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These zum Covid-1984

Wenn sich mir etwas als Fortschritt vorstellt, frage ich mich vor allem, ob es uns menschlicher oder weniger menschlich macht.

George Orwell

Die unmenschlichsten Aktionen sind heute die Aktionen ohne Menschen.

Günther Anders

I. An der Oberfläche versteckte Wahrheiten

«Wie konnten sie es nicht bemerken und all das akzeptieren?». Das werden sich die Leser der Geschichtsbücher und die Zuschauer der Filme fragen, die in einigen Jahrzehnten die vielen Lügen erzählen werden, die die Epidemie des Covid-19 begleitet und die Herrschaftsprojekte gerechtfertigt haben, die mit dem Vorwand der Epidemiebekämpfung verwirklicht wurden. Und diese posthumen Betrachter werden sich bequem auf die Seite der Tugend schlagen, wie wir wenn wir ein Buch über den Kampf gegen die Nazis lesen oder einen Film über den Aufstand gegen die Sklaverei schauen. Etwas ähnliches wie eine vertiefte und glaubwürdige Rekonstruktion über die Verbreitung und die Auswirkung der sog. „Spanischen Grippe“ im vergangenen Jahrhundert wurde etwa 70 Jahre nach den Geschehnissen veröffentlicht. Man könnte argumentieren, dass die Gründe für eine solche Verspätung mit der Spezifität einer Pandemie verbunden sind, die das ungeheuerliche Gemetzel des 1. Weltkrieges noch tragischer beendete; und auch mit dem Gewicht, das die eisernen Ketten der militärischen Zensur auf die Zeitgenossen und die folgenden Generationen ausübten (bekanntlich kommt die Definition Spanische Grippe von der Tatsache her, dass nur die Presse des neutralen Spaniens darüber frei berichten durfte). Aber sind wir sicher, dass das aktuelle Wespennest an Quellen, zusammen mit dem präventiven und bösartigen Diskreditieren, das jede nicht linientreue Analyse traf und trifft, von den zukünftigen Historikern nicht ebenfalls als ein Käfig aus Silizium betrachtet wird? Seit nur einem Jahr nach dem Beginn des Covid greift man zur Analyse der online veröffentlichten wissenschaftlichen Artikel auf die Algorithmen der Künstlichen Intelligenz zurück, dermassen masslos ist deren Flut. Was werden diese Historiker davon als genügend gesichert erklären? Wahrscheinlich werden sich die Besten unter ihnen spalten und – wie es schon bei historisch weit wichtigeren Vorkommnissen geschehen ist, wie etwa der Kolonisierung Amerikas oder dem Nazismus – sich von zwei Ansätzen ausgehend streiten: einer funktionalistisch und ein anderer intentionalistisch, mit weiteren Historikern, die in der Folge eine Synthese der beiden Positionen versuchen werden. Der funktionalistische Ansatz bevorzugt die Analyse der sozialen Dynamiken; der intentionalistische gewichtet eher die erklärten Werte und Programme der Eliten. War die Ausrottung der indianischen Bevölkerung ein vorsätzliches Projekt oder das Resultat einer Gesamtheit an Mitursachen (an denen die durch die Eroberer unabsichtliche Verbreitung von für die Indigenen tödlichen Krankheiten mindesten ebenso beteiligt war wie die von der katholischen Doktrin gelieferte Darstellung der Eingeborenen als Völker ohne Seele)? War die Vernichtung der Juden das Resultat einer totalen Mobilisierung von industriellen und bürokratischen Apparaten und Kräften oder die Verwirklichung eines von Anfang an klaren Parteiprogramms? Bekanntlich können die auch von denselben, an sich niemals erschöpfenden, historischen Quellen ausgehenden Interpretierungen sehr stark divergieren, weil sie niemals von der heuristischen, ethischen und politischen Subjektivität des Historikers zu trennen sind. Z. B. ein liberaler Historiker, der den Nazismus als monströse Klammer im Fortschritt der 20. Jahrhunderts ansieht, wird dazu neigen, die Gaskammern von einem antisemitischen Wahnsinn ausgehend zu erklären, anstatt als eine Lösung, die von einem technischen und bürokratischen Apparat in den stählernen Stürmen eines besonders grausamen inter-imperialistischen Krieges produziert wurde. Denn sonst wären die Angeklagten seines persönlichen Nürnbergs nicht bloss die faschistischen Parteileiter, sondern auch die Industrieführer und nicht wenige wissenschaftliche Autoritäten (und die Verantwortung für die Vernichtungsfabriken würde den Ozean überqueren und den IBM-Koloss voll treffen…). Andersherum würde er dazu neigen, alles erblassen zu lassen, was der englischen Kolonisierung Nordamerikas die volle Absicht zur Ausrottung zuschreibt. Kann ein Bewunderer der US-amerikanischen Demokratie, als Historiker, ihren genozidären Ursprung behaupten? Die revolutionäre Kritik hat sich die funktionalistischen Erklärungen der historischen Phänomene zu eigen gemacht. Und das nicht nur, weil die materialistische Analyse immer multifaktoriell ist (heuristischer Grund), sondern auch (ethisch-politischer Grund) weil die intentionalistischen Lesarten mehr oder weniger absichtlich in der Entlastung des sozialen Systems enden und aus dem Horror eine Ausnahme und nicht die Regel und so aus gewissen strukturell dynamischen Formen der Unterdrückung politische Pathologien machen. Unter Anarchisten und Marxisten und innerhalb dieser zwei Strömungen der proletarischen Bewegung gab es immerhin auch immer eine Auseinandersetzung darüber, was wirklich strukturell und was irgendwie Nebenprodukt sei (und weiter, welchen Autonomiegrad die derivativen Elemente hätten). Um es schematisch zu sagen, für die Anarchisten entspricht die Macht nicht dem Profit, und es ist eher das Kommando, das das Privileg produziert, als das Gegenteil. Es gibt historische Momente, in denen der Wille nach Macht und seine politische Intentionalität die Dynamik der kapitalistischen Akkumulation überbieten. Ein offenkundiges Beispiel ist gerade der Nazismus. Die Endlösung wird auch dann weiter verfolgt, als ihre Logistik der deutschen Kriegsmaschine immer mehr Ressourcen entzieht. Wieso? Wegen einer Art geraden Linie zwischen den Seiten des Mein Kampf und den Gaskammern? Nein, weil das das funktionelle Resultat der gesamten technisch-bürokratischen Maschine war, die aus dem Antisemitismus ihr Treibmittel gemacht hatte. Wenn man sich, umgekehrt, darauf beschränkt die Dynamiken der “unpersönlichen Kräfte des Kapitals” (die folglich keine autonome politische Intentionalität aufweisen) zu betrachten, so ist die Vernichtung von ausbeutbarer Arbeitskraft eine nicht funktionale Verschwendung, folglich schwer zu erklären. Auch die revolutionäre Kritik der Verschwörungstheorie hat mit Funktionalismus und Intentionalität zu tun. Lange wurde unter Verschwörungstheorie (oder eine polizeiliche Anschauung der Geschichte) jede Erklärung verstanden, die, da sie die Dynamik der politisch-sozialen Auseinandersetzungen nicht mit einberechnete, die Ursachen der historischen Geschehnisse auf mehr oder weniger versteckte Pläne einer Elite oder auf die okkulten Manöver einer Lobby oder von Polizeien und Geheimdiensten zurückführte. Die faschistische These der hebräisch-freimaurerischen Spitze, die die Welt regiert, oder die stalinistische, der nach die Gruppen des bewaffneten Kampfes in Italien von den abweichenden Apparaten des Staates ferngelenkt waren, gehören zu den bekanntesten Beispielen. In beiden Fällen war die Verschwörungstheorie eine Waffe gegen die Bewegungen. Kein Staatsmann oder kein Journalist hat denn auch jemals jene als Verschwörungstheoretiker definiert, die behaupteten die Brigate Rosse seien gesteuert, denn das unzulässige war genau die Existenz einer unregierbaren Klassen-auseinandersetzung, worin es die autonome Aktion der kämpfenden politischen Gruppen gab; jegliche hinterhältige Erklärung, die dieses “öffentliche Geheimnis” verdrängte, war dem Staat zweckmässig. Sogar die Vermutung, Teile des staatlichen Apparates seien an der Entführung Moros beteiligt… Besser eine waghalsige spy story als die nackte Tatsache einer Gruppe von Arbeitenden, die sich organisieren und den Chef der Regierungspartei holen. Die obsessive Wiederholung der Ersten kann einen blühenden Verlagsmarkt jahrelang füttern und katatonisch-depressive soziale Effekte bewirken, während die einfache Verkündung der Zweiten genügt, um etliche geheime Politik des Imperiums ins Wanken zu bringen und, überdies, die Gefahr birgt, in den Köpfen den Samen gewisser schlechter Gedanken zu verbreiten. Aber die revolutionäre Kritik der Verschwörungstheorie hat tiefere und weniger zufällige Wurzeln: als erste, dass das, was in Erscheinung tritt, mehr als genug ist um diese Welt zu verabscheuen und ihren Umsturz zu versuchen. “Verschwörungstheorie“ war lange Zeit ein Begriff, der vor allem von den antagonistischen Bewegungen gebraucht wurde um die wahre Kritik von ihrer reaktionären Parodie zu unterscheiden und um die Polizei auf ihre traurige und untergeordnete Funktion zurückzuführen, anstatt aus ihr eine Hauptakteurin zu machen: der Unterschied zwischen den historischen Erinnerungen der Kämpfe und den Papieren der Polizeipräsidien ist abgrundtief! Den sog. einfachen Leuten sagte dieses Adjektiv-Substantiv wenig oder nichts.

II “Addà venì Garibaldi – Garibaldi muss kommen”

Die Armen und Ausgebeuteten haben im Verlauf der Geschichte versucht, sich die Welt mit den ihnen zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln zu erklären (und sich Mut zu machen). Die Folklore war immer eines davon. Volksglaube, Balladen, Rituale, Sprichwörter, Legenden und Erzählungen waren die spontanen Formen einer Kultur von unten, oral, unbelesen und lange Zeit in der Schule nicht vorkommend. Diese Folklore vermengte nicht wenige Elemente der Wahrheit (als Selbstverständnis der eigenen Erfahrung) in einem fatalistischen und kontemplativen Rahmen (gleichzeitig Ausdruck der Unterordnung unter die Darstellungen der herrschenden Klasse und Kehrseite eines Lebens als Gefangene). Gramsci – für den ich, das sei ganz klar gesagt, keinerlei politische Sympathie empfinde – sagte in treffender Eingebung, dass die proletarische Kultur keine überhebliche und besserwisserische Haltung gegenüber der Volkskultur haben solle, sondern deren Elemente der Wahrheit aufzunehmen und von den fatalistischen Darstellungen zu befreien habe. Der Togliattismus war die Parodie dieser Anweisung: er hat die folkloristischen Mythen mit politischen Mythen ersetzt, und hier meint man mit Mythos das, was gleichzeitig Passivität und Hoffnung einflösst. Wieso hat Togliatti auf Anweisung Moskaus den Mitgliedern der Partisanenbanden den Namen Garibaldini auferlegt? Nicht nur um das patriotische Wesen des Widerstandes zu unterstreichen (als “Zweites Risorgimento”), sondern auch um einen der Volksfolklore eigenen Befreiungsmythos (“Addà venì Garibaldi!”) zu technisieren – würde Károly Kerényi sagen. In der Volksfolklore gibt es sowohl die Idee einer Welt, die von irgendeinem Fluch ungerecht und unveränderlich gemacht wurde, als auch die Idee einer magischen und schmerzhaften Formel, die sie plötzlich befreien kann und alle Schulden und Ungleichheiten auslöscht (das Jubiläum). Wenn es etwas gibt, das nicht der Folklore gehört – und ihr von aussen eingeflüstert wurde – so genau die Idee von Fortschritt, der Glaube an eine allmähliche Befreiung im Sinne einer geschichtlichen Gesetzmässigkeit der kumulativen Zeitlichkeit und der aufsteigenden Dynamik.

III. Geheimdienste

Ein in der Handhabung der Covid-19 Epidemie ohne weiteres nie da gewesenes Element ist der mediale Einsatz des Begriffs „Verschwörungstheorie“, der jeglicher These zugeschrieben wird, die die offiziellen Wahrheiten in Frage stellt. Ein derartiges Trommelfeuer – und dermassen international – kann kein Zufall sein, und entspricht sowohl funktionalen als auch intentionalen Gründen. Um ein Beispiel dieses verkehrten Gebrauches eines in der Vergangenheit meistens von Revolutionären gebrauchten Begriffes zu geben, genügt die Zitierung aus dem Bericht 2020 der italienischen Geheimdienste, wo das Wort erscheint um die Thesen sowohl der extremen Rechten als auch des Antagonismus zu definieren. Ein Geheimdienstler, der jemanden als Verschwörungstheoretiker bezeichnet, kann nicht voreilig als einfacher Zufall abgetan und auch nicht mit einem überhaupt nicht lustigen Witz verwechselt werden. So wie auch die Tatsache einer Erklärung würdig ist, dass die am meisten als Verschwörungstheorie bezichtigten Dinge die Ideen und die Aktionen gegen die 5G Antennen und die Positionierungen gegen die Massenimpfung waren. Vom Zusammenhang zwischen Waldrodung, industriellen Mastbetrieben und Artensprung der Viren konnte man am Anfang (dann immer weniger) auch im Radio reden hören, in Vertiefungen der unvermeidlichen Experten, deren Funktion gerade darin zu bestehen schien, die antikapitalistische Analyse auf allgemeiner Ebene scheinbar zu unterstützen, um sie dann in ihrer unmittelbaren Aktion abzutakeln. Jeglicher live Anruf, der an der Impfung Zweifel auch nur andeutete, oder die Nachricht einer angezündeten Telekommunikationsantenne rief, hingegen, aufgeregte Reaktionen oder die Abräumer-Etikette hervor: Verschwörungstheorie. Formulieren wir doch eine Hypothese über diese Parodie hoch zwei (der Verschwörungstheoretiker, als historischer Feind der revolutionären Bewegung, wird plötzlich zum Staatsfeind). Wahrscheinlich erwarteten die Regierungen, dass vor allem die Revolutionäre und Antagonisten den Sinn und die wirkliche Funktion ihrer “anti-Covid”-Massnahmen radikal in Frage stellen würden. In einer Mischung aus Intentionalität und erprobter Funktionalität mit dem Zwecke, gewisse Worte des Staates und gewisse Worte des Antagonismus (vor allem des am stärksten um die Gefährdung seines öffentlichen Images besorgten) auf eine gemeinsame Linie zu bringen, genügte es, den „Verschwörungstheoretiker“ als Feind der kollektiven Gesundheit und die Regierung als deren Garant (wenn noch so stümperhaft, unfähig und den Interessen der Confindustria – Arbeitsgeberverband – untergeordnet) darzustellen. Im Hintergrund, wie wir sehen werden, hat sich in all seiner Materialität ein ungelöster Knoten vieler Bewegungen des 20. Jahrhunderts verklumpt: die Frage des Staates. Wohin ist denn, unterdessen, der Glaube geraten, dass das, was sie uns im Fernsehen erzählen, alles Stuss ist? In die Volksfolklore, in die Formen, die sie in der digitalen Gesellschaft annimmt. Hat die „kritische Kultur“ – nach gramscianischer Annahme – die Elemente an Wahrheit beleuchtet und versucht, die fatalistisch-reaktionären zu zerpflücken? Nein. Um sich von der “Verschwörungstheorie”, den “fake news”, von der “Leugnung” fernzuhalten, hat sie absichtlich deren Gründe – so verwirrt, partiell, naiv und verseucht man auch will sie auch seien, aber auch verständliche und vernünftige – in einer Abwärtsdynamik ignoriert: wenn ich gestern nichts gegen den lockdown gesagt habe, was dann heute gegen die Ausgangssperre? Wenn ich nichts über die verweigerte Hauspflege gesagt habe, was dann über die Impfstoffe? So, während der Nebel sich verdichtete und der Käfig stärker wurde, ist jeder den Weg gegangen, auf dem er sich am sichersten fühlte: Antirepression für einige, Unterstützung der Arbeitskämpfe in der Logistik für andere, die Kämpfe gegen die Vernichtung der Umwelt für noch weitere. Richtige und notwendige Schlachten, wohlverstanden, aber irgendwie abseits des Terrains, auf dem der Staat und die Technokraten ihre Artillerie aufgestellt hatten.

IV. Giftgas

Die vorherrschenden Tendenzen in der proletarischen Bewegung des 20. Jahrhunderts – die nach dem Rücklauf der Kämpfe der 70. Jahre und dem Verschwinden der Sowjetunion nicht ganz weg sind, um hingegen larvale und gasförmige Formen anzunehmen – betrachteten den Staat entweder als neutrale politische Organisation oder als schlichtes Geschäftskomitee der Bourgeoisie. Im ersten Fall hätte der Eintritt der Arbeiterparteien in die Institutionen und die mit gewerkschaftlicher Macht erzwungenen Verbesserung der Bedingungen der Arbeitenden die Spielräume der Demokratie bis hin zum Sozialismus sukzessive vergrössert; im zweiten Fall hätte nur die gewaltsame Eroberung der politischen Macht einen antikapitalistischen Gebrauch des Staates erlaubt (als erster Schritt zu seiner Abschaffung). Der Stalinismus hat aus der ersten Vorstellung eine Taktik und aus der zweiten eine Strategie gemacht (oder, genauer, ein bestrickendes Versprechen zur Rechtfertigung der Allianz mit den „progressiveren“ Sektoren der Bourgeoisie). Mit der Zeit wurde die Taktik zur Strategie und der demokratisch-bürgerliche Staat zum unüberwindbaren Horizont. Die Interessen der armen Leute hätte man sichergestellt indem man der „privaten“ (und überdies „monopolistischen“) Kraft des Kapitals die „universelle“ Macht des Staates entgegengesetzt hätte. Die staatliche Planung der Wirtschaft und die öffentliche Finanzierung der Forschung waren also schon Vorposten des Sozialismus. Dieses Schema finden wir in den internationalen Mobilisierungen gegen die Globalisierung wieder: die neoliberale Politik besteht aus Entscheidungen von Institutionen, die nunmehr Geiseln der Multis (und des Finanzkapitals) und jeglicher “Souveränität” entleert sind. Muss man sich da wundern, wenn gewisse Sektoren des Volkes hinter der Handhabung der Covid-19 Epidemie die Regie von “Big Pharma” und in der Verfassung den einzigen Damm und auch die Legitimierung des eigenen “Widerstandes” sehen? Das Schema ist ähnlich: die wissenschaftliche Forschung ist den Interessen Weniger gebeugt, die universelle Aufgabe des Staates wird von Regierungen beeinträchtigt, die sich der grossen Finanz verkauft haben. Mehr oder weniger das, was jene behaupten, die sich, aber in einer viel weniger logischen und konsequenten Art und Weise, zum “Impfstoff Allgemeingut” bekennen: ein von “Big Pharma” entwickeltes und verkauftes Produkt – überdies von Kontrollorganen bewilligt, die es selbst finanziert – wird jemals ein “Allgemeingut” sein können? Nicht sehen, wie die Absichten der Pharmamultis (und des Digitalen) durch die Funktion der technologischen Entwicklung ermöglicht werden, bedingt eine enorme Vereinfachung (die das soziale System insgesamt entlastet und erneut den Staat anruft, die Richterschaft, eine neues Nürnberg…). Aber ist es vielleicht realistischer zu verlangen, dass dieselben Multis auf Patente verzichten und ihre Technologien an die armen Länder überführen? Und bezeugt das ein besseres Verständnis des Funktionierens des – privaten und staatlichen – industriellen Apparates der Technowissenschaften? Einige, sicher ein wenig einsichtiger was das Verhältnis zwischen Staat und Kapitalismus angeht, wünschen sich, dass die Massenimpfung von „proletarischen Komitees“ übernommen werden, da ja die bürgerlichen Institutionen sich nicht der Macht von “Big Pharma” entledigen können. Da haben aber die Stalinisten recht: für ein solches Unterfangen braucht es den Staat. Aber klarsichtiger als beide sind ohne weiteres die tausenden von Menschen – zum allergrössten Teil Frauen – die auf die Strasse gegangen sind und „wir sind keine Versuchskaninchen!“ geschrien haben. Die „folkloristische“ Idee, dass Bill Gates die Menschheit durch die Impfstoffe reduzieren will, ist sicherlich näher an der Wahrheit als die progressistische Illusion, die technowissenschaftliche Entwicklung sei nicht bloss neutral, sondern gar ein Emanzipationsfaktor…

Der grösste Teil der Krankheiten, der die Menschheit beutelt, erfordern sehr gering technologische Lösungen wie sauberes Wasser, genug Nahrung, anständige Löhne; alles Aspekte, die von der technologischen Entwicklung nicht gelöst, sondern verschlimmert werden, während sie alle mit ihren „baldigen, aber irgendwie immer um die Ecke liegenden“ Versprechen bezirzt. Bloss 2020 sind in Mosambik 500’000 Kinder an Hunger gestorben. Und was ist die Priorität für gewisse angebliche Internationalisten? Jener Bevölkerung GMO Impfstoffe bringen. Genau das, was die Eugeniker – sowie Sterilisierer armer Frauen – wollen, die den Impfstoff von AstraZeneca entwickelt haben… Nein, ihnen nicht bloss die Impfstoffe sondern auch die Technologien selbst bringen um sie autonom entwickeln und produzieren zu können. Bzw.: biotechnologische Forschungszentren einrichten – wo die in Künstlicher Intelligenz, in Bioinformatik, in Molekularbiologie und in Nanotechnologie hochspezialisierten Techniker einen neuen Jahrgang lokalen Personals ausbilden sollen, um denen in Nullkommanichts Hightech-Fabriken zu bauen, wo sie die Impfstoffe autonom produzieren können. Fabriken, klar doch, die an ein mächtiges digitales Netz angeschlossen sind. In diesem schönen Märchen – dessen Unterbewusstsein jenes des wohltätigen Imperialismus ist – würden solche Forschungszentren und Fabriken bei beendeter Impfung auf die Aufgaben verzichten, für die sie historisch geschaffen wurden: die Abhängigkeit (energetische, landwirtschaftliche, sanitäre, wirtschaftliche, soziale, politische) der lokalen Bevölkerung von einem zentralisierten und heteronomen Apparat zu vergrössern, dessen unersättlicher Rohstoffabbaumotor die Menschlichen auspresst, die Erde steril macht und Epidemien verursacht. Wäre es nicht viel praktischer, die Gelder der Impfstoffe für den Aufbau eines Netzes von kleinen Dorfambulatorien zu verwenden, um dort die Kranken rechtzeitig zu behandeln anstatt wahllos Millionen Personen zu impfen? Sicher wäre es das, aber der Zweck des Biotechmarktes ist ja gerade, die «prosaische Pflege- und Präventionsarbeit» obsolet und wenig profitabel zu machen.

