil abwärts durch die Landschaft schlängelt, um den Zug des Fortschritts und der aktuellen Gesellschaft zum Entgleisen zu bringen. Ohne dabei die Verbreitung unserer Ideen (mittels verschiedener Mittel) aufzugeben, ohne die Nützlichkeit und die Notwendigkeit der anarchistischen Kritik zu unterschätzen, zielt der Weg, von dem wir hier sprechen, insbesondere darauf ab, zur Erschütterung der Situation, zur aufständischen Explosion, zum Zusammenbruch dessen, was die produktiven und sozialen Strukturen aufrechterhält, beizutragen. Dieses Projekt, diese Projektualität zielt weder auf das numerische Wachstum der anarchistischen Bewegung, noch auf die Vergrößerung ihres Rufs, sondern darauf, die sozialen Konflikte auf eine umfangreichere Umwälzung auszuweiten; weil auf eine unkontrollierte Vervielfachung der Handlungen und auf den unerwarteten Abbruch der Verbindung hinzuarbeiten das Aufkommen von Freiheit erlauben könnte, ja besser noch, sie ist eines der Gesichter, die die Freiheit, die heute losstürzt, annimmt.

Der Umstand, dass einige, deren Beweggründe wir sicher nicht teilen, sich ebenfalls daran beteiligen, dass andere, von denen wir überhaupt nichts wissen, sich auch darauf verlegen, verursacht in uns keine lähmende Angst, und treibt uns auch nicht dazu an einem exhibitionistischen Sichüberbieten teilzunehmen (eine Falle so alt wie die Welt, von allen gestrigen und heutigen Nachrichtendiensten bekannt und gestellt), sondern treibt uns vielmehr dazu, unsere Vorschläge, unsere Projektualität, unsere Ethik weiter zu verfeinern. Und vor allem mit unseren Mitteln und bescheidenen Fähigkeiten die dringende Zerstörung der aktuellen Gesellschaft voranzutreiben.


Übersetzung aus dem Französischen,  „En tâtonnant…“, Avis de Tempêtes #46, 15. Oktober 2021

Über Communiqués

Die Frage von Bekennungen und Communiqués wurde und wird immer wieder heftig diskutiert. Unserer Meinung nach werden im deutschsprachigen Raum viel zu häufig und vor allem viel zu ausschweifende Communiqués zu Angriffen verfasst, die entweder selbsterklärend sind, oder aber auch mit wenigen Zeilen erklärt werden könnten. Als Herausgeber*innen einer Zeitung, in der wir selbstverständlich auch diverse Angriffe auf die Herrschaft abbilden wollen, mit denen wir Sympathien empfinden, stehen wir vor dem Problem, dass wir einerseits die Entscheidung von Angreifer*innen, die Communiqués verfassen respektieren und diese entsprechend möglichst ungekürzt wiedergeben wollen, andererseits keinesfalls der Dynamik zutragen wollen, dass Angriffe, die nicht von Communiqués begleitet sind, alleine schon vom beanspruchten Platz, den diese im Vergleich zu ellenlangen Communiqués einnehmen, untergehen. Wir haben uns daher für eine sehr pragmatische Lösung entschieden: Je länger ein Communiqué, desto kleiner werden wir die Schriftgröße wählen, in der wir es abdrucken, im Zweifel ohne jede Rücksicht auf Lesbarkeit. Natürlich mag es immer auch Ausnahmen geben, denn natürlich mag es auch Communiqués geben, die notwendig erscheinen, um den Kontext und die Gründe eines Angriffs zu erklären. Allerdings kann man wohl mit gutem Recht sagen, dass dies nur auf eine absolute Minderheit der Fälle zutrifft.

Selbstverständlich werden wir über Angriffe, zu denen es uns bekannte Communiqués gibt, die diese Angriffe trotz grundsätzlicher Sympathien mit unseren Ideen unvereinbar erscheinen lassen, nicht berichten.