V. Ungelöste Knoten

Cui prodest? Wem nützt es? Diese Frage ist so notwendig wie ungenügend; und die Antworten manchmal irreführend. Es ist nicht gesagt, dass jene, die die Folgen eines Geschehnisses ausnützen, es auch verursacht haben. Unter den vielen möglichen historischen Beispielen wählen wir zwei, die zur Geschichte der revolutionären Bewegung gehören: der Reichstagsbrand und die Bombe am Theater Diana. Die erste Geste – ausgeführt vom holländischen Rätekommunisten Marinus Van der Lubbe – lieferte den Nazis die Rechtfertigung für eine grausame Hetzjagd gegen alle Dissidenten. Lange – und heute noch in nicht wenigen fälschlicherweise als glaubwürdig betrachteten Geschichtsbüchern – wurde der Brand des deutschen Parlaments als Naziverschwörung betrachtet (cui prodest?, eben) und der Genosse Van der Lubbe als Provokateur. Eine – aus naheliegenden Gründen – vor allem von den Stalinisten behauptete These. Der Brandstifter wurde damals bloss von einigen anarchistischen Gruppen (zum Beispiel “L’Adunata dei Refrattari”), von den deutsch-holländischen Rätekommunisten und von einigen Zeitschriften der „italienischen“ kommunistischen Linken verteidigt (und auch unter den wenigen Kommunisten, die ihn verteidigten, fühlten sich einige jedenfalls befleissigt, die Geste politisch zu kritisieren…). Das von der “nazistischen Verschwörung” war eine dermassen durchdringlich getrommelte historische Verfälschung, dass wir sie sogar in einem der allerersten Flugblätter vorfinden, die “sofort” die staatliche und unternehmerische Matrix der Bombe des 12. Dezember 1969 ausmachten. Besagter Text, der einige Wochen nach dem Massenmord der Piazza Fontana von “einigen Freunden der Internationale” veröffentlicht wurde, hatte denn auch den Titel Brennt der Reichstag? (implizit: der italienische Staat ist der Täter dieser blutige Provokation und hat als dafür Verantwortliche auf die Anarchisten gezeigt, genauso wie die Nazis das deutsche Parlament angezündet und die Verantwortung den Kommunisten unterschoben haben). Dass die beiden Gesten – im Falle des Reichstags das Organ der passiv machenden Vertretung des “arbeitenden Volkes” anzugreifen, ein Organ, das die Überbleibsel an Aktion des “arbeitenden Volkes” sterilisierte und dessen staatliche Unterdrückung validierte, und im anderen Falle wahllos in den Haufen der Landwirte zuzuschlagen – diametral entgegengesetzte Anwendungsmodalitäten von Brand- und Sprengsätzen darstellten, hat nicht verhindert, dass sie unter demselben Begriff eingeordnet wurden: Verschwörung. Man beobachtet die Wirkung, man denkt nicht über die Dynamiken nach (das Ganze vom Vorurteil geprägt, dass nur die kollektive Aktion eine legitime Antwort auf Unterdrückung sein kann). Da die Geschichte das Ergebnis eines Gewirrs an Kräften (und Unwägbarkeiten) ist, kann manchmal auch die Analyse der Dynamiken irreführend sein. Als sie am 23. März 1921 die Presseartikel zum Massenmord des Diana lasen, dachten nicht wenige Genossen sofort an eine Provokation der Polizei. Nicht nur wegen der darauf folgenden grausamen Jagd auf den Subversiven (eben: cui prodest?), sondern gerade wegen der Dynamik der Tat an sich: sowohl die Wahl des Zieles – ein auch von normalen Leuten besuchtes Theater – als auch die Modalität des Attentates (eine Bombe mit grosser Sprengkraft). Erst einmal war es schwierig zu verstehen, dass es sich, hingegen, um die unvorhergesehene Wirkung der Aktion einiger jungen und bekannten Genossen handelte, «nicht um das Theater, sondern das darüber liegende Hotel zu treffen – das, nach Infos, die damals die Attentäter hatten, regelmässig als Treffpunkt von Benito Mussolini und dem Polizeipräsident von Mailand, Gasti, diente, beides Erzfeinde der Anarchisten und von denen besonders gehasst, und man dachte, dass gerade an jenem Abend Gasti in jenem Hotel sein sollte» (Giuseppe Mariani). Das alles um zu sagen, dass gerade die Revolutionäre sich hüten sollten, die Logik des cui prodest? mechanisch anzuwenden. Würden wir eine solche Logik auf den Notstand Covid-19 anwenden, wäre die Schlussfolgerung eindeutig: vom Notstand haben vor allem die Digital- und Pharmamultis profitiert, folglich haben die ihn geplant. Post hoc, ergo propter hoc («Nach dem, folglich wegen dem»). Genau so naiv wäre jedoch zu meinen, dass der beschleunigte Anschub zur Digitalisierung der Gesellschaft und ein Programm wie die Impfung auf planetarischer Skala bloss zwei funktionale Antworten auf ein völlig unerwartetes Geschehnis wären: nämlich die Verbreitung des Sars-CoV-2. Um sich von was funktional und was intentional ist eine etwas umsichtigere Vorstellung machen zu können, müssen wir verstehen, wo die zwei grundlegenden Tendenzen unserer Zeit liegen. Bzw. uns erneut mit zwei ungelösten Knoten beschäftigen: die technologische Frage und die Frage des Staates.

VI. Schmelzpunkte

Ich habe mich lange gefragt, auf welche Weise man das Verhältnis zwischen Technologie und kapitalistischer Entwicklung am präzisesten definieren könnte. Auf Grund des geschichtlichen Nachweises finde ich die beiden üblichen Vorstellungen zum Thema völlig falsch: eine entspricht sowohl der liberal-demokratischen als auch der marxistischen Vorstellung und besagt, die Technologie sei eine Gesamtheit an Mitteln zur Rationalisierung und zur Organisation in Bezug auf variable politisch-ökonomische Zwecke; und die andere betrachtet die Technik als autonomes Subjekt der Geschichte (die Geschichte eines Bruches zwischen dem Menschenwesen und seiner Prothese, worin der Unterschied zwischen einer Windmühle und einem AKW nur ein Stufenunterschied wäre). Bis jetzt habe ich zur Definition dieses Verhältnisses das zutreffendste Adjektiv in einem schönen Buch über den luddhistischen Aufstand gefunden: konsubstantiell. Wenn die Einzäunung der gemeinschaftlichen Ländereien und die Ausraubung der kolonialen Reichtümer die zwei Quellen der ursprünglichen Akkumulation des englischen Kapitalismus waren, so wurden die Grundlagen zur Entwicklung der Manufaktur und des Maschinentums von der Stärke des britischen Staates im Krieg zuerst gegen den spanischen Staat und dann gegen den französischen Staat geliefert: aus den Notwendigkeiten der Kriegsführung entstehen denn auch sowohl die Eisenbahn als auch die Ausbeutung der Kohlengruben. Die Elektrizität wurde zur Waffenproduktion entwickelt, bevor sie private Häuser erhellte, diente sie dazu, die Manufakturen auch in der Nacht zu betreiben. Dieses Verhältnis der gegenseitigen Verwicklung von militärischer Macht, Entwicklung der Industrie und Beschleunigung der Technik hat einen Sprung erzeugt: die Technologie, bzw. die Anwendung von immer spezialisierteren wissenschaftlichen Kenntnissen auf eine industrielle Produktion, die nach und nach alle gemeinschaftlichen und nicht zentralisierten Produktionsformen verdrängte. Die zwei Weltkriege waren in der Folge das Labor einer neuen Fusion: zwischen wissenschaftlicher Forschung, Militärapparat, industrieller Planung und Staatsbürokratie. Der zweite Weltkrieg hat der Verschmelzung nicht nur die Massen-kommunikationsmittel hinzugefügt; sondern, dank den gigantischen Rüstungs-, medizinischen und toxikologischen Experimenten auch das eingeläutet, was man als Technowissenschaft bezeichnen kann, und damit auch deren politisch-soziale Form: die Technokratie. So wie die totalisierende Logik des Profits ein Element ist, das in der feudalen Gesellschaft wächst und sich verselbstständigt, wird die technologische Entwicklung, als wirkende Kraft der kapitalistischen Akkumulation, immer mehr zum Motor der wirtschaftlichen Konkurrenz (sowie zur Fortführung der Politik mit anderen Mitteln). «Die politischen Regimes gehen vorüber, die Technokratie bleibt». Innerhalb der Konfrontation der Macht der Staaten – als direkte Akteure der industriellen Planung – der vierziger und fünfziger Jahre, werden die Paradigmen (Kybernetik) ausgearbeitet und die Forschungsprogramme lanciert (Informatik und Gentechnologie, neben dem Nuklearen), ohne die es weder die darauf folgende Finanzialisierung der Wirtschaft (mit den entsprechenden neoliberalen Politiken) noch den Eintritt in die menschlichen Körper als weiteres kapitalistisches Eroberungsterrain gegeben hätte. Diese Verschmelzungsprozesse von privat und staatlich – die jemand Technobürokratie genannt hat – wurden klarsichtig von den weniger von den Sirenen des Fortschritts und der angeblich „emanzipatorischen“ Entwicklung der Produktivkräfte verzauberten Geister begriffen: Simone Weil, George Orwell, Dwight Macdonald, Georges Henein… alle mehr oder weniger verspottet weil sie sich für die „sekundären“ Aspekte interessierten und die unpersönlichen Gesetzmässigkeiten des Kapitals vernachlässigten. Diese Analysen haben sowohl das innewohnend hierarchische und anti-egalitäre Wesen der Grossindustrie (egal wer die Produktionsmittel juristisch besitzt) als auch die omnivore Ausbreitung der staatlichen Bürokratie exakt beschrieben. Was immerhin als selbstverständlich galt, war, dass die industrielle Planung in der dem Kapital untergeordneten Wissenschaft ihren Kern hatte, und dass die logischste Artikulierung dieses Kerns das long range planning sei. Nur ist dieser Kern – dank den enormen staatlichen Finanzierungen – nicht nur völlig eins mit der Kommandoschaltzentrale geworden, um so das Verhältnis zwischen Mittel und Zweck umzukehren; die “technologische Revolution” hat auch jegliche Planung, die in Bezug auf die Innovationen der angewandten Wissenschaft immer zu langsam und zu kostspielig ist, platzen lassen. Wahr bleibt, dass «das Umfeld, wo die Technik ihre Macht über die Gesellschaft erlangt, die Macht jener ist, die über die Gesellschaft selbst die wirtschaftlich stärksten sind» (M. Horkheimer, T.W. Adorno, Dialektik der Aufklärung). Mit folgendem grundlegenden Zusatz: «Die technokratische ist keine „Revolution“, sondern ein permanenter Putsch». Gerade weil die technische Rationalität der, «wenn man es so sagen kann, zwangsmässige Charakter der sich selbst entfremdeten Gesellschaft ist», trifft ihre Autonomisierung in der Dynamik dieser Entfremdung auf keinerlei Grenzen. Die technologische Entwicklung hat einen relativen Gegensatz (die Kämpfe der Lohnempfänger) und einen absoluten Gegensatz (dass die Menschenwesen und das Lebende nicht zur Maschine reduziert werden können): die Technokratie umschifft den ersten immer stärker und zielt direkt auf den anderen. So wie es die staatliche Repression der revolutionären Bewegung der Sechziger und Siebziger Jahre war, die die Einführung der Telematik in die Produktion ermöglichte und begleitete, so bereitet der aktuelle Angriff der Herrschenden und der Polizei auf den Widerstand der in den Logistiksektoren Arbeitenden die generelle Durchsetzung des “Modells Amazon” vor. Um den proletarischen Angriff der Sechziger und Siebziger Jahre zu liquidieren, haben Staat und Arbeitgeber (durch den gekreuzten Einsatz der Durchsetzungsmacht und des technologischen Sprunges) die „Verhandlungs“-Kraft einer Arbeiterklasse als Produkt eines bestimmten Produktionsmodells (Standortgebundenheit der Anlagen, Warenlagerungskosten, kapitalistischer Bedarf nach einer sehr zahlreichen und gering qualifizierten Arbeitskraft, die gerade deswegen zum „wissenschaftlichen“ Einsatz des Absentismus und der Sabotage fähig war) beseitigen müssen. In sehr reduziertem Verhältnis zielt auch die Digitalisierung der Logistik auf die Beseitigung ihres eigenen relativen Gegensatzes: die Blockaden und die Streikposten der Arbeitenden (genau jene Kampfformen, die der Staat mit seinen „Sicherheitsdekreten“ illegalisiert hat). Zu meinen, die technologische Entwicklung sei heute eine sekundäre Variante der Klassenauseinandersetzung, heisst auf einem anderen Planeten zu leben. Wenn etwelche besonders besser wissende Marxisten über unsere – typisch “kleinbürgerlichen“! –„Ängste“ über die laufende Techno-totalitäre Wende spotten und behaupten, der “technologische Dynamismus” (der eher angekündigt als real sei!) sei bloss das Symptom einer kurzatmigen kapitalistischen Aufwertung, beweisen sie voll und ganz ihren eigenen Realitätsverlust. Genauso wie die dementsprechende Ortung dessen unrealistisch ist, was der wahre Einsatz im Spiel wäre: der Kampf um eine generalisierte Verkürzung des Arbeitstages, als “Minimalprogramm”, das von den neuen Technologien ermöglicht würde. Wenn überhaupt, dann belegt die Geschichte, dass ein Kampf um die Verringerung der Arbeitslast jener ausdauernden Selbstorganisationskraft bedarf, der die Robotik und die Automatisierung jegliche Grundlage entziehen. Die heute und zukünftig noch stärker von der Digitalisierung verursachte Massenarbeitslosigkeit produziert eine immer gefügigere Lohnarbeiterschaft. Das Märchen, dass die technologische Entwicklung das Menschenwesen vom Mühsal befreien würde – wenn nicht automatisch, so wenigstens durch die Schubkraft des Klassenkonfliktes –, war schon immer ein technokratisches Märchen. Die lebendige Arbeit nimmt exponentiell zu – der materielle Apparat des Digitalen gründet auf der erzwungenen Aktivität von Millionen von Menschenwesen –, aber er ist technologisch dermassen verknüpft wie er, andersherum, sozial fragmentiert ist. Somit ist die Forderung eines kürzeren Arbeitstages eminent politisch (und prallt mit einer anderen politischen Option zusammen: mit dem gewährleisteten Mindesteinkommen). Wäre es wirklich unrealistischer, sofort die Schliessung der Produktionen zu fordern, die die Menschen und ihre Umwelt vernichten, bzw. gegen unseren Ausschluss aus der Welt zu protestieren?