Und wo wir hier schon einmal davon reden, wollen wir auch kurz und knapp auf die Gefahren, die das Verfassen von Communiqués unserer Meinung nach mit sich bringt, eingehen:

  • Mithilfe von Stylometrischen Untersuchungen arbeitet das BKA daran, Communiqués, ebenso wie andere Texte bestimmter Millieus einander zuzuordnen, um so Hinweise auf Tatserien, ebenso wie Täter*innen zu bekommen. Mehr dazu hier.
  • Es ist äußerst schwierig beim Veröffentlichen von Communiqués, sei es in der klassischen Form auf Papier oder auch im Internet jegliche Spuren zu vermeiden. Selbst wenn Communiqués in nicht-persistenter Form (beispielsweise mithilfe von Tails) verfasst und unter Einsatz von Anonymisierungssoftware (wie beispielsweise Tor) publiziert werden, so gibt es dabei eine Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigen, die letztlich dennoch zur Ergreifung von Täter*innen führen können.
  • Selbst wenn die Publikation eines Communiqués soweit klappte, ist es in der Vergangenheit durchaus schon passiert, dass Personen bei dieser Tätigkeit observiert wurden und auch wenn die Cops nicht gesehen haben, was genau sie da an ihrem Computer getrieben haben, ihnen diese Tätigkeit im Nachhinein dennoch zuordnen konnten.

Wer schreibt denn da?

Ein kleiner Überblick über Methoden der modernen Forensischen Linguistik zur Autorschaftsbestimmung

Der folgende Artikel versucht aus einer nicht fachlichen Perspektive einen Überblick zu geben und eine entsprechende Einordnung vorzunehmen. Es gibt einige wissenschaftliche Publikationen zu diesem Thema, die für eine bessere Einschätzung ausgewertet werden könnten. Es geht mir hier aber vor allem darum, das Thema einmal aufzuwerfen und nicht darum, eine fundierte und abschließende Betrachtung zu liefern. Wenn du also irgendetwas besser weißt, dann immer her mit den Informationen!

Spuren vermeiden, die einer später einmal – vielleicht noch nach Jahren und Jahrzehnten – zum Verhängnis werden könnten, das dürfte wohl für die Meisten von Interesse sein, die ab und an zur Tat schreiten und dabei in Konflikt mit dem Gesetz geraten. Fingerabdrücke vermeiden, DNA-Hinterlassenschaften vermeiden, Schuhabdrücke und Textilfaser-Spuren vermeiden oder zumindest getragene Kleidung im Anschluss entsorgen, Videoaufnahmen vermeiden, Werkzeugspuren vermeiden, Aufzeichnungen jeder Art vermeiden, Observationen erkennen usw., all das dürfte dabei zumindest mehr oder weniger jeder, die des öfteren Verbrechen begeht und sich dabei vor Identifizierung schützen will, ein Anliegen sein. Aber wie steht es mit jenen Spuren, die oft erst im Nachhinein eines Verbrechens aus dem Drang heraus, die eigene Tat wenigstens anonym oder auch unter Verwendung eines wiederkehrenden Pseudomyms zu erklären, entstehen? Beim Verfassen und Publizieren eines Communiqués oder eines Bekenner*innenschreibens?

Mein Eindruck ist, dass diesen Spuren trotz einer rasanten technologischen Entwicklung der Analysekapazitäten in vielen Fällen keine besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. Das kann Absicht sein, Nachlässigkeit oder auch ein Kompromiss aus miteinander konkurrierenden Bedürfnissen. Ohne hier einen allgemeinen Vorschlag zum Umgang mit diesen Spuren unterbreiten zu wollen – das muss schließlich jede für sich wissen –, möchte ich vor allem skizzieren, mit welchen Methoden die Ermittlungsbehörden in Deutschland und anderswo derzeit (wahrscheinlich) arbeiten, was grundsätzlich möglich scheint und was in Zukunft möglich werden könnte.

Vielleicht sollte ich vorab noch bemerken, dass freilich alles oder zumindest das allermeiste, was ich hier vorstelle wissenschaftlich ebenso wie juristisch umstritten ist. Ich bin auch weniger an der juristischen Verwertbarkeit von Sprachanalysen interessiert – und an der wissenschaftlichen sowieso nicht –, als daran, ob es plausibel erscheint, dass diese Ermittler*innen einer auf die Spur bringen, denn selbst wenn eine Spur gerichtlich nicht verwertbar ist, so kann es dennoch dazu führen, dass diese zur Ermittlung einer anderen, verwertbaren Spur führt.