VII. Blitzkrieg

In der Geschichte werden die Wirkungen ihrerseits nicht selten zu Ursachen. Die Finanzialisierung der Wirtschaft – unmöglich ohne Informatik, Künstliche Intelligenz, Data Science und die gigantischen Apparate, auf denen sie gründen – wirkt sich ebenfalls auf die technoindustrielle Entwicklung aus. Eine Binsenwahrheit. «Die Entscheidungen scheinen automatisch der “black box” eines „objektiven“ Rechnungsmechanismus zu entspringen». Die technologische Lösung neigt somit zur Abschaffung jeglicher ethischen Einschätzung und politischen Aktion. Kehren wir ein Moment zum Verhältnis zwischen permanenter Innovation und industrieller Planung zurück. Die Atomindustrie – Ergebnis des Machtkrieges unter den Staaten und des kolossalen wissenschaftlichen Finanzierungsprogramms, das sie ermöglicht hat – ist das riesigste Beispiel von staatlicher Planung einer zentralisierten, militarisierten und vor allem ortsfesten Einrichtung. Auf diese staatliche Produktion pfropfen sich sowohl weitere stationäre Infrastrukturen auf – wie die Hochgeschwindigkeitslinien – als auch die high tech Labore, die andauernd Formen und Weisen der Warenproduktion, des Abbaus und der Bearbeitung der Rohstoffe, der urbanen Ordnungen, der Kontrolle des Territoriums, die Formen und Weisen der Kriegsführung umkrempeln. Dasselbe kann von den Tiefseekabeln gesagt werden, deren Legung und Verteidigung selbst Gegenstand geopolitischer und militärischer Auseinandersetzung ist. Wenn, ohne einen radikalen Umsturz der Gesellschaft, man eher sicher sein kann, dass es in einigen Jahrzehnten immer noch Atomkraftwerke, Bahnlinien und Tiefseekabel wie wir sie heute kennen geben wird, haben wir nicht die geringste Ahnung – ausser mit etwelchen Übungen in kritischer Futurologie – wie wohl das Brot oder die Autos produziert werden, und auch nicht davon, wie man Einzahlungen tätigen oder die Körper pflegen wird. Diese totalitäre Beschleunigung ist genau das, was permanenter technologischer Putsch genannt wurde. Wenn das Imperativ der Verbreitung und das Imperativ der Tiefe den technowissenschaftlichen Apparat dazu drängen, jeden Fetzen menschlicher Erfahrung zu erobern um ihn in Daten zu verwandeln, ist es einfach lächerlich darüber zu streiten, ob eine Politik neoliberal oder neukeynesianisch ist. Erstens weil klar ist, dass die Digitalisierung – mit ihrem blutsaugerischen Apparat der Intelligenz der Maschinen – die Flucht nach vorne der Finanz (mit den entsprechenden materiellen Auswirkungen: Eröffnung und Schliessung just in time der Führungs- Logistik- und Produktionszentralen) bloss beschleunigen kann; zweitens, weil die staatliche Planung derselben Logik folgt und ebenfalls die technologische Verwaltung der Territorien und der Bevölkerungen anstrebt. Um sich dessen gewahr zu werden, genügt die Lektüre der Weissbücher der Armee als planende Institution schlechthin. Da die high tech Innovation – von den Drohnen bis zu den Killer-Robots, vom digitalen Schlachtfeld bis zu den genetisch gesteigerten Körper der Soldaten – die Verteidigungsinstitutionen und Forschungszentren schon miteinander verschmolzen hat, wurde der militärischen Bürokratie – die so ortsgebunden wie ein AKW ist – die politische Führung der Programme immer stärker entzogen und den inter-universitären Departementen anvertraut, die ihrerseits den Bedürfnissen der 4.0 Industrie immer stärker verbunden sind. Was die Feinde des Neoliberalismus auch sagen mögen, die high tech Wirtschaft ist eine resolut dirigistische Wirtschaft. Die medialen Verbreiter des technokratischen Wortes haben auf den Notstand Covid-19 gewartet um es begeistert zu verkünden: der Staat ist zurück. (Um zu verstehen, dass er niemals von dannen ging, hätte die Verfolgung des konstanten Wachstums der sog. Staatsverschuldung, um von anderem gar nicht zu reden, genügt). Nicht zufällig haben die verschiedenen auf der Lohnliste stehenden Soziologen und Wirtschaftler als Präzedenzfall des aktuellen staatlichen Eingriffes in die industrielle Finanzierung die kriegerische Organisationsanstrengung der USA im Zweiten Weltkrieg zitiert. Was ansteht ist genau das, eine Kriegswirtschaft. Aber bedeutet das vielleicht auch eine Rückkehr der Planung? Sozialdemokraten und Stalinisten hoffen darauf und drängen die „Bewegungen“ zum Kampf um den staatlichen Planungen etwas Sozialismus beizufügen. Die etwas kritischeren Marxisten entlarven den ideologischen Betrug, weil es für einen New Deal kein Geld gibt, da der Kapitalismus nicht in einer Phase der Expansion sondern der Krise steckt. In Wirklichkeit ist die “Rückkehr des Staates” überhaupt nicht die Rückkehr zum industriellen long range planning: es ist die Beseitigung manu militari aller Behinderungen auf dem Weg zum permanenten technologischen Putsch, bzw. zur Diktatur der Maschinen, der Experten und der Militärs. Wie jemand gut zusammengefasst hat, was beschleunigt vorbereitet wird, ist die Epoche der Fehler und des Unglücks. Ja, die “technologische Revolution”, die alle alten Produktionsweisen gleichmässig verdrängt, ist ein Mythos. Die Technologie hat den Gang eines Blitzkriegs. Dieser Blitzkrieg wird nicht nur unaufhörlich von der übergreifenden Arbeit der Forschungszentren, der Industrie, der Massenmedien und der öffentlichen Institutionen (mit der unauffälligen Präsenz der Militärs) vorbereitet, sondern beeinflusst auch entscheidend alle wirtschaftlichen und sozialen Bereiche. Wenn im globalen Markt die Waren mit der höchsten Aufwertungsrate jene sind, die mehr Daten und mehr wissenschaftliche Entwicklung beinhalten, so müssen die anderen – die weniger oder überhaupt nicht high tech sind – die unbezahlte Arbeit verstärken um den Konkurrenzkrieg zu überstehen: nur so bleibt das Menschenwesen allgemein vorteilhafter als das technologische Investment. Das Beispiel des chinesischen Staates ist emblematisch. Die smart cities und die Zwangsarbeitslager sind zwei kommunizierende Gefässe derselben Technokratie. Sagt es doch den in jeder Fortbewegung aufgezeichneten Chinesen, dass die Digitalisierung der Welt ein Mythos ist, weil Milliarden anti-Covid Masken tagtäglich eigentlich wie im 19. Jahrhundert produziert werden!

VIII. Gramm und Tonnen

Wenn man totalitär sagt, meint man vor allem polizeilich. Das ist ein irreführender Reduktionismus. Eine totalitäre Wirtschaft ist eine Wirtschaft, die keinerlei menschliche Erfahrung ihrem Zugriff entgehen lässt. Auf die Polizei verzichten – oder besser, aus der Polizei die hindernisfreie Organisation der Stadt zu machen, die citizen science – ist die Utopie der Technokraten. Aber gerade weil die Technologisierung der Welt so versteckte wie masslose menschliche und ökologische Kosten hat, ist das, was sie produziert, eine differenzierte Apokalypse. Für einige die Auszehrung in den Coltanminen und den Mangel an Wasser und Nahrung; für andere die Telearbeit und das Risiko der Fettleibigkeit. Für Millionen Frauen im Süden der Welt die verkappten Programme der Zwangssterilisation; für tausende Frauen des Nordens der Welt der Zugang zur medizinisch betreuten Fortpflanzung. Für die Arbeiter, die die Smartphones zusammenbauen, das Arbeitslager und die Maschinenpistolen im Rücken; für die Mitglieder der upper-class der Videoanruf mit dem eigenen genetischen Berater vom Rande des Schwimmbeckens aus. Was aber ein totalitäres System am stärksten charakterisiert, ist das Verschwinden der Kriterien zur Bewertung der Tatsachen (und zur Unterscheidung zwischen den Tatsachen und ihrer Manipulation), die Liquidierung der Fähigkeit, die eigene Erfahrung auszuwerten, die Obsoleszenz der Fähigkeit, mit den Sinnen und dem Intellekt jenes “solide Rätsel” des Produktes der eigenen sozialen Aktivität zu erfassen. Die Leser von 1984 werden sich sehr wohl an die Seiten erinnern, die Orwell den Verkündungen des Grossen Bruders über die Schokoladenrationen widmet. Dank der permanenten Auslöschung der Vergangenheit wird die Verkündung der Zunahme der Ration, die in Wirklichkeit eine Verringerung gegenüber der vor einer Wochen verkündeten Ration ist, von den Parteimitgliedern mit hysterischen Begeisterungsstürmen empfangen. Unmöglich für die Dissidenten, das Gegenteil zu beweisen, da die Daten nach und nach aus den Archiven gelöscht werden. 1984 ist kein “dystopischer Roman”. Um zu beweisen, dass in der Sowjetunion (angeblich Sowjet) das Problem der Arbeitslosigkeit dank den staatlichen Wirtschaftsplänen gelöst worden sei, liess Stalin die Arbeitslosengelder abschaffen. Die Abschaffung der Arbeitslosengelder war doch der objektive Beweis, dass es keine Arbeitslosigkeit mehr gab! Im Zeitalter des Internets kann man vielleicht keine Archive mehr löschen, aber es ist, ausser die Nachforschungen mit entsprechenden Algorithmen zu orientieren, sehr einfach die Konsultationen der Archive gründlich zu vermiesen. Wie viele haben angesichts der triumphalistischen Verkündungen, die Sars-CoV-2 Ansteckungen und Toten seien dank den Impfungen zurückgegangen, Lust darauf, die entsprechenden Daten derselben Periode vor einem Jahr zu verifizieren? Überdies, da auch die Geimpften sich anstecken können – in welchem Masse und mit welchen Konsequenzen sehen wir dann wahrscheinlich im Herbst und Winter, wenn die Zirkulation des Virus zunehmen wird –, hat die WHO in der Zwischenzeit die Instrumente zur Feststellung der „Fälle“ modifiziert und einen maximalen Schwellenwert für die Vermehrungszyklen für die PCR Tests festgelegt, und darüber hinaus ein Kriterium der doppelten Verifizierung für die Verfügung der Positivität eingeführt. Kurz, man schafft also nicht das Arbeitslosengeld ab um die Arbeitslosen verschwinden zu lassen, aber man erklärt einen Teil davon als glückliche Beschäftigte. Wenn dann, angesichts der offensichtlichen Misserfolge ihrer Lösungen, die technokratische Maschine dem Dissens Terrain abgeben müsste, wird ihr Blitzkrieg gegen die Natur schon eine weitere Bedrohung zur Schmierung ihrer Getriebe gefunden haben: es ist sehr unsicher, dass die in der Massentierhaltung der halben Welt (auch Italien) laufende breite und industrielle Massenschlächterei des Geflügels den Sprung des Vogelgrippevirus auf den Menschen aufhalten kann… Es ist eine so unmenschliche wie unverwirklichbare Utopie, aus einer immer stärker krank machenden Welt «eine perfekt hygienisierte Wüste zu machen». Gibt es etwas undurchsichtigeres als diese “black box”, die die Entscheidungen von den Algorithmen ausgehend, die von der Intelligenz der Maschinen erarbeitet werden, orientiert? Gibt es etwas, das einen vollständigeren moralischen Amorphismus verursacht als jener, zu dem die Tyrannei der Effizienz erzieht? In einem Artikel mit dem aussagekräftigen Titel Man sucht einen Menschen ohne praktischen Sinn sagte der exzentrische Konservative G. K. Chesterton, dass die technologischen Lösungen sinnvoll sein können wenn etwas nicht funktioniert; wenn nichts mehr funktioniert, schrieb er, muss nicht ein Techniker sondern ein Theoretiker her, und noch besser wenn «ergraut und gedankenverloren». Die Effizienz an sich ist ein trügerisches Kriterium. «Wenn ein Mensch ermordet wurde, war der Mord effizient. Eine tropische Sonne ist so wirksam um die Menschen faul zu machen, wie ein brutaler Abteilungschef des Lancashire um sie energisch zu machen». Und weiter: «Die Effizienz ist bedeutungslos, so wie die “starken Männer”, der “Wille” und Superman unbedeutend sind. Sie ist unbedeutend, weil sie sich nur für schon vollbrachte Taten interessiert. Sie verfügt über keinerlei Philosophie für das, was noch nicht geschehen ist; sie besitzt, folglich, keinerlei Entscheidungsfreiheit». Dies haben Millionen Menschen während der Handhabung der Covid-19 Epidemie erfahren. Die Techno-bürokratischen Hierarchien (die sog. Experten) haben, eher als eine «epistemologische Dunkelheit», nicht nur eine regelrechte «kognitive Paralyse» verursacht, «eine furchterregende Situation, die daran erinnert, was in den absichtlich konstruierten Umständen zur Ent-menschlichung der Subjekte durch die Spaltung der Worte von den Dingen, der Sprache und der Welt geschieht,» (Stefania Consigliere und Cristina Zavaroni, Ammalarsi di paura – An Angst erkranken); sondern haben auch dazu beigetragen, eine Überfülle an „starken Männern“ zu produzieren (Gouverneure, die dazu bereit waren, die Studenten, die sich zur Hochschulabschlussfeier „zusammengerottet“ hatten, mit dem Flammenwerfer zu verbrennen, oder Ministerberater, die die Impfung obligatorisch machen und alle via Gesetz bestrafen wollen, die sie kritisieren…). Wer sagt, dass die Tatsache, dass der Staat und die Regionen sich in gestreuter Ordnung bewegt haben, der Beweis einer Abwesenheit von Führungszentren im Notstand sei, hat wenig über die spiral- und kaskadenartigen Effekte reflektiert, von denen das technokratische Kommando in der Geschichte schon immer gekennzeichnet war: im Namen einer übergeordneten Sache oder der gebieterischen Notwendigkeit der Effizienz über die Freiheit tausender Menschen zu verfügen, steigert den Wetteifer zwischen nationalen und lokalen Führern im Wettlauf der Entscheidungsfreudigkeit. Das Gefühl zu den wenigen zu gehören, die von der Wissenschaft – oder von der Politik, die im Namen der Wissenschaft handelt – zu Erwachsenen erklärt wurden, führt unweigerlich zur Verachtung und Infantilisierung aller anderen. Das hatte Nietzsche gut begriffen: die Mechanisierung der Untermenschen findet ihre geschichtliche Vollendung und moralische Rechtfertigung im Übermenschen. Die Medienkommunikation, sobald weltweit den Weg der kriegerischen Rhetorik eingeschlagen wurde, hat die Linie des von der Kommandoschaltzentrale Angeordneten eifrig übernommen. Und das nicht nur wegen den erhaltenen Finanzierungen und dem auf sie ausgeübten Druck, sondern auch wegen einer sich selbst nährenden Nachahmungsmacht: wie fühlt er sich wichtig, und sogar den so wie er selbst moralisch doch so mittelmässigen Mitbürgern überlegen, wenn er, der unbekannte und provinzielle Schreiberling sie zur Einhaltung der Regierungsdekrete aufruft! In der totalen Mobilisierung, wenn man alles tun muss was die Autorität sagt um Verantwortlichkeit zu zeigen, fühlt sich auch der Denunziant als Agent des Guten. Vor einer genügend schreckenerregenden Gefahr verursacht die «Totalisierung des öffentlichen Diskurses» in der Gesellschaft zwei kombinierte Effekte: einerseits eine Verstärkung der nationalen Volkseinheit, die den Einzelnen dazu drängt, sich nicht mehr als unbedeutendes «Gramm» sondern als «der millionste Teil einer Tonne» zu fühlen (E. I. Zamjátin, Wir); andererseits ein paralysierendes Gefühl der individuellen Machtlosigkeit: es gibt nichts, aber auch gar nichts, was du angesichts des Covid-19 tun könntest, du kannst weder etwas verstehen noch deine Immunkräfte stärken und wenn die Symptome auftreten, kannst du dich umso weniger noch behandeln. (In den täglichen Chroniken der Angst gibt es nie einen „Experten“, der einen minimalen medizinischen Hinweis geben würde ausser «zieht die Maske an, haltet die Distanz ein und wascht euch die Hände», eine Leier, die ein Postbote ebenso gut hätte wiederholen können oder, nach Lenins Verheissung, eine Köchin.)

IX. Männer auf der Brücke

Nehmen wir den Piano Nazionale di Ripresa e Resilienza – Nationaler Plan zur Wiederaufnahme und Resilienz –, der von der Regierung Draghi verabschiedet wurde. Wenn wir das von ihm verfolgte Gesellschaftsprojekt verstehen wollen – nicht nur weil es uns nahe betrifft ein grundlegendes Ding, sondern auch weil es die Tendenzen der Epoche, in der wir leben, bestens erklärt – müssen wir unnütze und irreführende Interpretationsschemas an den Nagel hängen. Der PNRR – der sich in den umfassenderen Next Generation EU einfügt, der seinerseits die vergrösserte Version des europäischen Plans Horizon 2020 ist – ist ein explizites Beispiel eines technokratischen Programms. Ist die Technokratie klassistisch und anti-ökologisch? Ohne weiteres – und in höchstem Masse. Aber nicht alle klassistischen und anti-ökologischen Politiken – die die gesamte Geschichte des Kapitalismus begleitet haben – sind gleichfalls technokratisch. Die Technokratie ist heute die politische Organisation der konvergenten Technologien: Informatik, Gentechnik, Nanotechnologien und Neurotechnologien. Von den 50 Milliarden Euro unter dem Posten “energetischer und digitaler Übergang” sind gar 25 nicht rückerstattungspflichtige Finanzierungen für die Industrie. “Öffentliche Gelder an die Unternehmer: die Fortführung der neoliberalen Rezepte” sagt und sagt sich der Linksmilitante. Eine völlig falsche Auslegung. Nicht nur weil eine solche Behauptung nichts darüber sagt, wohin diese Finanzierungen gehen – Robotik, Automatisierung, Quanteninformatik, Künstliche Intelligenz, data science usw. –, sondern weil sie die Tatsache vernachlässigt, dass die Finanzierungen zur Restrukturierung der öffentlichen Verwaltung, des Gesundheitswesens, der Hochschulen und der Universität in dieselbe Richtung gehen. Darauf aufmerksam machen, dass die Industrie (und die Landwirtschaft) 4.0 die Herrschenden mit “unserem Geld” machen, ist sicher kein Blödsinn. Blöde ist hingegen zu denken, dass die Unterscheidung zwischen privat und öffentlich zur Beurteilung eines staatlichen Programms relevant sei. “Unser Geld”, ja, aber um uns aus der Welt auszustossen. Wie geschrieben wurde, die Masslosigkeit der Technokraten wächst mit ihren Mitteln. Je mehr sie dürfen, desto mehr wollen sie. Es braucht keine “Verschwörungen”. «Es genügt, die Brücke zu überqueren nachdem man sie erreicht hat». Der PNRR systematisiert – mit dem Vorwand, aus dem Notstand zu kommen – all das, was vom Notstand beschleunigt wurde. Es genügt zu beobachten, mit welchem Optimismus die wissenschaftlichen Publizisten (ein Beruf mit schöner Zukunft, angesichts der Tatsache, dass plötzlich entsprechende Hochschulabschlusskurse und post universitäre Master wie Giftpilze aus dem Boden geschossen sind) verkünden, die Covid-19 Epidemie habe die kulturellen Barrieren, die uns von der Welt auf Distanz trennten, gesprengt. Klar, es gibt noch «Taliban der körperlichen Erfahrung», aber die Politik der vollendeten Tatsachen (auch der verbrannten Erde genannt) wird sich schon um sie kümmern: entweder Techno-Bürger oder illegal. Die Lektion mal gelernt, wie sehr die Technologie uns das Leben in der Verbannung verbessert hat, wieso sie nicht auf alles anwenden? «Es wäre nicht das Ende der Welt – versichert uns der Professor Derrick De Kerchove –, bloss das Ende unserer illusorischen und angenehmen Autonomie». Eine Lappalie, in der Kosten-Nutzen Rechnung. Wie hätten wir es nur geschafft, während der Einsperrung, ohne Internet, ohne Telearbeit, Teleschule, Telemedizin, psychologische Teleberatungen, Teleeinkäufe, Künstliche Intelligenz, Genomforschung, Bio- und Nanotechnologien? Tja, wie hätten wir es geschafft?

X. Treibjagd

Vor mehr als einem Jahrhundert schrieb der französische Arzt René Leriche: «die Gesundheit ist ein Leben im Schweigen der Organe» während die Krankheit «das ist, was die Menschen daran hindert, ihrem üblichen Leben und ihren üblichen Beschäftigungen nachzugehen und, vor allem, was sie Leiden macht». Vor etwa 15 Jahren unterstrich ein Soziologe die Tendenz der Konzepte wie “Risikoprofil” und “Empfindlichkeit” Richtung «molekulare Genauigkeit», womit man dank der Entwicklung der Gentechnik Millionen von «Vorpatienten» schuf, die mit «Protokrankheiten» behaftet und «asymptomatisch krank» sind. Und dieser Soziologe schloss mit der Frage: «Welches moralische Urteil würde man über jene sprechen, die sich entscheiden würden im „Schweigen der Organe“ zu leben?».