Autorenerkennung beim BKA

Das Bundeskriminalamt unterhält eigenen Angaben zufolge eine Abteilung, die sich der Ermittlung der Autor*innenschaft bei Texten widmet. Im Fokus stehen dabei Texte mit einem Bezug zu Straftaten wie Bekenner*innenschreiben, aber auch „Positionspapiere“ unter anderem aus dem „linksextremistischen Spektrum“. Alle gesammelten Texte werden aufbereitet durch sprachwissenschaftliche Untersuchungen in einer sogenannten Tatschreibensammlung erfasst und sind mit dem Kriminaltechnischen Informationssystem Texte (KISTE) vergleich- und durchsuchbar. Den Angaben des BKA zufolge werden die Texte unter anderem klassifiziert nach den folgenden biografischen Merkmalen ihrer (vermeintlichen) Autor*innen: Herkunft, Alter, Bildung und Tätigkeit.

Alle eingehenden Texte werden zudem mit bereits erfassten Texten verglichen, um zu bestimmen, ob mehrere Texte möglicherweise von der gleichen Autor*in verfasst wurden.

Im Rahmen fallspezifischer Ermittlungen können die gespeicherten Texte zudem mit Texten, deren Autor*innenschaft bekannt ist verglichen werden, um zu bestimmen, ob diese von der gleichen Autor*in verfasst wurden, oder ob dies ausgeschlossen werden kann.

Soweit die offiziellen Angaben des BKA zu dieser Abteilung. Was bedeutet das in der Praxis?

Ich denke, dass man davon ausgehen kann, dass zumindest alle Bekenner*innenschreiben in dieser Datenbank erfasst werden und daraufhin analysiert werden, ob von der/den gleichen Autor*in(en) noch weitere Bekenner*innenschreiben vorhanden sind. Aber die Feststellung, dass auch „Positionspapiere“ erfasst werden, lässt noch weitere Schlüsse zu: Zumindest erscheint es möglich, dass neben Texten mit strafrechtlicher Relevanz auch andere Texte eingespeichert werden, die einer bestimmten Szene zugeordnet werden. Beispielsweise Texte aus entsprechenden Zeitungen, Erklärungen von politischen Gruppen/Organisationen, Aufrufe, Blogbeiträge, usw. Im schlimmsten Fall würde ich also davon ausgehen, dass alle publizierten Texte auf bekannten „linksextremistischen“ Webseiten (da ist es schließlich recht einfach, an diese ranzukommen), sowie den Ermittlungsbehörden interessant erscheinende Texte aus Printpublikationen in diese Datenbank eingespeist werden.

Das würde bedeuten, dass dem BKA zu jedem Bekenner*innenschreiben ein Cluster aus Texten mit vermeintlich gleicher Autor*innenschaft vorliegt. Diese können dabei aus anderen Bekenner*innenschreiben bestehen sowie eben auch aus jenen Texten, die sonst noch so in die Datenbank eingespeist wurden. Neben Tatserien können so also auch weitere Hinweise auf Täter*innen gewonnen werden, etwa Pseudonyme, Gruppenbezeichnungen – oder schlimmstenfalls Namen – unter denen eine Verfasser*in eines Bekenntnisses andere womöglich andere Texte verfasst hat, aber je nach Text auch alle möglichen anderen Informationen, die dieser liefert, darunter häufig Hinweise auf Wohn- und Wirkungsort einer Person, thematische Schwerpunkte, biografische Charakteristika, Bildungsweg, usw. Allesamt Informationen, die mindestens dazu genutzt werden können, um den Kreis der Verdächtigen einzuschließen.