Die Quarantäne ist eine Praxis, die historisch sowohl der Entwicklung des Kapitalismus als auch dem Entstehen des modernen Staates vorangeht. Vor Ansteckungsherden so zu handeln, dass diese sich nicht ausbreiten, war eine Massnahme, die auch in Zeiten als sinnvoll betrachtet wurde, wo die Medizin sich nicht der Benennung Wissenschaft rühmte, sondern sehr schlichter als Kunst angesehen war (wie die Malerei, die Skulptur, die Musik oder die Architektur). Eine Kunst, die, genau wie heute die Wissenschaft, den herrschenden Vorstellungen unterworfen war. Es gab nicht viele Ärzte, die es wagten ihre eigenen Kongregationen herauszufordern; darunter Hippokrates und Paracelsus, der erste indem er behauptete, die Epilepsie sei keine Krankheit göttlichen Ursprungs, der zweite, dass die Pest nicht von den Juden verbreitet werde; während in jüngerer Zeit an jene erinnert werden muss, die beizeiten die Schädlichkeit von Asbest, radioaktiver Strahlung und GVO in der Landwirtschaft erkannt und angezeigt haben. Und auch diese Weisen und Mutigen gab es nicht scharenweise. Bekanntlich wurde die Pest nicht mit besonderen medizinischen Behandlungen besiegt, sondern durch die Verbesserung der hygienischen Bedingungen. Gleichfalls, ohne dem industriellen Krieg gegen die Natur und dem Lebendigen ein Ende zu bereiten, ist das «pandemische Jahrhundert» weder die Prophezeiung eines Unglücks noch ein sanitärer Alarm, sondern “Kollateralschaden” und gleichzeitig eine Chance für eine weitere Flucht nach vorne der Technokratie. Im Ansteckungsfall wurden in prä-genomischen Zeiten die Kranken von den Gesunden Isoliert. Da es weder die Sequenzierung der Viren noch die Molekulartests gab, gab es auch keine „Fälle”, keine “Positiven”, keine “Asymptomatischen”. In der auf der sozialen Ebene gelebten und nicht auf molekularer Skala diagnostizierten Erfahrung gab es das Schweigen der Organe oder das Leiden und der Tod. Was hat, hingegen, diese wundersame technologische Zivilisation angesichts einer Epidemie getan, die weder Pest noch Ebola ist? Hat sie mit den dank den eigenen Innovationen perfektionierten Instrumenten sofort auf die Stimme der Organe gehört? Nein. Sie hat Millionen Individuen – die zum grössten Teil «im Schweigen der Organe» lebten – als potentiell Angesteckte behandelt, die Angesteckten als schon krank, die Kranken als schon fast Tote, die nur eine heroische Kriegsmedizin imstande wäre, einem unglücklichen Schicksal zu entreissen. Nicht nur. Sie hat in den RSA (Residenze Sanitarie Assistenziali – Pflegeheime) die Kranken nicht von den Gesunden getrennt, und auch in den Spitalzugängen hat sie die Covidkranken nicht von den Patienten mit anderen Pathologien getrennt; sie hat auf Teufel komm raus den sehr nüchternen und wenig innovativen Eingriff der Territorialmedizin entmutigt, hat zeitlich begrenzte Einsperrungen und Ausgangssperren erneuert – auch nachdem das Virus schon ein Jahr im Umlauf war und Millionen Personen angesteckt hatte – und weiter zugelassen, dass die Kranken im Spital landeten und an Sauerstoff angeschlossen wurden. Panik, unvorbereitet sein, das Gewicht der neoliberalen Politik? Auch das, sicher. Aber in geringerem Masse. Der Apparat hat das getan, wofür er programmiert wurde: die Innovation nicht an die Gesundheit anwenden, sondern aus der Krankheit eine Möglichkeit machen, die Innovation zu steigern. Dank der Gentechnik wurde eine erste Variante des Virus (die von Wuhan) sequenziert. Auf jene Sequenzierung wurden schon einige Monate danach – dank der Künstlichen Intelligenz, der Bioinformatik, der Molekularbiologie und der Nanotechnologie – Impfstoffe entwickelt. Da sie sowohl nicht daran interessiert war zu verstehen, wie das Virus um sich greift (über die Atemwege oder durch Darminfektion: nicht einmal das weiss man) als auch nicht wie man die natürliche Antwort des Organismus unterstützen kann, hat sie auf Massenskala das kybernetische Paradigma angewendet, um das herum sie sich entwickelt hat: das Individuum ist auf die Informationen reduzierbar, die seine Zellen mit der Umgebung austauschen. Die Empfindlichkeit auf die Krankheit – unabhängig vom Alter, vom psychophysischen Zustand, usw. – hat die Masseneinsperrung in Erwartung des ebenso Massenmittels gerechtfertigt, (das abgesehen von den schon von den Subjekten entwickelten natürlichen Antikörpern angewendet werden muss). Warum? Wegen den gigantischen Profiten der Pharmaindustrie, ohne weiteres. Aber auch wegen der Überzeugung, dass die dank den Nanotechnologien in den Körper eingeführten “genetischen Informationen” leistungsstärker sind als die spontane Antwort des Körpers. Aber auch weil die Geno-Industrie aus „Körperjägern“ besteht (die Genetisten wurden in der “Washington Post” im Jahr 2000 als The body hunters definiert), die kaum glauben konnten, dass sie ihre Treibjagd nun auf den gesamten Planeten ausweiten konnten. Aber auch weil die Massenimpfung – sehr viel mehr als die Hauspflege ohne Klamauk, ohne Generäle und ohne Helden – dem Staat erlauben, sich als Heilsbringer und Garant der öffentlichen Gesundheit zu präsentieren; bzw. die eigene Macht zu vergrössern und sie der Gesellschaft überzustülpen, zuerst als polizeiliche Massnahme und dann als programmatische Ausweitung zur “Normalität” dessen, was er im „Notstand“ experimentiert hat.

Die Krankheit «ist das, was die Menschen daran hindert, ihrem üblichen Leben und ihren üblichen Beschäftigungen nachzugehen», schrieb obg. Leriche, und passt diese Definition etwa nicht perfekt zur Art und Weise, wie der Staat die Epidemie verwaltet hat? Was die zusätzlichen Leiden angeht, was soll man von den Alten sagen, die man sterben liess, ohne sie nicht einmal von ihren Lieben verabschieden zu lassen? Was soll man von der Unmöglichkeit sagen, die Trauer teilen und bewältigen zu können? Was über die zusätzliche häusliche Gewalt gegen die Frauen? Was zu den Selbstmorden? Und von den vielen Jugendlichen und Jungen, die sich immer noch nicht ohne Panik vorstellen können, ausser Haus zu gehen? Nur eine Zivilisation, die den Körper vom Geist trennt, und das Individuum von seinen Beziehungen, kann denken, dass die Isolierung und die völlige Überschüttung mit Angst nicht dazu beitragen würden, die Immunabwehr der Menschenwesen zu schwächen, und so Krankheiten zu verursachen («die Vorstellung und die Arten und Weisen von Gesundheit sind variabel und hängen direkt von der Kosmovision ab, in der sie ihren Platz finden»). In der sich im Aufbau befindenden Welt der genetischen Diagnosen, der voraussagenden Screenings und der einnehmbaren Nanosensoren um damit die “Protokrankheiten” aus der Ferne zu kontrollieren, «was für ein moralisches Urteil würde man über jene sprechen, die sich entscheiden würden, im „Schweigen der Organe“ zu leben?». Wir können schon antworten wenn wir an diejenigen denken, die – in voller Pandemie! – eher den Symptomen vertraut haben als den Tampons oder an jene, die die Impfstoffe der biotechnologischen Bastelei ablehnen. Unverantwortliche, Verschwörungstheoretiker, Leugner, Taliban der körperlichen Erfahrung, Anti-nationale, Deserteure vor dem Feinde in der Stunde der Gefahr.

XI. Avantgarde-Unmenschliche

Die von den (artistischen, politischen, wissenschaftlichen) Avantgarden lancierten Manifeste verkündeten generell deren programmatische Zwecke. Wer den Anspruch stellt, den Zeitgeist seiner Zeit zu interpretieren und den zukünftigen vorauszusagen, bejubelt fast immer die historische Bewegung, die seine eigene Existenz als Avantgarde produziert hat, und die historischen Gesetzmässigkeiten, die seine Rolle rechtfertigen. Progressismus und Futurologie integrieren einander sehr gut. (Die Tatsache, dass die Anarchisten sich als agierende Minderheit und nicht als Avantgarde begriffen haben, ist eine alles anders als zufällige ethische und „politische“ Geste; die Aufforderung Benjamins, die Ungerechtigkeiten der Vergangenheit durch die revolutionäre Aktion zu rehabilitieren anstatt zuversichtlich auf eine strahlende Zukunft zu warten, ist eine alles anders als zufällige ethische und „politische“ Geste; überhaupt kein Zufall, dass ein Poet wie Iosif Brodskij – vom „sowjetischen“ Regime, unter dem «man nie wusste, was die Vergangenheit uns bescheren könnte», wegen „sozialem Parasitismus“ eingekerkert – schreiben konnte: «Die Zukunft, in ihrer Gesamtheit, ist Lüge».) Auch die historische Entwicklung der Technowissenschaften hat die zu ihr passende Avantgarde: die transhumanistische Bewegung. Die Transhumanisten behaupten auf programmatische Weise das, was der technologische Apparat stumm verwirklicht. Als Avantgarde beansprucht der Transhumanesimus für sich die Rolle, alle Hindernisse zu überwinden, die das bewusst zu vollbringen verhindern, was die Menschheit – selbstverständlich die westliche, die für die gesamte Menschheit massgebend ist – bis jetzt meistens unbewusst verfolgt hat. Hat sie nicht schon immer die Materie und die eigene Umwelt verändert? Hat ihre Religion ihr nicht etwa den Fluch zu leben als Frucht der Schuld dargestellt: “du wirst das Brot im Schweisse deines Angesichts essen” und “unter Schmerzen wirst du Kinder gebären”? Haben ihre hervorragendsten Philosophen ihr nicht etwa die Lehre erteilt, dass der Körper das Grab der Seele ist? Versuchte sie nicht schon immer, die Angst vor dem Tode mit dem Versprechen des Paradieses zu besiegen? Na bitte: dank den technologischen Entwicklungen können diese Fluche besiegt und jene Versprechen endlich verwirklicht werden. Die Lebensprozesse können im Labor neu kombiniert werden. Die allgemeine Automatisierung kann die körperliche Mühe der Arbeit abschaffen. Die Reproduktion kann künstlich werden. Leistungen und Wahrnehmungen können gesteigert werden. Die Gliedmassen und das Gehirn können mit den Maschinen hybridisiert werden. Der Tod kann besiegt werden. Die Mittel für dieses gesamtheitliche Programm sind schon da: die gesteigerte Wirklichkeit, die Gentechnik, die Neurotechnologien, die Nanotechnologien, die synthetische Biologie. Um angemessen zu funktionieren, müssen sie aber grenzenlos implementiert und vor allem in einem intelligenten Planeten miteinander verbunden sein.

Wieso gleichen die Massnahmen, mit denen die Sars-Cov-2 Epidemie in Angriff genommen wurde und die Programme, mit denen der Neuanfang verkündet wird, in bedrohlicher Art und Weise dem, was sich der Transhumanesimus vornimmt? Eine Antwort darauf kann man in der Konferenz – Titel: Nanotechnologie für das Menschenwesen – von Roberto Cingolani 2014 in der Università degli Studi von Mailand finden (auch im Internet). Was er heute als Minister des „ökologischen Übergangs“ zu finanzieren und zu organisieren beschäftigt ist, sind genau jene Forschungsprogramme, die er dermassen inspiriert förderte, als er Leiter des Istituto Italiano di Tecnologia war. Die Konferenz, ein 35 minütiges Kommentar zu einem Videospot von Microsoft, das in den Stadien projiziert wird, erklärt wasserklar, dass die (transhumane) Zukunft der ineinander greifenden Entwicklung der Informatik und der Bio-Nano-Neurotechnologien gehört. Der Zuhörerschaft jenes technowissenschaftlichen Kaffeekränzchens verschweigt der zukünftige Minister nicht, dass der Weg zum vollständigen Verbund Mensch-Maschine noch lange ist, aber er erinnert auch daran, dass «der Appetit mit dem Essen kommt». Die nazistische Biopolitik war im 20. Jh. Avantgarde in der Aufstellung der Theorien über die “Rassische Degeneration”, die von der angelsächsischen eugenischen Bewegung des 19. Jh. ausgearbeitet wurden und die, ihrerseits, ihre Wurzeln in der Praxis auf dem Felde des britischen Kolonialismus hatten. Ohne den Machtkrieg zwischen Staaten wären gewisse Experimente nie aus den Labors heraus gekommen (weder aus jenen Berlins noch aus jenen von Los Alamos). Mit seiner sehr bekannten Technik der Übertreibung, um das “sovraliminare”, bzw. etwas, dessen Effekte so masslos sind, dass sie von den Sinnen und der Vorstellungskraft gar nicht mehr wahrgenommen werden können, fassbar zu machen, definierte Günther Anders das technologische System als «national-sozialistische Gemeinschaft der Apparate». Er meinte damit, dass die Apparate in ihren umfassend kombinierten Effekten begriffen werden müssen, aber auch, dass, wenn wir auf das Geräusch achten, «das von den stählernen Lippen der Maschinen» kommt, wir denselben Slogan hören können wie jener der Braunhemden («… und morgen die ganze Welt!»). Welcher Tatsache ist es zu verdanken, dass der Transhumanesimus – dessen erstes Manifest 1983 von Natascha Vita-More lanciert wird, im selben Jahr, in dem es zur ersten Speicherung von informatischen Daten kommt – aufgehört hat eine Übung in anti-humanistischer Futurologie zu sein, um zum regelrechten Direktionszentrum zu werden? Schon wieder dank dem Machtkrieg zwischen den Staaten. Nach dem 11 September 2001 wird dann auch die Fusion zwischen den start ups der Silicon Valley – die von den brillantesten aus der MIT hervorgekommenen Nerds geschaffen wurden –, der CIA und den Forschungsdepartementen des Pentagons realisiert. Der erste Sprung nach vorne – finanziell und folglich als Infrastruktur (intelligentere Maschinen weil mit mehr Daten gefüttert, leistungsstärkere Server usw.) – machen die Gründer von Google, indem sie Keyhole, eine von der CIA kontrollierte Gesellschaft, übernehmen um sie in Google Earth zu verwandeln. Gesteigerte Wirklichkeit, 5G, Internet der Dinge, Drohnen, Gesichtserkennung, Intrusions-Software, Quantenkryptographie, die ersten m-RNA Impfstoffe… sind alles Wunderwerke, die aus der Zusammenarbeit zwischen Digitalgesellschaften, den Bio- und Nanotechlaboren und dem militärisch-industriellen Komplex entstanden sind. Dasselbe gilt für das Projekt Humangenom, für deCode in Island, UmanGenomics in Schweden, UKBiobank in Grossbritannien oder CeleraDiagnostics in den USA. “Marktsozialismus” anstatt “Liberal-Demokratie”, nichts anderes ist auch der in China stattgefundene Fusionsprozess. Als, schon im April des vergangenen Jahres, etwelche Professoren des MIT – ein Institut, das ein regelrechter Inkubator für Transhumanisten ist – prophezeiten, dass es keinerlei “Post-Pandemie” geben würde und wir uns an die digitalen Passierscheine gewöhnen müssten um Zugang zu gewissen Lokalen oder Dienstleistungen zu haben, was taten sie denn anderes als uns zu informieren, womit ihre Kollegen des Labors nebenan beschäftigt waren! Dasselbe gilt für die „Prophezeiungen“ von Bill Gates, die Projekte von Amazon oder die Ankündigungen von IBM. «Wenn der Transhumanesimus ohne Behinderungen voranschreitet, dann weil die Technokratie sie unter den Farben der wirtschaftlichen Rationalität verkauft» (und, könnten wir anfügen, der medizinischen Hoffnung). «Das transhumanistische Projekt ist der andere Name des Wachstum».

XII. Das grosse Arsenal

Als 2003 der Neokonservative George Bush Jr. und der Neolabourist Tony Blair dem Irak unter dem Vorwand der Massenvernichtungsmassen des Regimes von Saddam Hussein den Krieg erklärten, und die “Koalition der Willigen” mit der Unterstützung der westlichen Medien an den Bombardements der Operation Enduring Freedom teilnahm, sprach die Oppositionsbewegung auf den Strassen und Plätzen von einer Lüge, um die wirklichen Ziele des Krieges zu verdecken, und von einer auf internationaler Ebene geplanten Medienstrategie. Es war für alle eine sinnvolle und materialistische Erklärung. Niemand sprach von “Verschwörung” und kein Kriegsgegner wurde mit “Verschwörungstheoretiker” beschimpft. Dasselbe geschah vor einigen Monaten mit dem Aufstand der Palästinenser gegen die Apartheidpolitik Israels. Dass alle Massenmedien die Bombardierung Gazas als Antwort auf die Raketen von Hamas darstellten – Bombardements, wovon, wenn überhaupt, deren Verhältnismässigkeit oder nicht diskutiert werden könnte – und dass die Massenkundgebungen in Solidarität mit dem palästinensischen Kampf in der halben Welt weitgehend verschwiegen wurden, ist sicher nicht als “Verschwörung” wahrgenommen worden, und als “Verschwörungstheoretiker” wurde auch nicht definiert, wer eine sehr klare politisch-mediale Strategie angeprangert hat. Niemand hat an eine Art obskuren Führungsbunker gedacht, der Regierungen, Politiker und Journalisten auf seine Lohnliste setzt, sondern an eine Konvergenz von Interessen. Wenn man sagt, dass die Art und Weise der Verwaltung der Epidemie Covid-19 durch fast alle Regierungen nicht nur funktionalen Elementen, sondern auch einer sehr klaren Strategie entspreche, wieso dann behaupten es sei, in diesem Fall, eine “Verschwörungstheorie”? Das Programm einige Milliarden Menschen zu impfen – ein Programm, das die Inokulierung in massiven Dosen der Idee impliziert, dass es die einzige Lösung sei um den “Krieg gegen das Virus zu gewinnen“ – kommt von derselben Konvergenz von Mächten, die zur Rechtfertigung der Bombardements den “Krieg gegen den Terrorismus” lanciert haben. Bomben oder Impfstoffe, es handelt sich um zwei Züge aus derselben Kommandoschaltzentrale. Die Erklärung Jo Bidens am kürzlich stattgefundenen G7 hätte klarer nicht sein können: «Wir sind das grösste Arsenal, das uns erlauben wird, die weltweite Schlacht gegen das Virus zu gewinnen». Eine Schlacht, in der die kurzsichtige Konkurrenz unter den verschiedenen Pharmamultis und die geopolitische Auseinandersetzung unter den Staaten allerdings dazu neigen, deren Wert zu beeinträchtigen. Dazu haben die Redakteure des “The Economist” folgendes geschrieben: «Stellt euch ein Investment vor, das einen Gewinn von 17.900% in vier Jahren fruchten könnte. Nicht nur, das auch noch mit einer absolut zugänglichen Geldanlage. Wer wohl auf der Erden hätte sich eine solche Chance entgehen lassen? Die Antwort sind, anscheinend, die Leader der Gruppe der Sieben (G7), ein Klub reicher Demokratien, der diese Woche sein jährliches Spitzentreffen in Grossbritannien abgehalten hat. Da es ihnen nicht gelingt, schnell genug zu handeln um die Welt gegen Covid-19 zu inokulieren, verpassen sie das Geschäft des Jahrhunderts». In der Zeit seit 2003 bis heute, hat es der Feind, offensichtlich, «weder verschlafen noch gespielt». Die Mechanisierung der Entscheidungsmacht – informatische Datensammlung, Ausarbeitung der Algorithmen und automatisierte Ausführung der Befehle – bedingt eine unausweichliche Reduktion der Anzahl Entscheidungsträger. «Die Wissenschaft befiehlt es uns» heisst hauptsächlich das. Die Tatsache ist dermassen notorisch, dass sogar fahlen Bürokraten der EU gelungen ist, es niederzuschreiben: «Die Entwicklung der Robotik kann als Folge haben, dass sich das Reichtum und die Macht in signifikanter Weise in den Händen einer Minderheit konzentrieren» (Resolution des EU-Parlaments zur Robotik, 16. Februar 2017). Gewisse Namen – zuoberst die Bill & Melinda Gates Foundation – oder gewisse Entitäten – Big Pharma – scheinen dann im Umlauf zu sein um absichtlich Elemente der Wahrheit zu vermischen und gleichzeitig eine okkulte private Regie hinter dem Notstand zu suggerieren. Die These eines Gates als grosser Führer – die zweifellos Bresche schlägt – wird von denselben Regierungschefs als “verschwörungstheoretisches Delirium” bezeichnet, die den Gründer von Microsoft dann als externen Berater des G20 für Gesundheit und Impfstoffe einladen… Von Gates reden kann eine optimale Art und Weise sein, um die Erkennung der kleinen und konkreten Vernichter des Menschlichen zu umgehen, die in den universitären Departementen mit der Künstlichen Intelligenz oder in den rigoros mit öffentlichen Geldern finanzierten bio- und nano-technologischen Labors am Werkeln sind. Wenn man Lust hat, die imposante The Palgrave Encyclopedia of Imperialism and Anti-Imperialism zu konsultieren, kann man sehen, dass die Kritik des «Imperialismus der Gesundheit und der Impfstoffe» – vor allem durch die LARC, die “Verhütungsmittel” mit langsamer Ausschüttung, deren Zweck die jahrelange Verhinderung der Schwangerschaft für arme Frauen ist –, der von der Bill & Melinda Gates Foundation praktiziert wird, schon vor vielen Jahren sowohl von akademischen als auch von militanten Intellektuellen und Historikern angebracht wurde. Dieselbe Vandana Shiva hat sicher nicht auf das Covid-19 gewartet um den “wohltätigen” Imperialismus anzuprangern, dessen Ziel ist, aus unseren Körpern die neuen Kolonien für die digitale und pharmazeutische Industrie zu machen. Und doch genügt es Bill Gates zu sagen und der Linksmilitante – mit dabei auch einige Compas – runzelt die Stirn, wenn dann nicht gar der brillante Theoretiker mit seinem Sarkasmus über die Pläne Satanas einfährt… Wenn das kein Kommunikationskrieg ist! Nun, die erklärte Anstrengung des Chefs von Microsoft in neo-malthusischem Sinne ist unbestreitbar (und schau welch ein Zufall, die überflüssigen Wesen auf diesem Planeten sind farbig, wie auch die zu sterilisierenden Frauen farbig sind…); unbestreitbar ist seine Finanzierung aller Unternehmen, die mit der Entwicklung der Impfstoffe letzter Generation beschäftigt sind; unbestreitbar ist sein Programm ID2020 mit dem Zweck, jedem Menschenwesen eine digitale Identität durch die sogenannten Quanten-Tatoos zuzuordnen; unbestreitbar seine Projekte, Körperaktivitäten in patentierbares Eigentum zu verwandeln; unbestreitbar wie sehr seine “Prophezeiungen” – die in Wirklichkeit Baustellen sind – den von den NATO-Staaten getroffenen “anti-Covid”-Massnahmen überraschend ähnlich sind. Das sind Wahrheiten im Sinne Orwells (2+2=4), was die Technokraten des Westens und des Ostens auch dazu sagen mögen. Wann werden diese partiellen Wahrheiten zu totalen Lügen? Wenn man die Intentionalität einiger Machtzentren von der Funktionalität – für alle Mächte – der technologischen Flucht nach vorne voneinander trennt. Wenn die Staaten als Schachfiguren der Technokratie betrachtet werden, während sie schon sowohl deren historische Inkubatoren als auch die politischen und militärischen Organisatoren sind. Wer das Internet der Dinge verwaltet, regiert die Menschen. Wer die Menschen regiert, verwaltet das Internet der Dinge.