Was bei all dem noch unklar bleibt ist, welche weiteren Vergleichsproben das BKA möglicherweise vorhält. Von den meisten Personen gibt es sicher eine ganze Reihe Texte, auf die Ermittlungsbehörden Zugriff haben (könnten) und die im Falle eines Verdachts oder möglicherweise zum Teil auch vorsorglich – wenn eine Person etwa mit einem Eintrag wie „Gewalttäter linksextrem“, etc. bekannt ist – in die Datenbank eingespeist werden könnten. Das kann alles sein, wo dein Name drunter steht, vom Schreiben an eine Behörde bis hin zu einem Leserbrief in der Zeitung unter deinem Namen. Ich will hier absichtlich nur die offensichtlichsten Quellen nennen, um nicht versehentlich den Ermittlungsbehörden die entscheidende Inspiration zu verschaffen, aber ich bin sicher du kannst für dich selbst beantworten, welche Texte von dir zugänglich sein könnten. Gelingt es den Profilern des BKA erst einmal den Verdächtigenkreis auf ein spezifisches Charakteristikum einzugrenzen, das den Abgleich mit massenhaft vorhandenen Textproben ermöglicht (Wenn beispielsweise davon ausgegangen wird, dass ein*e Wissenschaftler*in einer bestimmten Disziplin für ein Schreiben verantwortlich ist, könnten alle Publikationen in diesem Fachbereich als Vergleichsproben herhalten. Das wäre zum Beispiel eine mögliche (Teil-)Erklärung dafür, wie das mit Andrej Holm im Verfahren gegen die militante Gruppe gelaufen sein könnte, zumindest wenn man unterstellt, dass das BKA nicht nur nach „Gentrifizierung“ gegooglet hat), so halte ich es durchaus für möglich, dass solche Analysen auch durchgeführt werden.

Methoden der Autorenerkennung und des Autoren-Profilings

All das betrachtet aber nur, was das BKA von sich behauptet zu können und führt diese Überlegungen weiter. Aber wie funktioniert denn nun eigentlich die Autorenerkennung, bzw. das Autorenprofiling?

Wer kennt sie nicht, die Angst davor, dass eine*n vielleicht der*die Deutschlehrer*in enttarnen wird, nachdem auf der Toilette eine Spottdichtung über eine*n Lehrer*in aufgetaucht ist und sich die ganze Schule darüber lustig macht, wie man nur „Leerer“ statt „Lehrer“ schreiben könne. Aber glücklicherweise ist dann doch das gesamte Deutschkollegium darauf hereingefallen, das Narrativ vom Fehler zu übernehmen und die Augen vor einem nur allzu treffenden Wortspiel zu verschließen. Die Forensische Linguistik scheint doch ein wenig Übung oder zumindest eine kriminalistische Motivation zu erfordern, wer weiß. Jedenfalls war die Fehleranalyse, von der wohl die meisten schon einmal gehört haben dürften, zusammen mit der Stilanalyse einem Werbeartikel der Sprachbullin Christa Baldauf zufolge um 2002 herum eines der wichtigsten Analyseinstrumente des BKA. Rechtschreibfehler, Grammatikfehler, Interpunktion, aber auch Tippfehler, Neue oder Alte Rechtschreibung, Hinweise auf Tastatureigenheiten, usw., all das dient den Sprachbullen dazu, Hinweise auf den*die Autor*in zu sammlen. Wenn ich beispielsweise „muß“ statt „muss“ schreibe, könnte das ein Hinweis darauf sein, dass ich zu Schulzeiten einige der jüngeren Rechtschreibreformen nicht mehr mitbekommen habe. Wenn ich dagegen Begriffe, die man der Rechtschreibung zufolge mit „ß“ schreibt, ständig mit „ss“ schreibe, könnte das bedeuten, dass auf meiner Tastatur kein „ß“ vorhanden ist. Wenn ich zum Beispiel von „dem Butter“ spreche, könnte das ein Hinweis darauf sein, dass ich in Bayern aufgewachsen bin, usw. Ich könnte all diese Dinge aber auch nur vortäuschen, um die Sprachbullen in die Irre zu führen. Auch das, also die Plausibilität meines Fehlerprofils, ist Teil einer solchen Analyse. Ähnlich untersucht auch die Stilanalyse Eigenheiten meines Schreibstils. Was für Begriffe verwende ich, weist mein Satzbau spezifische Muster auf, gibt es wiederholt auftretende Begriffskonstellationen, die vielleicht sogar in verschiedenen Texten auftauchen, usw. Ich denke jede*r, die*der sich seine*ihre Texte genauer ansieht, wird einige eigene stilistische Charakteristika erkennen.