XIII. Kleine Neuigkeiten

Ein Kapitel für sich – das wir hier nur andeuten können – ist jenes zur revolutionären Theorie in Zeiten des Notstandes. Wer radikale “ethisch-politische” Interpretationsraster hatte, hat darin die kleine Neuigkeit der sozialen Einsperrung von Milliarden Menschen ohne grosse Mühe eingefügt. Im Grunde hat die Sars-CoV-2 Epidemie die Krise der kapitalistischen Produktionsweise und ihre anti-ökologische Wechselwirkung mit der Natur bloss verschärft; die technokratische Verwaltung ist bloss ein Epiphänomen (wird als eine Entität bezeichnet, die kausal verursacht wird, aber selbst keine oder nur eine unbedeutende Wirkung auf das System hat. d.Üb.) des Krieges des Kapitals gegen die Lohnempfänger und das Ökosystem… Für viele “einfache Leute”, die keine vorgefassten theoretischen Filter haben, war diese Erfahrung hingegen ein Schock – und nicht nur wegen den mit dem wirtschaftlichen Überleben verbundenen Sorgen. Nicht alle haben die durch die „harte Notwendigkeit“ auferlegten Massnahmen widerstandslos introjiziert (fremde Anschauungen, Ideale usw. in die eigenen einbeziehen). Für tausende Menschen war es ein Test für „Faschismus“, eine „sanitäre Diktatur“, dass der Staat ihnen verbot ausser Haus zu gehen und ihre Freunde und Verwandten zu treffen, dass er sie dazu zwang, normale alltägliche Gesten bürokratisch zu rechtfertigen oder über Notstandsdekrete bestimmte, wie viele zusammen essen konnten und welche Häuser man betreten durfte. Dass der Gebrauch von Kategorien davon abhängt, wie sehr diese Personen der politisch-medialen Propaganda ausgesetzt sind oder sich eher an den “Gegen-Erzählungen” im Netz orientieren, ist eigentlich klar. Sowie auch klar ist, dass der Reaktionsmodus auf eine nie dagewesene Lage von verschiedenen Faktoren abhängt: Klassenzugehörigkeit, verfügbare kulturelle Instrumente, frühere Protesterfahrungen, Beziehungsnetz usw. Was wir feststellen können ist, dass sich den Regierungsmassnahmen vor allem Menschen mit mittlerem Bildungsstand und Linke am überzeugendsten angepasst haben. Wahrscheinlich weil empfänglicher gegenüber den institutionellen Aufrufen zum Verantwortungssinn und dem eingehämmerten Argument “tun wir es für die Schwächeren”. Aber auch wegen der introjizierten Vorstellung, der Staat sei Ausdruck des Allgemeininteresses oder jedenfalls die einzige Kraft – so sehr von den wirtschaftlichen Interessen auch geschwächt und behindert –, die imstande ist, es zu erzwingen. Die Angst – zu erkranken oder eine Busse zu bekommen – erklärt nur zum Teil das, was geschehen ist, denn Divergenzen und Konflikte blieben nicht einmal den Szenen erspart, die an den Kampf und an die Repression gewöhnt sind. Die mit der Einsperrung begonnene Spaltung hat sich längs mehr oder weniger denselben Linien mit der Impfung noch vergrössert. Für jemanden war die Spur schon gezogen. Viele Familien – oft mittelständische und mittlerer Bildung, die achtsam auf die Ernährung der Kinder und für die alternative Medizin, umweltfreundlich, mit Bezug auf gewaltlose Modelle usw. sind – verlangten vom Staat grundsätzlich bloss, sich nicht in die Erziehung und Gesundheitspflege einzumischen. Das “Gesetz Lorenzin”, das 2017 die Impfpflicht im Auftrag von Glaxo eingeführt hat, war für sie eine Art Schnellkurs in Staatsdoktrin gewesen. Sie haben entweder vor der Logik der vollendeten Tatsache (bzw. der Macht) kapituliert oder alternative Schulen ins Leben gerufen, und am Rande ihrer nunmehr integrierten Zeitgenossen ihre Bindungen gestärkt. Der Covid-19 Notstand hat diese Gräben vertieft. Die Verweigerung der Didaktik auf Distanz hat einen weiteren Grund zum Protest und zur Bildung von Mikrogemeinschaften geliefert. Das Paradoxon ist, dass diese Personen, die ziemlich über die Impfstoffe, die GVO, die verweigerte Hauspflege, die gesundheitlichen Auswirkungen des 5G informiert sind, die antagonistischen Szenen allzu sehr auf Linie mit der herrschenden Medizin finden, und betrachten jene, die sich nicht gegen die Einsperrung und die neue Impfpflicht aufgestellt haben, als Hörige des “sanitären Faschismus”. Gerade weil die Massnahmen der Regierung jene «apokalyptische Vorstellung, die schon seit Jahrzehnten im sozialen Unterbewusstsein liegt» – das Gefühl von etwas Dräuendem ist die Art und Weise, wie die Körper auf das laufende ökologische Desaster reagieren –, für sich ausgenützt hat, hat die Erfahrung dieser anderthalb Jahren als ideologische Wasserscheide funktioniert. Tausende Proletarier und Arme rebellieren gegen eine Welt, in der es für sie keinen Platz hat. Andere, Privilegiertere und in ihren Ansprüchen bis anhin moderat, wollen nicht länger auf dem ihnen auf der Welt zugewiesenen Platz bleiben. Ein Teil der revolutionären Theorie, die ideell auf das Desaster vorbereitet war, hat als Beruhigungsmittel (die strukturellen Ursachen der Epidemie, die Krise des Kapitals… alles wie erwartet) anstatt als Initialzünder des gekränkten und verminderten Lebens agiert. Über ein Ding haben die Technokraten recht: Morgen fängt man nicht von vorne an.

XIV. Ökologische Massnahmen

Nehmen wir auf unsere Art und Weise die treffende Eingebung Chestertons wieder auf. Wenn “nichts funktioniert”, nützt das Inventar der wirksamsten Lösungen nichts. Was nützt, ist die Definition selbst der Probleme zu ändern. Was dient ist die Utopie. So haben angesichts des Notstandes Gruppen und Bewegungen begonnen, ihre Programme zu verkünden, die vorher im Hintergrund der unmittelbaren Kämpfe gelassen wurden. Und hier ist die entscheidende Frage aufgekommen: die Frage des Staates. Da der Kapitalismus seine die Umwelt offen vernichtende Route niemals ändern wird, was tun? Die Macht des Staates einsetzen um jene Förderungswut aufzuhalten, die der energetische und „ökologische“ Übergang bloss verschlimmern kann. Auf diesen programmatischen Punkt konvergieren jene, die für den Rückgang sind und die Stalinisten und die Leninisten, sobald die Umstände sie dazu zwingen, Klartext zu reden. Während die weniger Radikalen sich vormachen, dass der staatlichen Planung eine „gutkommunistische“ Richtung von Unten einzuflössen möglich wäre – und hier trennen sich die Schulen: muss die Entwicklung angehalten oder nationalisiert werden? –, setzen die kohärentesten auf einen «ökologischen Leninismus». Nur wenn der Staat gänzlich seines kapitalistischen Wesens entkleidet ist, kann die Macht des Staates den privaten Profit aufhalten und wirklich ökologische Pläne erzwingen. Lassen wir mal die Kleinigkeit der revolutionären Eroberung der politischen Macht beiseite (proletarische Bewaffnung, Aufstand, Verbindung zwischen den revolutionären Bewegungen in den verschiedenen Ländern usw.); sehen wir auch davon ab, uns vorzustellen welche Massnahmen diese Revolutionäre getroffen hätten, wenn sie während der aktuellen Epidemie an der Macht gewesen wären… und gehen zum Kern der Frage. Wer die Macht will, will die Mittel der Macht. Die technologische Maschine – Zentralisierung des Wissens, hierarchische und funktionale Trennung der Rollen, Wirksamkeit als Wert an sich, Konkurrenz in der Suche nach den wirksamsten Lösungen usw. – entwickelt man weil das die Zwangskraft der Regierenden über die Gesellschaft vergrössert. Diese Kraft, wie die Geschichte des 20. Jh. grosszügig illustriert, beutet die Menschlichen im selben Masse aus, in dem sie die Natur ausraubt, und vice versa. Da nützt es wenig, sich zu Antikolonialisten zu erklären und, weil es Mode ist, etwelche indigene Aufstände zu begrüssen, wenn man im eigenen Geiste die Geschichte des Kolonialismus nicht demontiert. Die indigenen Gemeinschaften, die in einem Verhältnis des Gleichgewichts mit ihrer Umgebung leben, waren und sind Gemeinschaften ohne Staat. So wie das Märchen des zeitlich beschränkten und transitorischen Gebrauchs der politischen Macht sich noch nie verwirklicht hat, würde eine Revolution, die in ihrem eigenen Verlauf die Ursachen des ökologischen Desasters nicht zerstört, dem Staat sowohl die Mittel um den revolutionären Elan zu brechen als auch die Hebel einer Förderungsmaschine anvertrauen, die notwendig ist, um die neue soziale Trennung zwischen Anführern und Ausführenden zu gewährleisten. Ergebnis: eine grün angemalte Technokratie. Die Vernichtung des Staates ist die ökologische Massnahme, die alle anderen möglich macht.

XV. Prinzipiell

Wahrscheinlich hängt die theoretische Unzulänglichkeit im Verständnis der laufenden historischen Transformation – worin die Notstand genannte Beschleunigung angesiedelt ist – sowohl von veralteten Interpretationsschemas als auch von einem Rest an Gläubigkeiten ab, die durch das theoretische Bewusstsein alleine nicht zu überwinden sind. Wir wissen – wenn wir die Aktion des Staates im Verlauf der Geschichte oder der aktuellen Kriegs- und neokolonialen Herrschaftsszenarien beobachten – dass für seine (heute technokratische) Machtpolitik keinerlei ethische, politische oder juristische Grenzen existieren. Und doch scheinen uns gewisse Schlussfolgerungen übertrieben zu sein. Möglich, dass unmittelbar so viele wirtschaftliche Interessen geopfert wurden, um die Bedingungen für den Grossen Übergang aufzutischen? Ist es möglich, dass man so viele Menschen sterben liess um die öffentliche Überzeugung durchzusetzen, Covid-19 sei unheilbar und damit die „Wiedereröffnungen“, die „Wiederaufnahme“ und das „Zurück zur Normalität“ von der biotechnologischen Massenimpfung abhängig? Die Praktiken der sozialen Technik und der Ausrottung, die von den Staaten im Verlaufe des 20. Jh. getätigt wurden (Durchschnitt der Ermordeten: 30’000 Personen am Tag), haben vielleicht nicht schon zur Genüge geantwortet: «Ja, es ist möglich»? Und die Mittel, über die sie verfügen, haben sich bloss vermehrt und radikalisiert. Wenn in den achtziger Jahren eine Gruppe wie die Rote Zora – als Ausdruck einer breiteren revolutionären und feministischen radikalen Bewegung – unter anderem die Wissenschaftszentren und Gentechlabore angriff, dann weil sie in jenen Forschern und Instituten die Fortführung der nazistischen Eugenik sahen. Wo nicht nur eine biografische (unter den Führungskräften befanden sich hervorragende Figuren der national-sozialistischen wissenschaftlichen Programme) sondern auch eine planmässige Kontinuität festzustellen war. Um die Kontinuität in den Projekten zu begreifen, war der Antifaschismus jedoch eine stumpfe Waffe. Über die Geschichte hinaus, musste man auch auf die geographischen Dynamiken der Herrschaft schauen. Nur so konnte man die Verbindung zwischen den in der Landwirtschaft angewendeten Biotechnologien und der auf die Menschenwesen angewendeten Gentechnik, zwischen der Zwangssterilisierung der armen Frauen in Porto Rico, Brasilien oder in Afrika und der medizinisch betreuten Fortpflanzung für die Frauen in den Ländern mit fortgeschrittenem Kapitalismus, zwischen dem Imperialismus der Bomben und dem Imperialismus der Impfstoffe begreifen. Die Überzeugung, dass diese unmenschlichen Programme sehr real waren, hing nicht bloss von der gesammelten Dokumentation ab, sondern auch von der Tatsache, dass die Mengeles und das Programm Aktion T4 als wissenschaftlich-staatliche Beispiele noch frisch in Erinnerung waren. Der Angriff und die Sabotage gegen eine Gentechnik, die nunmehr im Namen des demokratischen Wohlstandes und der Gesundheit der Bevölkerungen voranschritt, war ein konkreter Widerstand gegen die neuen sich in Vorbereitung befindenden Schrecken und gleichzeitig eine ethische Positionierung gegen die Befehle, die schon ausgeführt wurden: bzw. ein Akt des Bruches mit den Grossvätern und Grossmüttern, den Väter und den Müttern, die kollaboriert oder alles stillschweigend zugelassen hatten. Die Botschaft dieser Spreng- und Brandsätze war auch: Nie Wieder. Wieso scheint uns, heute, die Dokumentierung zur Tatsache, dass die Chefs der wichtigsten Informatikmultis bekennende und aktive Transhumanisten sind, nicht viel mehr als ein Stichwort im Eintrag Profit zu sein? Wieso scheint uns die Nachricht, dass der Chefentwickler des Impfstoffes von Oxford-AstraZeneca ein bekannter Eugeniker und Förderer der Sterilisierung der Frauen Afrikas ist, dubios oder übertrieben zu sein? Sicherlich weil uns die Infoflut, die im Netz zirkuliert, nicht nur passiver sondern auch misstrauischer gemacht hat. Aber vor allem wegen dem relativen Komfort, in dem wir grossgezogen wurden, als Betäubungsmittel gegen jegliches geschichtliche Bewusstsein. Wegen ihrer direkten Erfahrung weniger narkotisiert, hier die extremen Worte, die 1980 zwei nicht besonders extremistische Historiker zu schreiben gewagt haben: «Innerhalb gewisser Grenzen, die durch Abschätzungen politischen oder militärischen Charakters gezogen werden, kann der moderne Staat mit jenen, die seiner Kontrolle unterstellt sind, alles tun, was er will. Es gibt keine ethisch-moralische Grenze, die der Staat, wenn er es tun will, nicht überschreiten darf, weil über dem Staat keinerlei ethisch-moralische Macht existiert. Auf der ethischen und moralischen Ebene entspricht die Lage des Individuums im modernen Staat, prinzipiell, in etwa jener der in Auschwitz Internierten» (George M. Krent, Leon Rappoport, The Holocaust and the Crisis of Human Behavior).

XVI. Loslassen

«Die Medizin bildet einen der eindeutigsten Angriffsmomente auf den menschlichen Körper. Das Kapital äussert sich durch seine Doktoren und Wissenschafter, Armee an der echten Endlösungsfront im Krieg, den das Kapital gegen das Lebewesen führt. Eine Krankheit, die wirklich terminal ist. Noch einmal, und wir werden nicht aufhören es zu flüstern und zu rufen, stehen wir vor einem entweder oder: entweder mit dem Menschen, oder mit dem Kapital. Entweder mit dem Menschen, oder mit der Medizin». So schrieben vor dreissig Jahren in Verfluchte und mörderische Medizin Simone Peruzzi und mein Freund Riccardo d’Este. Kriegsmedizin ist nicht nur eine kriegerische Metapher, womit man die soziale Militarisierung und die Ernennung eines NATO-Generals als Sonderkommissär für den Notstand gerechtfertigt hat, sondern auch die Beschreibung einer effektiven Realität. Die Metaphern für die Darstellung der Körper und der Krankheiten sind seit jeher ein wichtiger sozialer Indikator. Sie sagen uns nicht, was den lebendigen Körpern konkret geschieht, informieren uns aber bestens über die Veränderungen der Produktionsweisen und der wissenschaftlichen Paradigmen. Im Rahmen einiger Konstanten – die Viruskrankheit als Feind, die Körper als Trutzburgen unter Belagerung, das Immunsystem als polizeiliches Kontroll- und Repressionsorgan – innerhalb einer Kosmovision, die das Menschenwesen von der Natur trennt, den Mann von der Frau, den Erwachsenen vom Kind, den Körper vom Geist, gehen die herrschenden Darstellungen mit der Zeit und schichten sich auf. Die Vorstellung des Körpers als Maschine und seiner Organen als Ventile, Kolben, Pumpen usw. kennzeichnet das Aufkommen des industriellen Kapitalismus. Die Idee, dass die Organe Ersatzteile sind, begleitet sowohl den Fordismus als auch die Geburt der Transplantationswissenschaft. Zu was wird der Körper in der digitalen Gesellschaft, wenn nicht zum Informationsfluss? Das fordistische Paradigma geht im informatischen nicht unter: es radikalisiert sich. Entnehmbar, auswechsel- und neu zusammensetzbar sind heute die Gewebe, die Flüssigkeiten, die Moleküle, die Gene, die Zellen. Und da die gesamte Wirklichkeit ein Informationsfluss ist, kann das Lebendige nicht bloss neu zusammengesetzt (Biotechnologien), sondern auch durch Brücken (Nanotechnologie) miteinander verbunden (digitale Therapien) werden. Das Ziel – das schon 2004 durch die medizintechnische Sensorik vom Projekt Ubimon des Imperial College von London verfolgt wird – ist schnell gesagt: «die universale Überwachung für den sanitären Beistand in der Gemeinschaft». Maschinen-Körper in einer Maschinen-Gesellschaft. Oder, falls man organischere Metaphern vorzieht: periodisch zu impfende Hühner damit sie in einer Aufzucht-Welt überleben und produzieren können.

Hier das anti-programmatischste aller Programme: anstatt das x-te Grosse Werk zu vollbringen (politisch, wirtschaftlich, technologisch, medizinisch), loslassen. Uns selbst, unsere Artgenossen, die Tiere, die Pflanzen, die Erde. Die Ziele der Macht sabotieren um nicht unter ihren Mitteln zu zerbrechen. Die Zerstörung des Menschlichen zerstören, indem ihre Avantgarden aufgehalten und ihre Diener entlarvt werden.

Planet Erde, Anfangs Juni 2021

Anmerkung

Jenseits der im Text genannten Bezüge, stammen die Ansätze und Zitate für die Niederschreibung dieser These aus den folgenden Büchern:

  • Nikolas Rose, La politica della vita. Biomedicina, potere e soggettività nel XXI secolo, Einaudi, Torino, 2008 (Die Politik des Lebens. Biomedizin, Macht und Subjektivität im XXI Jahrhundert)

  • Pièces et main d’œuvre, Manifeste des chimpanzés du futur. Contre le transhumanisme, Service compris, Paris, 2017 (Manifest des Schimpansen der Zukunft. Gegen den Transhumanismus, Bedienung miteinbegriffen)

  • Adam Greenfield, Tecnologie radicali. Il progetto della vita quotidiana, Einaudi, Torino, 2017 (Radikale Technologien. Das Projekt des täglichen Lebens)

Auf dem Schiff der Irren

Trentino, November 2021

Auf dem Schiff der Irren

Nie wie in dieser Periode fühlen wir uns wie der Schiffsjunge, von dem Theodore Kaczynski in seiner Erzählung Das Schiff der Irren redete. Die Geschichte ist bekannt. Das Schiff – Metapher für die technoindustrielle Gesellschaft – fährt auf Eisberge zu, an denen sie zerschellen wird. Der Schiffsjunge warnt seine Mitreisenden und versucht ihnen zu verstehen zu geben, dass eine Routenänderung die einzige Wahl ist, die alle anderen enthält (wo andocken gleich eine Veränderung der Beziehungen unter der Crew ist; also jene Fragen der Freiheit, Gleichheit und Solidarität, die sich den Menschenwesen seit der Existenz von Herrschaft, Hierarchie und Ausbeutung stellen). Der Rest der Crew zählt die Probleme auf, die ihrer Ansicht nach viel schwerwiegender und dringender zu lösen sind: die Lohnunterschiede, Rassismus, Sexismus, Homophobie und die Brutalität gegenüber den Tieren. Da er auf der Notwendigkeit beharrt, dass es überhaupt noch ein Schiff geben muss um darauf das Leben zu verändern – bzw. dass die Priorität einer Routenänderung alle anderen richtigen Forderungen sekundär macht – gerät der Schiffsjunge ins Kreuzfeuer der Beschimpfungen der Crew: reaktionär, spezieistisch, homophob, sexistisch! Die Beschimpfungen ertönen noch während das Schiff an den Eisbergen zerschellt und versinkt.

Wie im vorhergehenden Die Industriegesellschaft und ihre Zukunft (das sog. Manifest des Unabomber, dessen Autorschaft Kaczynski in Wahrheit weder bestritten noch bestätigt hat*) und in den darauffolgenden Zuschlagen wo es am meisten schadet und Anti-tech revolution wird vor allem die Linke aufs Korn genommen, die bis zum Paroxysmus von der Crew des Schiffes dargestellt wird. Wegen ihrem “über-sozialisierten”, reformistischen und progressistischen Wesen ist die Linke Kaczynski nach dazu konditioniert, zur Hauptstütze des Techno-Kapitalismus zu werden, der seine Programme zur Entmenschlichung hinter seinen verlockenden Versprechungen zur Überwindung jeglicher Grenzen und der Expansion des Ichs versteckt. Dass wir nun voll und ganz darin stecken, ist heutzutage sogar banal.

Der heutige intellektuelle, ethische und praktische Schiffbruch der Linken und der extremen Linken vor dem Notstand – als Regierungssystem, das als regelrechter Beschleuniger der technokratischen Programme funktioniert – hat tiefe Wurzeln. Dass die Entwicklung der Technowissenschaften lange als eine sekundäre Variable des Klassenkampfes angesehen wurde – wenn nicht gar als Apparat des Wissens und der Mittel, den man in eine emanzipatorische Richtung lenken kann – erlaubt jetzt nicht, die konkreten Produkte hinter ihrer Etikette, unter der sie uns verkauft werden, zu begreifen. Da auf der Etikette “Impfstoff” steht, denkt man davon weiter, was man über die Impfstoffe gegen Pocken oder Kinderlähmung dachte. Die Tatsache, dass die m-RNA-Impfstoffe biotechnologische Plattformen sind (software of life, in der Sprache der Genetiker), die genetische Informationen in die Körper einführen – und kein desaktiviertes oder abgeschwächtes Virus – erscheint als völlig irrelevant. Denn ist die Kritik an der Wissenschaft nicht etwa eine reaktionäre Verhaltensweise? Sie haben uns gesagt, der “green pass” diene zur Eindämmung der Covid-19-Ansteckungen, und in diesem Rahmen wird das pro oder contra diskutiert. Dass die Projekte der Techno-sanitären Pässe – und allgemeiner die Herstellung einer jedem Menschenwesen zu verpassende digitale Identität – sowohl der Sars-Cov-2-Epidemie als auch der Massenimpfung vorangehen, sind „Details“ die ausserhalb der Debatte bleiben. Dasselbe kann man von den Analysen zum Piano Nazionale di Ripresa e Resilienza (Nationaler Plan zur Neubelebung und Resilienz) sagen. Man liest darin die Weiterführung der üblichen neoliberalen Politik, wo die Digitalisierung der Industrie, der Landwirtschaft, der öffentlichen und sanitären Verwaltung locker dabei ist. Und doch bräuchte es nicht viel um zu verstehen, dass heutzutage die Künstliche Intelligenz und ihre Algorithmen der Motor der Finanz, der Produktion, der Kommunikation, der Logistik, der medizinischen Forschung und des Agrobusiness sind. Hier einige Beispiele.

«Mehr als 40% der Onlineaktivitäten werden schon von Automaten betrieben. Das Internet der Dinge beschleunigt natürlich die nicht menschliche Aktivität: 2023 sollten die Verbindungen unter Maschinen (man sagt auch M2M, “machine to machine”), insbesondere in den hyper-verbundenen Wohnungen und in den intelligenten Fahrzeugen, die Hälfte der Verbindungen im Netz ausmachen».

«Im Finanzsektor macht die automatisierte Spekulation 70% der globalen Transaktionen und bis zu 40% des Wertes der gehandelten Titel aus. Wir gehen von einem von und für Menschen gebrauchtem Netz zu einem von und vielleicht für Maschinen verwendetem Internet über [ökologische Begleiterscheinung: «Tatsache ist, dass die von den Maschinen gesteuerten Fonds die Umwelt stärker zerstören als die von Menschen gesteuerten»]».

«2017 hat ein Fonds in Hong Kong, Deep Knowledge Ventures, die Ernennung eines Vital genannten Roboters in seinen Verwaltungsrat verkündet. Es wird keine Entscheidung mehr ohne eine Auseinandersetzung mit seiner Analyse getroffen».

(Zitierungen aus L’Enfer numérique. Voyage au bout d’un like von Guillaume Pitron).

Der Eisberg, an dem das Schiff zerschellen wird, ist also nicht nur der ökologische Kollaps sondern auch der Ausschluss der Menschlichen aus dem Bereich der Entscheidungen und der Konflikte des Lebens. Mehr noch, der Erste wird durch den Zweiten beschleunigt, während der Zweite den Ersten hinter einem green Mäntelchen versteckt.

Kaczynskis Erzählung, obwohl sie ein tragisches Finale hat, ist eine sowohl karikaturartige als auch beruhigende Darstellung des sozialen Konfliktes. Die Hauptfiguren der Erzählung sind drei: die technoindustrielle Masslosigkeit, die Klarsichtigkeit des Schiffsjungen und die zänkische Kurzsichtigkeit des progressistischen Feldes. Auf dem realen Schiff der Irren stehen die Dinge jedoch ganz anders, wie es sich in diesen vergangenen Monaten in Italien und in der Welt besonders krass gezeigt hat. Ein Teil der Crew beschimpft den Schiffsjungen nicht, um ihn hingegen mit obszönen Worten zu ermutigen: «Du hast recht, wir müssen die Route ändern! Wir müssen das Schiff dem Schicksal entziehen, das von der globalistischen Elite auferlegt wird und die Crew – Kapitäne, Köche und Deckwischer – wieder zur authentischen Nation machen!». Während andere wiederum den sich beschwerenden Seeleuten einen drauflegen: «Eure Ideen über die Geschlechter und gegen die traditionelle Familie sind es, die uns schnurstracks auf den Eisberg zu bringen!». Es ist also in der realen Welt der Konflikte sehr viel schwieriger, sich in die Lage des (noch so tragischen) Helden zu versetzen. Die von Kaczynski getätigte Vereinfachung ist kein Versäumnis, sondern eine sehr genaue Wahl. Denn in seinen Texten ist der an die Rechte gewendete Vorwurf, dass sie nicht wirklich gegen den Techno-industriellen Fortschritt ist, sondern bloss gegen einige seiner Ausdrücke. Nun, Kaczynski ist aber kein Anarchist, was durch seine historischen Beispiele belegt wird, an denen sich eine anti-technologische Revolution orientieren sollte: die politischen Modelle der Jakobiner und der Bolschewisten. Kurzum, mal das Ziel festgelegt (Die Niederschlagung des technologischen Systems), wird der Weg zum Ziel durch ein einziges Kriterium bestimmt: Effizienz, unter totaler Missachtung der ethisch-praktischen Kohärenz des Verhältnisses zwischen Mittel und Zweck. Was nicht bloss den typischen Machiavellismus der autoritären Revolutionären vollständig reproduziert, sondern unbewusst eine der Grundlagen desselben Apparates der Technowissenschaften akzeptiert, nämlich die Wirksamkeit der Resultate als Wert an sich. Es ist sehr seltsam, dass dieser Gegensatz von den Verlegern seiner Texte wenig in Betracht gezogen wurde (ob von den Surrealisten, der Encyclopédie des Nuisances, den anarchistischen Primitivisten oder der Anarchisten tout court). Es stimmt wohl, dass das Zentrum der Analysen von Kaczynski jene Gesamtheit an Problemen betrifft, die kein Mensch, der nach einer radikalen Veränderung der Gesellschaft strebt, ignorieren kann. Aber das Problem des wie und mit wem diese Veränderung zu tätigen ist, ist sicher nicht weniger wichtig. Da heute viele Linke ihr Hirn wortwörtlich in den Lockdown-Modus geschaltet haben, akzeptieren wir darum eine Zusammenarbeit mit den Reaktionären? Und wer sind, heute, die Reaktionären?

Die radikale Kritik der Techno-Industrie präzisiert und aktualisiert die historische anarchistische Kritik des Staates, der Klassen, der Hierarchie. Aber sie ersetzt sie nicht.

Heute ist der Kontext überaus morastig. Wenn einerseits sogar Teile der libertären Bewegung aufs Terrain des Transhumanesimus hineinschliddern (es gibt sogar Techno-Dummköpfe, die ein regelrechtes Anarcho-transhumanesisches Manifest niedergeschrieben haben…), fehlen andererseits die – mehr oder weniger verkappt – Rot-Braunen nicht, die uns schöne Augen machen. Dieser Morast ist zutiefst historisch (als Produkt einer bestimmten Phase des Kapitalismus und eines so nie stattgefundenen Angriffs auf alle menschlichen Fähigkeiten: auf die Wahrnehmungen, die Gefühle, die Gedanken, die Körper, die Fähigkeit, sich zusammenzuschliessen…) und kann nicht einfach durch Anathema oder etwelche anti-(faschistischen, sexistischen, rassistischen, usw.) Listen erledigt werden. Umso weniger durch die pawlowsche Reflexe wie: wenn sich auch die Reaktionären mit gewissen Themen beschäftigen, dann reden wir von Anderem.

Die Mobilisierung gegen den „sanitären“ Passierschein ist, von diesem Blickwinkel aus, ein guter Indikator (sowohl der sich nähernden Eisberge als auch der Stimmungen, die in der Crew des Schiffes umlaufen).

Die Bestandteile des Konfliktes (die Verschlingungen zwischen biomedizinischer Experimentierung und Ausweitung der digitalen Kontrolle), sein „monströses“ Wesen, sowie die Tatsache, dass die Positionierungen von vielen linksextremen Ausdrücken das Spiel der verschiedenen Faschisten, Rot-Braunen und Reaktionären begünstigen: das alles war leicht voraussehbar. Nicht dank von wer weiss welcher Klarsichtigkeit der revolutionären Theorie, sondern auf Grund zweier Elemente, die man durch die Betrachtung der Dynamiken ausmachen kann anstatt sich in den Details zu verrennen. Das erste Element ist, dass, sobald es den „Autopiloten“ eingeschaltet” hat, das technokratische Kommando das zur “nicht auszuschliessenden Hypothese erklärt”, was es schon am verwirklichen ist, und somit seine Schachzüge voraussehbar macht. Das Zweite ist einfach die Umkehrung des Ersten: wenn man nicht das gesamte “Chronoprogramm” platzen lässt (zuerst die Einsperrung mit offenen Fabriken, dann die Ausgangssperre, dann die Ernennung eines Nato-Generals als Sonderkommissar für den Notstand…), dann akzeptiert man wegen einer absonderlichen abwärts-trendigen Kohärenz auch den Passierschein, der letzte – zunächst – Zug der Kommandosteuerung.

Hier einige Denkanstösse:

«Nicht wichtig, dass das EU-Parlament die Anwendung von GMO basierten Impfstoffen und Anti-Covid-Behandlungen erlaubt hat: nach Jahrzehntelangen Kämpfen zur Verhinderung der GMO in der Landwirtschaft und im Teller werden die nun, wegen der enormen Bedrohung des Coronavirus, wie selbstverständlich – und erst noch unter allgemeiner Begrüssung! – direkt in unsere Körper gespritzt, mit unvorhersehbaren Folgen. Nicht wichtig, dass all das eine Einschränkung unserer, sicher nicht grosszügigen, Freiheiten bedeutet; denn, jenseits des Geschwätzes über die zwingende Vorschrift oder nicht, sind wir sicher, dass es keinerlei Strafbarkeit geben wird (gar Geldbussen, oder Einschränkungen in den Bewegungen, etc.)?» (“L’impazienza”, n. 4, Oktober 2020).

«Die Botschaft ist eindeutig: wenn ihr es nicht bereitwillig aus einem „Geiste der Verantwortlichkeit” heraus akzeptiert, werden wir euch dazu zwingen, es zu akzeptieren. Vielleicht nicht mit einem direkten Zwang, sondern mit einer indirekten Erzwingung: der Gouverneur der Region Kampanien hat schon einen neuen sanitären Ausweis vorbereitet, der nur den Geimpften den Zugang zu gewissen Orten und Dienstleistungen erlauben wird. Kurz, das chinesische System des “sozialen Kredits” nähert sich» (Note urgenti contro la campagna militar-vaccinale / Dringende Anmerkungen gegen die militärische Impfkampagne, il rovescio, gennaio 2021).

«Die Geschehnisse von Capitol Hill werden die „anti-systemische“ Anziehungskraft des Trumpismus auch in weniger (oder überhaupt nicht) bürgerlichen Sektoren verstärken. […] Wie man auf die Massnahmen der Regierung zum Covid-19 antworten wird (bei der „militärischen Impfkampagne” beginnend) wird für die Richtung der Auseinandersetzung ziemlich bestimmend sein. Denken wir dran. Aber wirklich» (Sui fatti di Capitol Hill, ilrovescio, Januar 2021).

«Nichts weniger als ein Spross der Kennedy hat [in Berlin] vor einer Menge eine Rede gegen die “sanitäre Diktatur” gehalten und letztlich dazu aufgefordert, die Verfechter der Freiheit in Washington tatkräftig zu unterstützen. Was selbstverständlich die Gründe und vor allem die Heterogenität der Zusammensetzung des sozialen Protestes nicht einfach verdrängen kann, der sich nach einer mRna Impfkampagne neu beleben sollte, die immer mehr die Eigenschaften einer biopolitischen Experimentierung auf Massenskala anzunehmen scheint» (aus einer Anmerkung des Dopo Trump – Nach Trump von Raffaele Sciortino, Januar 2021).

«Setzen wir voraus, dass eine Krankenschwester und ein Lehrer, die in jener Gewerkschaft [USB] sind, entscheiden, den Impfstoff mRNA zu verweigern und deshalb mit Sanktionen oder der Entlassung bedroht werden: wie würden die wohl von denen verteidigt, die sie als Dummköpfe betrachten, die nur „mit ein bisschen Erschrecken“ endlich verstehen würden”? Wenn jene oder jener kein vorbildliches “politisches Bewusstsein” hat, sondern der Wissenschaft des Staates vertraut, wird sie oder er sich etwelcher Gruppe zuwenden, die sich gegen die „sanitäre Diktatur“ erklärt. Und dann wundert man sich über die Erfolge des Trumpismus auch im proletarischen Felde…» (La posta in gioco, ilrovescio, febbraio 2021).

«Die Impfpflicht [für das sanitäre Personal] zurückzuweisen, ist für alle wichtig: falls nicht, wird man ohne Impfpass bald nicht einmal mehr ins Restaurant gehen können…» (Fermiamo la Vaccelerazione, Collettivo salute e libertà, April 2021).

Bevor wir uns mit den “Protesten no green pass” als Prisma dieser historischen Phase beschäftigen, kehren wir ein wenig zurück und versuchen, einige Fäden wieder anzuknüpfen.

In den vergangenen Jahren widmeten wir einige Analysen dem, was wir reaktionäre Mobilisierung nannten. Wir bezogen uns dabei nicht auf eine angebliche Gefahr einer Rückkehr zu faschistischen Regierungsmodalitäten – die demokratische Hülle bleibt für die Diktatur der Kapitalisten, der Technokraten und der Militärs die tauglichste Form –, sondern auf die Gefühle, die in der Gesellschaft umgehen und auf die Ausdrücke, welche die Proteste annehmen. Nun, diese Gefühle und Ausdrücke unterscheiden sich nicht scharf von den allgemeinen reformistischen und legalitären Illusionen, sondern haben einige Besonderheiten, die bestimmte historisch faschistische „Mythen“ aktualisieren und gleichzeitig die laufenden Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Lagern des Kapitals und der Macht widerspiegeln. Wir denken an das Mussolinianische Konzept von “Produzent”, das jenem von „Spekulant“ entgegengesetzt wurde. Der “Produzent” in faschistischem Sinne – die nationalisierte Version des Diskurses von Proudhon und Sorel – beinhaltet sowohl den Lohnempfänger als auch den Kapitalisten als komplementäre und zum nationalen Reichtum notwendige Figuren. Das “nationale Gewerkschaftswesen” ist dann jene Form der Verhandlung, womit die Synthese zwischen den Interessen der Arbeitenden und jenen der Industriekapitäne hergestellt wird. Die finanzielle Spekulation ist, im Gegenteil, die heimatlose Unternehmung, deren Profite die Nation ausrauben anstatt zu bereichern. Es handelt sich eben um “Mythen”, denn in der realen Welt des Profits gibt es keinerlei Trennung zwischen industriellem und finanziellem Kapitalismus. Von diesen “Mythen” existiert auch eine linke Version, die nicht nur jene von Togliatti ist, sondern auch die von Gramsci: die arbeitende Klasse als historisches Subjekt, das die Interessen der Nation vollständig realisieren kann, gegen eine Bourgeoisie, die für die eigenen Profitbedürfnisse die Entwicklung der nationalen Produktion und Industrie bremst. Die Tatsache, dass der aktuelle “Souveränismus” ein zweigesichtiger Janus ist – mit einem rechten und einem linken Gesicht – darf nicht überraschen. Die Illusion, die nationalen Interessen – und in demselben Rahmen erneut eine grössere Verhandlungskraft gegenüber der eigenen Herrschaft zu haben – der “Diktatur” des „weltweiten“ Finanzkapitalismus gegenüberzustellen, dessen Grausamkeit direkt proportional zu der Intelligenz der von ihm einverleibten Maschinen ist, ist nicht aus der Luft gegriffen: sondern der Reflex der proletarischen Schwierigkeiten auf internationaler Ebene zu kämpfen, und der Proletarier, sich als menschlich zu begreifen und als solche zu kämpfen.