Solche qualitativen Analysen dienen vor allem dem Profiling der Verfasser*innen. Zwar können auf diese Art und Weise sicher auch unterschiedliche Texte einander zugeordnet werden, aber der eigentliche Wert solcher Analysen liegt darin, Dinge wie, Alter, „Bildungsgrad“, „Szenezugehörigkeit“, regionale Herkunft, ja manchmal vielleicht sogar Hinweise auf Berufstätigkeiten/Ausbildung, usw. bestimmen zu können. Auch Versuche, Dinge wie Geschlecht zu bestimmen, sind bekannt, scheinen aber in der Regel nicht ganz so einfach zu sein.

Demgegenüber gibt es auch eher quantitative und statistische Analysen, die von Worthäufigkeiten über Wortkonstellationen bis hin zur syntaktischen Satzstruktur alle quantitativ messbaren Sprachcharakteristika untersuchen. Diese unter dem Begriff Stilometrie geführten Verfahren sind teilweise sehr umstritten, weil nicht genau gesagt werden kann, was mit ihnen eigentlich gemessen wird/werden soll, liefern gerade in Kombination mit Ansätzen des Machine Learnings aber zum Teil erstaunliche Ergebnisse. Ich denke, dass diese Ansätze daher vor allem dazu genutzt werden dürften, verschiedene Texte nach ihren Ähnlichkeiten zu clustern.

Der klare Vorteil solcher quantitativen Analysen ist, dass diese massenhaft durchgeführt werden können. Sämtliche digital verfügbaren oder digitalisierbaren Texte lassen sich so analysieren. Vom Posting in sozialen Medien bis hin zum Buch können mit diesen Verfahren Texte erfasst werden. Zwar ist der Erfolg dieser Verfahren derzeit noch relativ bescheiden und vielfach hat sich herausgestellt, dass angeblich ähnliche Texte sich häufig mehr in ihrer Gattung geähnelt haben, als in ihrer Autor*innenschaft, aber wenn man davon ausgeht, dass individuelle Schreibstile durchaus quantitative Muster hinterlassen könnten, so heißt das im Umkehrschluss, dass wenn diese Muster erst einmal bekannt sind, eine massenhafte Zuordnung von Texten zu Autor*innen möglich sein wird.

Und was nun?

Es gab und gibt natürlich verschiedene Lösungsansätze mit diesem Wissen umzugehen und vermutlich kann man von keinem sagen, er sei besser oder schlechter als ein anderer. Wer ohnehin keine Communiqués verfasst, die*der geht diesem Problem großteils aus dem Weg, ist aber insoweit trotzdem von dem Problem betroffen, dass Beteiligungen an Publikationen und Urheberschaften von anderen Texten auf gleiche Art und Weise ermittelt werden können. Wer Texte vor Veröffentlichung verfremdet, etwa indem mehrere Personen nacheinander Passagen daraus neu- und umformulieren, etc. läuft Gefahr, bei wiederholt ähnlichen Konstellationen ebenfalls verwertbare sprachliche und stilistische Charakteristika herauszubilden oder auch daran zu scheitern, Charakteristika erfolgreich zu verschleiern. Wer meint, er*sie könne auf das Ganze scheißen, weil ohnehin keine Textproben von einer*m vorliegen oder auch, weil er*sie überzeugt ist, dass die juristische Beweiskraft der Autorenerkennung zu wacklig ist, die*der riskiert, dass in Zukunft doch irgendwie Textproben von einer*einem verfügbar sein könnten (etwa weil sie*er erfolgreich einer Autor*innenschaft überführt wird) oder sich die juristische Würdigung des Verfahrens ändert. Wer darauf vertraut, dass die Technologie (noch) nicht gut genug ist, kann durch zukünftige Entwicklungen überrascht werden. Wer technische Lösungen nutzt, um seine*ihre Autor*innenschaft zu verfremden läuft Gefahr, dabei neue Charakteristika und Spuren zu hinterlassen und zudem schlecht geschriebene Communiqués zu produzieren, die ohnehin keine*r lesen will. Wer sowieso nie irgendwelche Texte schreibt, die*der schreibt eben keine Texte.

Also tue, was immer dir am meisten zusagt, nur tue es ab nun – sofern du das nicht ohnehin schon tatest – eben mit dem Wissen um diese Spuren und dem mulmigen Gefühl im Bauch, das schon so manch eine*n im richtigen Moment davor bewahrt haben soll, einen leichtfertigen Fehler zu begehen.

Übernommen von Zündlumpen #076.