Der gekreuzte historische Prozess der Digitalisierung der Gesellschaft und des Engineering der Körper greift die Fähigkeiten der menschlichen Art insofern an, als dass er mit der eigenen eisernen klassistischen Ferse zuschlägt. Es sind arme und farbige Körper, die sich in Coltanminen, in den MGO-Feldern oder in den Hallen der Logistik auslaugen müssen, damit das totale Kapital die gesamte Menschheit entfremden kann. Durch ihre Rolle in der Gesellschaft – und sicher nicht durch ihre angeblich wesentlichen Tugenden – können die Ausgebeuteten sich selbst nur befreien, wenn sie die Menschheit befreien – und umgekehrt.

An diesem Punkt befassen wir uns kurz mit dem Protest gegen den “green pass”.

Wieso hat sich in einer interklassistischen Mobilisierung auf der Suche nach “Gegenmächten”, die eine illusorischer als die andere ist (die Verfassung, die Richterschaft, die guten Polizisten, Nürnberg…) einen regelrechten „Mythos“ der Hafenarbeiter ausgebildet? Sicher nicht wegen der Ideologie dieses oder jenes Hafenarbeiters, sondern weil die Hafenarbeiter der Wirtschaft und folglich der Regierung echt weh tun können; weil sie es von ihrem Arbeitsplatz ausgehend können; weil ihre Aktion ohne „gewalttätig“ zu sein wirksam sein kann (das Tabu der “Gewalttätigkeit” begleitet seit Jahrzehnten jeden Massenprotest, wenigstens hier in Italien). Aber um die „souveränistischen“ Illusionen zu zerstreuen, genügt der Einsatz an sich eines Klassensektors und eines Elementes der Stärke nicht. Und die manichäische Trennung zwischen hier die Arbeitenden und dort die reaktionären und faschistischen Kräfte ist nur lächerlich; nicht nur weil, ganz banal, auch Faschisten Lohnempfänger sein und auch Ausgebeutete reaktionäre Ideen haben können, sondern auch weil sowohl die seit langem bestehende reaktionäre Mobilisierung als auch die demokratische Ideologie gerade auf das Verhältnis zwischen Individuen, Klassen und Menschheit einwirken. Ohne eine Ausweitung des Konfliktes – und hier ziehen wir einen Schleier des Mitleides über jene Sektoren des Basissyndikalismus, die absichtlich entschieden haben auf dem eigenen Terrain den sozialen Kampf gegen den Passierschein nicht aufzunehmen, um hingegen den gewerkschaftlichen Kampf um die von den Unternehmen zu bezahlenden Gratistampons aufzunehmen –, ist der Arbeitende (auch wenn er sich aus einem lobenswerten und richtigen Sinn für Solidarität bewegt) von den Blutsaugern umgeben: sowohl jene, die aus ihm ein Verteidiger der Verfassung machen als auch jene, die aus ihm einen “Helden der Nation” gegen die “globalistischen Eliten” machen (im Gegenteil, gerade mitten in den Ersteren können die Zweiten sich geschickt verstecken). Die Blutsaugerei macht sich mit dem Angebot materieller Unterstützung breit, z.B. mit jener Rückendeckung für die Streiks, die weder die Basisgewerkschaften noch der Staat gewähren wollten. Wie bei der FISI (Federazione Italiana dei Sindacati Intercategoriali), die aus der Konvergenz zwischen bekennenden Faschisten und einigen Elementen des „Links-Souveränismus” entstanden ist. Fügen wir noch die systematische Arbeit der Medien zur „Eingrenzung“ des Protest gegen den Passierschein hinzu, indem sie andauernd die Trommel der Gleichungen no green pass = no vax = complottisti (Verschwörungstheoretiker) = estrema destra (extreme Rechte)1 rührt, gewürzt mit einer mehr als grotesken und lügnerischen „alerta antifascista” (zur Verteidigung, einmal mehr, der Verfassung, was konkret die Verteidigung der nationalen Einheit heisst) und der Nebel wird noch dichter.

Obwohl sowohl in Italien als auch auf internationaler Ebene regelrechte verschwörungstheoretische think tank überhaupt nicht fehlen (und ihr Einfluss kann in den Diskursen auf der Strasse leicht erkannt werden), ist die sog. „Verschwörungstheorie“ (complottismo) – ein Wort, das nunmehr eine regelrechte Begriffsgranate im psychologischen Krieg der politisch-militärischen-medialen Maschine gegen jegliche Widerstandsform darstellt – auch der Ausdruck eines sozialen Bedürfnisses: für historische Geschehnisse vereinfachte Erklärungen zu finden. Das Motiv ist kein Mysterium. Die Schlussfolgerung, dass einzig ein revolutionärer Bruch den Planeten und damit auch unsere gemeinsame Menschheit retten kann, ist nicht nur überhaupt unmodisch, sondern in der Einsamkeit der persönlichen alltäglichen Kämpfe gegen das totale Kapital sehr schwer zu deklinieren. Es ist sicher beruhigender, den rasanten Verlust aller eigenen Macht über das eigene Leben und die eigenen Körper einem Gates oder den Transhumanisten von Google zuzuschreiben, als den strukturellen Dynamiken eines ganzen sozialen Systems. Das gilt aber nicht nur für die Strassenproteste “no green pass”. Das gilt auch für die Arbeitenden, die die eigene Entlassung der besonderen spekulativen Gier des Multis zuschreiben, der einen voll produzierenden Betrieb schliesst, und die dann die Regierung auffordern, gegen einen solchen „Skandal“ einzugreifen.

Je mehr man sich vom ökonomizistisch-gewerkschaftlichen Konflikt entfernt und auf Terrains der Auseinandersetzung zu geht, für die eine ethisch-soziale Bewertung der Welt, in der wir leben, notwendig wird, umso untauglicher werden die Schemas. Den transhumanistischen Projekten (die sehr wohl bestimmten Kapitalfraktionen entsprechen, jedoch den Weg für die gesamte kapitalistische Herrschaft vorzeichnen2) kann keine formell mehr oder weniger radikale gewerkschaftliche Verhandlung entgegengesetzt werden, sondern eine Vorstellung des Menschlichen, der Natur und der Geschichte. Und genau dort zeigt der linke Progressismus die Elemente auf, die er mit dem, was die Technoindustrie zu verfolgen behauptet, gemeinsam hat (ein Google-Chef kann die Gender-Diskriminierung seelenruhig verabscheuen, da für ihn alle Menschenwesen gleich sind: Maschinen). Aber auch dort ist es, wo die revolutionäre Kritik der Technowissenschaften wenn auch ungern ein “Nein” mit der extremen Rechten und mit dem katholischen Integralismus teilt (zur Genmanipulierung, zum Beispiel). Und wieder dort kreuzen sich die Proteste gegen den Klimawandel mit den Bedürfnissen eines gewissen Kapitalismus, in neue Technologien zu investieren (die Technokraten machen überhaupt kein „Blabla“ sondern verwandeln durch die Eroberung neuer Profit- und Herrschaftsbereiche jeden Notstand in eine Flucht nach vorne). Wie wenn ein atlantistischer Premier es sich sogar erlauben kann, den Klimaaktivisten zu danken („weil sie die Route aufzeigen”), was sowohl den Braunen als auch den „Roten“, für die Putin die Alternative ist, erlaubt, dieselben Aktivisten als Schachfiguren der globalistischen Elite darzustellen…

Nun, gewisse angebliche “Konvergenzen” sind keine historische Neuigkeiten in absolutem Sinne. Und auch nicht ihre Ausnützung durch die verschiedenen sich im Krieg befindenden kapitalistischen Fraktionen. Im ungarischen Aufstand von 1956 mussten sich die Anarchisten und die revolutionären Marxisten, die sie als proletarisch, anti-bürokratisch und antikapitalistisch verteidigten, dem Kreuzfeuer und den Fallen aller Ideologien stellen. Die Stalinisten stellten die Rebellen damals als Faschisten dar, die Atlantikpakt-Treuen als Demokraten und die Faschisten als Nationalisten und Antikommunisten. Nicht um zu sagen, dass es in Budapest wie auch in anderen Städte Ungarns keine Berufungen auf die Demokratie oder nationale Fahnen gab (und auch “Weisse”, die Monarchisten, usw. waren dabei), aber das Element, das den Herrschenden sowohl im Westen als auch im Osten dermassen Angst machte, war ein ganz anderes: eine Revolte von bewaffneten und zur Selbstbestimmung entschlossenen Arbeitenden.

Heute, angesichts des grausamen Angriffs auf die Bedingungen der Lohnempfänger und auf die Fähigkeiten der Menschen als solche, werden die Kreuzfeuer und Fallen noch hinterhältiger. Somit, während bei den Menschlichen eine mildere Version der Behandlung als seit langem bei den Tieren in den industriellen Betrieben angewendet wird (wenn den Zweiten – wie jemand klarsichtig angefügt hat – mit der Impfung direkt Mikrochips eingepflanzt werden um sie via Scanner verfolgen zu können, zwingt man erstere andauernd einen QR Code vorzuweisen um durch eine App des Smartphones zu verifizieren, ob sie geimpft sind), prangern tausende „von zuhause Weggelaufene” an, dass das Ziel die Bevölkerungskontrolle ist, und werden von gewissen linken Intellektuellen und Militanten ausgelacht, für die der Techno-sanitäre Passierschein nicht anderes als eine Art Fahrausweis wäre…

Was sagt uns die Tatsache, dass die Proteste gegen den “green pass” die in den letzten Jahrzehnten wohl am stärksten kriminalisierten, mystifizierten, verzerrten und lächerlich gemachten Proteste sind? Es ist die Angst, das sich im Dreck einiger ihrer unmittelbaren Formen eine verbreiteter Widerstand gegen die Maschinen-Welt entwickeln könnte (in der die digitalen Befehle nicht diskutiert werden: sie werden ausgeführt). Dass ein solcher Widerstand durch demokratische, reaktionäre oder gleichheitliche Mythen, oder durch den Mythos Verfassung, des Erzengels Michel oder Ned Ludd genährt wird, ist für die Technokraten sekundär (denn wann haben, die, je Prinzipien gehabt). Das Verbrechen eines solchen Widerstandes ist einfach, dass es ihn gibt.

Der Notstand verstärkt das kybernetische Paradigma in jedem Bereich. Die Kybernetik – die, ihrer Etymologie nach, die Kunst der Steuerung ist – entsteht historisch durch die Verschmelzung verschiedener Sektoren: der militärische Komplex, die wissenschaftliche Organisation der Produktion und die Verhaltenspsychologie, die sich dezidiert zur regelrechten sozialen Physik entwickelt. Es geht um die „kapitale Utopie“ der Gewinnung von immer „exakteren“ Daten aus den menschlichen Verhaltensweisen, mit dem Zweck, das gesamte soziale System wissenschaftlich und rationell zu organisieren. In anderen Worten, aus der Gesellschaft ein permanentes Labor zu machen, dessen Verwaltung den Experten anvertraut wird. Die erklärte Absicht ist, der „Politik“ ein Ende zu bereiten – deren Meinungsverschiedenheiten durch die Vielfalt der Meinungen und der Werteurteile aber auch durch die allzu zufällige Verteilung der Kommando- und Exekutivrollen entsteht. Solch einem menschlichen, allzu menschlichen Chaos setzt die kybernetische Maschine „objektive“ – bzw. indiskutable – Organisationskriterien gegenüber. Um eine solche „Utopie“ – ein unbehindert funktionierendes Labor – zu verwirklichen, müssen zwei kulturelle Barrieren überwunden werden: der „Mythos“ der Individualität und jener der Natur. Mit den entsprechenden Folgen: in die ihr Leben charakterisierende Reaktionsbündel zerlegt, können die Menschlichen durch ein präzises System von Anreizen und Beschränkungen erzogen und organisiert werden; es ist nicht möglich, wissenschaftlichen Experimenten zum vorneherein ethische und soziale (bzw. „subjektive“) Beschränkungen zuzuweisen. Man macht mal, und sieht dann, was geschieht. Die Erfindung des DNA hat diesem Programm der Zerlegung der Einmaligkeit der Individuen eine Art von molekularer Genauigkeit geliefert: das Genom mit seinen Gesetzen. Um jegliche Idee von „Natur“ (jenes “Gewebe der Notwendigkeiten”, in das die Menschlichen wohl eingreifen, es aber weder abschaffen noch fabrizieren können) zu demontieren, bedient sich die Kybernetik hingegen der Beiträge der poststrukturalistischen Philosophie. Der Entwicklung der digitalen Technologien und der Gentechnik – mit der unauffälligen Präsenz der Militärs – gelang dann, die gesamte Wirklichkeit auf einen Informationsfluss zu reduzieren. Und für die, die dem Prinzipien entgegensetzen (religiöse, humanistische oder revolutionäre), sind die Anathema schon bereit: “Essentialist“ und reaktionär. Für wen keine Prinzipien hat, hingegen, gibt es keine Grenzen, sondern bloss eine Kosten-Nutzen Rechnung.

Wie Simone Weil klarsichtig erfasst hatte, wenn wir von den „Pflichten gegenüber dem Menschenwesen“ – jene Prinzipien, die für sie übernatürlich und für uns völlig irdisch sind – in die Verhandlung über Rechte auf der Grundlage des technisch Machbaren gleiten, sind wir unbewusst schon ins Labor eingetreten.

Das kybernetische Paradigma schreitet immer im Namen eines übergeordneten Wohles voran. Andererseits, worauf vor einigen Jahren der afroamerikanische Schriftsteller Ta-Nehisi hinwies, «gab es nie ein goldenes Zeitalter, in dem die Bösewichte ihrem Gewerbe nachgingen indem sie es als solches in alle Welt hinausposaunten». Darum muss man, wenn die Herrschenden die Frage stellen, ob das individuelle Recht auf Freiheit oder das kollektive auf Gesundheit vorherrschen solle, resolut jede Antwort verweigern. Unser Klassismus ficht nicht einfach jene oder die andere Massnahme der Regierung an, sondern die Tatsache selbst, dass der Staat sich als Garant des „Gemeinwohls“ präsentiert; unser Humanismus gründet auf einer anderen Vorstellung sowohl von Freiheit als auch von Gesundheit.

Da der Kapitalismus – ausser er möchte sich selbst abschaffen – die strukturellen Ursachen der Epidemien (Entwaldung, immer masslosere urbane Ballungen, intensive Zucht, verdorbene Nahrung, konstante chemische Aggression gegen das Immunsystem usw..) nicht beseitigen kann, stopft er bloss deren Effekte und auferlegt, selbstverständlich, Massnahmen mit klaren Klassen- – und geschlechtsbezogenen – Leitlinien, und verlangt in der Zwischenzeit von der Technowissenschaft etwelche Mittel zuzubereiten, damit es weiter so gehen kann. Die von der Technowissenschaft zur Verfügung gestellten Mittel spiegeln nicht bloss die im kapitalistischen System unüberwindbaren Interessen und Konkurrenzmechanismen wider, sondern beinhalten auch immer eine gewisse Anschauung des Menschlichen, der Körper und der Natur. (Wie wir oben gesehen haben, ist diese Anschauung seit langem im kybernetischem Paradigma enthalten, gemäss dem alles – vom unendlich Grossen bis zum unendlich Kleinen – als Informationsfluss betrachtet wird3). Aber zwischen dem Ziel, das System aufrecht zu erhalten, und den zur Verwirklichung dieses Zieles eingesetzten Mitteln, geschieht auch anderes. Die Technowissenschaft beschränkt sich nicht darauf, die eigenen Innovationen zur Verfügung zu stellen um etwelche „Krise“ zu lösen, sondern macht aus der „Krise“ eine unverzichtbare Möglichkeit, jene Innovationen „durchzudrücken“, die sie in normaleren Flughöhen nicht hätte durchsetzen können. Gerade weil die „Utopie Kapital“ soweit geht, die lebende Materie an sich (Körper miteinbezogen) zu fabrizieren, braucht es einen neuen Humanismus um jenem Sturm widerstehen zu können, der in den Ausnahmezuständen noch grausamer tobt.

Die Monate, die wir erleben, sind wirklich «eine Chronik, die nach Geschichte riecht» (Stefania Consigliere). Die kybernetische Logik des problem solving ist nicht nur der Punkt, auf den der Technokapitalismus konvergiert, sondern auch der “Flugschreiber der Daten”, der den Herrschenden jegliche klassizistische und anti-humane Massnahme im Namen der „Objektivität“ und der „harten Notwendigkeit” rechtfertigt. Da sie ein Instrument in den Händen haben, das jeglichen Dissens annullieren kann (das sind keine Meinungen, es sind Zahlen!), wieso auch sollten Kapitalisten und Technokraten darauf verzichten, ausser sie werden durch den sozialen Konflikt dazu gezwungen? Sind wir nicht etwa schon im „Klimanotstand”? Diese Antikapitalisten wollen doch nicht etwa mit den „Negationisten“ der globalen Klimaerwärmung verwechselt werden! In diesem falschen Spiel der Parteien ist keinerlei Raum für jene, die, wie der Poet sagt, feststellen: «ich weigere mich, in einem Schweinestall aufzuräumen».

Die “black box der Daten” – die wir nicht abstreiten können, weil wir nicht kontrollieren können – ist heute am Ruder des Schiffes. Über was können wir arme Schiffsjungen denn sicher sein, wenn nicht der Erfahrung, die wir zusammen im Kampf für eine Routenänderung machen?

Die gute Neuigkeit ist, dass die Ideen – nach Jahrzehnten, in denen man mehr oder weniger billig über alles irgend einer Meinung sein konnte – nun dazu gezwungen werden, sich in alltäglichen Gesten zu äussern, in gut erkennbaren minima moralia (die Ausgangssperre nicht einhalten, nicht auf Umarmungen verzichten, den Passierschein nicht runter zuladen…) Form anzunehmen.

Wenn, wie Ingeborg Bachmann in einem ihrer wunderbaren Gedichte schrieb, «das Unerhörte alltäglich geworden ist / und der Schatten des ewigen Aufrüstens den Himmel bedeckt», ist weder ausweichen noch nachgeben mehr möglich. Man muss sich entscheiden.


* Ein Genosse hat uns darauf hingewiesen, dass im Text Anti-tech revolution Kaczynski in Bezug auf Die Industriegesellschaft und ihre Zukunft eigentlich «mein eigenes…» sagt (unsere Präzisierung, 17. November 2021).

1) Unter den zahllosen möglichen Beispielen wählen wir ein lokales. Am vergangenen 10. Oktober in Trento wie in vielen anderen Städten gab es eine Solidaritätskundgebung vor dem Sitz der Cgil als Antwort auf die Geschehnisse in Rom. Damals trat eine Gruppe AnarchistInnen mit einem klaren Spruchband auf: «No fascismo / No green pass / Landini servo (Landini Diener». Die Medien haben in ihrer Berichterstattung darüber nicht die sonst bei solchen Protesten üblichen Kategorien gebraucht: wenn nicht gerade “anarchici” so doch “antagonisti” (vielleicht noch dazu “aufrührerische”, “gewalttätige” und sogar “terroristische”, aber jedenfalls von der Seite). In der “neuen Normalität”, hingegen darf man ja nicht wissen lassen, dass es jene Seite ist, die sich gegen die Faschisten, gegen Landini und gegen den Passierschein stellt. Wer war es dann? Schnell gesagt: «ein Grüppchen no vax, no mask, no green pass». Da man nicht “fascisti” sagen kann, muss man jedenfalls auf zweideutige und unklare Leute hinweisen, nicht wie die Anarchisten!

2) Um nicht als Erste die totalitären Versprechen der Technoindustrie beim Wort zu nehmen, darf man niemals vergessen, dass dieser „Weg“ sowohl mit den ökologischen (der digitale Apparat gründet auf einem immer krasseren Rohstoffabbau und benötigt immer mehr Elektrizität) als auch mit den sozial-kapitalistischen Richtlinien kollidiert. Der Mangel an Mikrochips und die Unterbrechung der globalen logistischen just in time Ketten – sowie der nicht erklärte Streik von Millionen Proletarier, die sich in den USA weigern unter gewissen Bedingungen zu arbeiten – beweisen, dass die Mechanisierung der Welt und der Menschlichen ein ganz und gar nicht linearer und hindernisfreier Prozess ist.

3) Seit einiger Zeit leben wir in der Epoche der Ängste, in jenem Gewebe aus Furcht und Faszination, der die dystopischen Serien oder Filme dermassen attraktiv macht (und wenn wir die anschauen, sind wir, klar doch, auf der Seite der Rebellen). Wie schon bemerkt wurde (https://www.piecesetmaindoeuvre.com/spip.php?page=resume&id_article=1576), ist die Furcht, dass mit den GMO-Impfstoffen auch Mikrochips in die Körper eingeführt werden, zweifellos paranoid, aber wer kann ausschliessen, dass es sich um eine zeitlich vorgreifende Paranoia handelt? In Schweden haben sich zehntausend Menschen freiwillig Mikrochips unter die Haut implantieren lassen. Und was den „kulturellen Kontext“ angeht, so könnte man wetten, dass nicht wenige es schon heute praktischer fänden in eine Bar zu gehen und den Arm vorzuhalten anstatt das eigene Handy mit dem entsprechenden QR Code rausholen zu müssen.

Ist es wirklich „rationaler“, die Massen-Experimente mit Gentechnologien als völlig harmlos zu betrachten, oder deren Ziele paranoid zu übertreiben? Welche sind dann, in der berühmten Kosten-Nutzen Rechnung, die in Betracht gezogenen Folgen? Würde nicht etwa eine Forschung den Namen „Wissenschaft“ verdienen, die sich mit den gesamten sozialen Auswirkungen befassen würde? Unter denen man schon die Tatsache aufzählen kann, dass die GMO – wenn auch stillschweigend – sofort auch in der Landwirtschaft verbreitet wurden; dass die ersten Transplantationen von genetisch veränderten Tieren auf den Menschen zur Verhinderung der Abstossung stattgefunden haben; usw. Aber vor allem die kybernetische Vorstellung des Lebenden schreitet voran, wie es die Beschleunigung sowohl in den digitalen Therapien als auch in der Telemedizin beweist.

Schlussendlich noch zwei Worte über Wissenschaft und Demokratie. Das ideale Land für die Wissenschaftler ist überhaupt nicht „das demokratischere”, sondern jenes, das ihnen eine weitgehende “Experimentierungsfreiheit” gewährt. Die amerikanischen oder europäischen Genetiker oder Mikrobiologen beneiden ihre chinesischen Kollegen, weil diese schon lange die menschlichen Embryonen klonieren dürfen oder weil sie in ihrer Forschung über den „Steigerung der Funktion“ der Viren (wie jene im Labor von Wuhan) nicht einmal die Unannehmlichkeit irgendeiner bürokratischen „bioethischen“ Kommission vermeiden müssen. Wie die Geschichte grosszügig aufzeigt, hat das Labor eine autarke Moral. Die angeblichen humanistischen Werte bleiben in den Umkleidekabinen, mitsamt der Zivilkleidung.

Von diesem Artikel gibt es eine englische Übersetzung, die ihr hier findet:

https://dipelle.kelebeklerblog.com/?p=86

Betroffen allesamt

Eines frühen Morgens, es fällt ein feiner Nieselregen, setzt ein 40-Tonner sich in Bewegung. Dabei handelt es sich allerdings nicht um einen dieser tausend Lkws, der den Transport von Waren sicherstellt, seine Mission ist weniger bedeutungslos. Mit eingeschaltetem Licht bewegt sich der Laster in die Vororte der bayerischen Hauptstadt München. Im Schlepptau die düstere Silhouette eines Krans, der bereit zu sein scheint, seine mechanischen Krallen in irgendeine Beute zu schlagen. Es handelt sich um einen ganzen Konvoi: der Lkw wird nämlich von Polizeifahrzeugen begleitet, jedoch ohne Blaulicht. Am Ziel angekommen springen die Polizisten aus ihren Fahrzeugen, rammen eine Tür ein und dringen in die Räumlichkeiten ein. Die Operation zielt nicht darauf ab, irgendetwas zu entdecken, sie sind da um etwas zu holen. Jedoch greifen sie sich keine Verdächtigen, wie man zuerst denken könnte. Auch keine hermetischen Kanister, die ein Vorbote von gut versteckten Sprengstoffen oder Waffen sind, deren Abwesenheit sicherlich nicht der Beweis für eine kaum zu empfehlende Unschuld in dieser tödlichen Welt ist. Ja nicht einmal der kleinste Benzinkanister liegt irgendwo herum. Doch das hat auch alles seine Richtigkeit, denn das war eh nicht das, worauf es die Polizisten abgesehen haben. Sie kamen um eine ganz andere Waffe zu stehlen, eine, die den Geist schärft und das Denken festigt. In München, an diesem 22. April 2022 [eigentlich war es der 26. April, Anm. d. Übs.], kamen die Bullen… um sich eine Druckerei einzuverleiben, die anarchistischen Schriften gewidmet war.

So berichteten später Gefährten von dort, dass die Polizisten die gesamte Druckerei raubten: „Vom Risograph (eine Druckmaschine) samt zugehörigen Trommeln bis zur Schneidemaschine, von der Sortier- bis zur Klebemaschine, ja sogar eine historische Letterpress und mehrere Bleisätze dafür wanderten allesamt in die Asservatenkammern der Bullen.“ Zehntausende Blatt unbedrucktes Papier, literweise Tinte und andere Verbrauchsmaterialien beim Drucken wurden außerdem mitgenommen, ebenso tausende Bücher, Broschüren und Zeitungen. Eine beachtliche Beute, die die Anwesenheit des Lkws und des Krans in diesem ekelhaften morgendlichen Konvoi erklärt.

Anderswo in der Stadt treten andere vom Staatsschutz (das K43, Kommissariat für „politisch motivierte Kriminalität“) koordinierte Mannschaften der Polizei die Türen von vier Wohnungen ein, durchsuchen mehrere Keller sowie die anarchistische Bibliothek Frevel. Der juristische Vorwand für diese ganze Operation ist nicht besonders originell: es handelt sich um den berüchtigten § 129, der Paragraph im deutschen Strafrecht, der auf die „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ abzielt. Schon immer wurden die Anarchisten, per Definition Gesetzlose – zumindest in ihren Ideen (denn ihre Ränge wurden von der Krankheit des Legalismus und der lähmenden oder kalkulierten Angst vor jeder Überschreitung des Gesetzes nicht verschont) –, von den Staaten verfolgt, indem sie sich solcher Strafrechtsparagraphen bedienten. Bis heute sieht man die Staaten diese legalen Instrumente zücken, um anarchistische Zusammenrottungen zu unterdrücken, die organisationelle Informalität und affinitären Konstellationen anzugreifen, die aus den viel zu steifen Schemata einer ORGANISATION ausbrechen, die immer prekäre Lücke der öffentlichen Initiativen, Treffpunkte und Orte der Verbreitung anarchistischer Ideen einzuschränken, diejenigen, die anarchistische Schriften verfassen und verbreiten, zu entmutigen, wie etwa die anarchistische Wochenzeitung  Zündlumpen, die sich im Fadenkreuz der bayerischen Polizei befindet und die einen der Kleiderständer auszumachen scheint, an dem die Polizisten beabsichtigen andere Elemente ihrer Ermittlungen aufzuhängen.

Gegenteilig zu einer gewissen Rhetorik, die unglücklicherweise unter Gefährtinnen und Gefährten immer noch beliebt ist, die eher Ausdruck einer selbsttröstenden Therapie zu sein scheint, denken wir nicht, dass der Staat unsere Räume, unsere Publikationen und unsere Druckinfrastruktur angreift, weil er Angst vor dem hätte, was die Anarchisten zu sagen haben, oder dass er sich von der Verbreitung unserer Bücher und Zeitungen bedroht fühlen würde. Es ist für ihn nur etwas, das für ihn total einfach geworden ist. Die heutige anarchistische und antiautoritäre „Bewegung“ ist weder in der Lage tausende Personen auf die Straße zu mobilisieren, wenn eine ihrer Druckereien beschlagnahmt wurde (auch wenn es Momente in der Geschichte gab, in der sie das war),  noch ein Gewicht darzustellen, wenn ihre öffentlichen Initiativen von einer polizeilichen Übermacht erstickt werden. Das hat nicht nur mit einer – beachtlichen – quantitativen Verringerung der anarchistischen Reihen zu tun, sondern auch mit der tiefgreifenden Transformation der sozialen Beziehungen in den letzten Jahrzehnten. Die technologische Umstrukturierung der kapitalistischen Ausbeutung, die Einverleibung fast aller Lebensbereiche in die staatliche Verwaltung und die kapitalistische Sphäre, die Auslöschung jeglicher Gemeinschaftlichkeit, die nicht von der technologischen Hydra produziert wird (auch wenn es wahr ist, dass diese zahlreich sind), ganz zu schweigen vom fürchterlichen Angriff auf die Sprache, ihre furchtbare Verarmung und ihr Austausch mit transportierten Bildern auf allgegenwärtigen Bildschirmen, oder dem Abgrund der Oberflächlichkeit und der Verdummung, in den sich ein Großteil der Menschheit gerade stürzt (oder hineingestoßen wird, letzten Endes ist es egal): all das ist nicht ohne Konsequenzen für das anarchistische Handeln und die Verbreitung anarchistischer Ideen. Demselben ausgesetzt bleiben auch die Anarchisten nicht unbeschadet: auch sie sind von der Lawine der neuen Technologien betroffen, ja werden gar von ihr absorbiert, von der augenblicklichen vermittelten Kommunikation, von der Schwierigkeit, weiter als bis zum nächsten Tag zu denken, oder auch der Schwierigkeit, zwischen dem zu unterscheiden, von dem es wichtig wäre, es heute zu veröffentlichen und zu verbreiten, und dem, was nur ein tristes Zeugnis der existenziellen Leere ist, die sich ihrer ebenso wie ihrer Zeitgenossen bemächtigt.

Kurz, der Umstand, dass der Staat regelmäßig und mit einer immer sorgloseren Nonchalance die wenigen anarchistischen Räume, die noch sichtbar bleiben, angreift, ist kein Zeugnis unserer Stärke, sondern unserer Schwäche. Ehrlich, alles andere scheint nur leeres Gewäsch zu sein, das die notwendige Reflexion verhindert, ein rhetorisches Sich-Überbieten, um sich nicht mit der Frage zu konfrontieren, die mit jeder beschlagnahmten Zeitung, mit jeder Verfolgung von Anarchisten mit dem kläglichen Vorwand der unlauteren (wahlweise „kriminellen“; „terroristischen“, „subversiven“, „illegalen“, …) Organisation unumgänglich wird: wie weiter handeln in dieser Ära der technologischen Finsternis, wo das Bewusstsein erlischt und unsere geistigen Wälder gerodet werden? Mit welcher Methodologie, welchen Organisationsformen, welchen Initiativen, um [nicht] dieselben Fehler zu machen? Wenn man nur die stolze Versicherung teilen kann, dass wir uns bis zum Schluss weigern werden, unsere Ideen anzupassen, dass wir uns gegen die Verflachung zur Wehr setzen werden, auch wenn wir damit zu den letzten Mohikanern werden, die die Vorstellung einer vollständigen Freiheit verteidigen, glauben wir, dass wir die Konditionen, in denen wir handeln, verstehen müssen anstatt sie zu ignorieren.

Eine so grob totalitäre Operation wie die Beschlagnahme von Druckmaschinen (erinnern wir uns daran, dass zu Zeiten der systematischen Zensur, die auf anarchistische Publikationen angewandt wurde, der Staat sich zumeist darauf beschränkte, die als zu heftig oder den Rahmen der „freien Meinungsäußerung“ überschreitend, sodass sie zum „Aufruf zu Straftaten“ werden, eingestuften Passagen zu schwärzen, in den extremeren Fällen das Gedruckte – nicht aber die Druckwerkzeuge – zu beschlagnahmen) etwas ist, das alle Anarchisten betrifft, egal, welchen Aktivitäten sie sich verschreiben oder welche Wege sie zu beschreiten gewählt haben. Nicht weil sie den Beweis liefert, dass das anarchistische Wort immer eine Gefahr für die Stabilität des Staates darstellt, noch dass sie den alten Glauben wiederbelebt, der das Nahen der Revolution als Resultat des Aufwachens des eingeschlafenen Bewusstseins dank der unermüdlichen Aktivitäten der anarchistischen Propagandisten, die selbst nie schlafen, betrachtet. Nein, sie betrifft uns alle, weil sie ein Hinweis auf den Zustand der Welt ist, den Zustand der sozialen Beziehungen und der nahen Zukunft, in der wir gezwungen sein werden zu handeln – oder aufzugeben. Ohne in den Chor der legalistischen Empörung einstimmen zu wollen, kann man dennoch sagen, dass die Beschlagnahme von Druckereien, die Schließung öffentlicher Treffpunkte, die Auflösung relativ offener Gruppierungen uns in eine andere Dimension der Repression versetzen, die letztlich absolut „normal“ oder „logisch“ ist, die darauf abzielt, diejenigen außer Gefecht zu setzen, die herrschaftliche Strukturen und Personen physisch angreifen. Auch wenn diese beiden Dimensionen immer zusammengehören und nicht so getrennt sind, wie es einige gerne glauben würden, erinnert das Mitbringen eines 40-Tonners, um eine Papierschneidemaschine und eine Letterpress mit Bleisätzen zu beschlagnahmen, eher an geläufige Maßnahmen in anderen Regimen. In dieser Epoche der industriellen und technologischen Flucht nach vorn, die offen pluralistisch, aber zutiefst totalitär ist, könnte uns eine solche Praxis, die überflüssig geworden zu sein schien, erneut überraschen – besonders da die beste Art und Weise, um jede mögliche Gefahr zu neutralisieren, die von der Verbreitung anarchistischer Schriften ausgehen könnte, natürlich in der laufenden Virtualisierung besteht, in ihrer technologischen Derealisierung. Doch nichts verschwindet für immer und alles bleibt potentiell präsent.

Die Verallgemeinerung der Lohnarbeit hat die Sklaverei nicht vollständig abgeschafft, die Errichtung von Atomkraftwerken hat die Kohleminen nicht verschwinden lassen, die Rationalisierung der Produktion hat die handwerklichen Minen nicht in den Mülleimer der Geschichte verbannt. Dieser Fortschrittsmythos scheint heute die Kehrseite der Realität zu erleiden, die den Schleier der Derealisierung zerreißt. Viele Dinge, die der Mythos in eine Vergangenheit verbannt hatte, die nie mehr wiederkehren würde, sind heute dabei ihren Platz in einer Realität einzunehmen, aus der sie letztlich niemals vollständig verschwunden waren. Der Krieg bricht erneut auf dem europäischen Kontinent aus, Knappheit wird sogar in den Supermarktregalen sichtbar, die Bedrohung einer atomaren Vernichtung addiert sich zu den genozidalen Praktiken, die die Konflikte begleiten, der Klimawandel lässt das Schreckgespenst der Hungersnot und der Ausrottung  über immer mehr Bewohner dieses leidenden Planeten schweben: In einem solchen Szenario sollte uns die Beschlagnahme einer anarchistischen Druckerei nicht überraschen. Die Epoche, in der es notwendig war, Druckereien zu verstecken, unauffällige Papierlager anzulegen, eine unterirdische und feine Verteilung der Neuigkeiten des Kampfes und der Vertiefungen des Denkens zu organisieren, ist sicherlich nicht von der Weltbühne verschwunden. Die Konditionen für solche Szenarien, auch im Schatten westlicher toleranter Demokratien, vereinigen sich immer mehr und werden sich verschärfen, je mehr die sozialen Spannungen steigen und die Ungleichgewichte sich ausbreiten.

 

Das ist der Grund, aus dem die Beschlagnahme einer anarchistischen Druckerei in München eine Angelegenheit ist, die uns allesamt betrifft.


Aus Avis de Tempêtes #53 vom 15. Mai 2022.

Alles in bester Ordnung

Das zügellose Ich – und das sind wir ursprünglich und in unserem geheimen Inneren bleiben Wir’s stets – ist der nie aufhörende Verbrecher im Staate. Der Mensch, den seine Kühnheit, sein Wille, seine Rücksichtslosigkeit und Furchtlosigkeit leitet, der wird vom Staate, vom Volke mit Spionen umstellt. Ich sage, vom Volke! Das Volk – Ihr gutherzigen Leute, denkt Wunder, was Ihr an ihm habt – das Volk steckt durch und durch voll Polizeigesinnung. – Nur wer sein Ich verleugnet, wer „Selbstverleugnung“ übt, ist dem Volke angenehm.

Polizeigewalt

Als am 25. Mai 2020 der schwarze George Floyd bei einer Polizeikontrolle von den Cops getötet wird, wird in den etablierten wie weniger etablierten Medien eine vermeintlich ungewöhnlich radikale Frage diskutiert: Sollte man die Polizei nicht besser abschaffen oder zumindest radikal abbauen? „Defund the Police“, „Kürzt der Polizei die Mittel“, diese Forderung geistert durch die Medien, und Minneapolis, die Stadt, in der George Floyd getötet wurde, kündigt an ihre Polizeistruktur grundlegend umzubauen. Damit wird eine Forderung populär, die von diversen schwarzen linken Organisationen in den USA wie „Black lives matter“ oder der Initiative „A World without Police“ sowie anderen Vertreter:innen der abolitionistischen Bewegung [1] bereits seit Jahren propagiert wird. Polizei und Gefängnisse müssten erst „abgeschafft“ werden, ehe sie reformiert werden könnten, meint beispielsweise Mariame Kaba, abolitionistische Aktivistin, unter anderem Direktorin des Project NIA, einer Organisation zur Beendigung von Jugendinhaftierungen. Mehr Geld für Sozialarbeit und psychologische Krisenhilfe fordern demokratische Reformisten wie letztens auch die Grüne Jugend. Die Polizei habe zu viele Zuständigkeiten, die sich durch andere Institutionen und Ansätze besser lösen ließen, wie etwa wenn es um den Umgang mit Drogen, Obdachlosigkeit und psychischen Erkrankungen geht.
Radikalere Abolitionist:innen wie etwa A World without Police – die gleichnamige Broschüre aus dieser Initiative wird beispielsweise von ABC Wien verbreitet [2]– haben da eine größere Vision:

Die einzige Möglichkeit, Polizeigewalt zu beenden, ist die Polizei als Ganzes abzuschaffen – als Teil einer revolutionären Veränderung der Gesellschaft, die den vorhandenen Wohlstand und Ressourcen auf alle verteilt.

Die Abschaffung der Polizei und des Knastes wird dabei nicht isoliert betrachtet, sondern formuliert die Sehnsucht nach einer befreiten Gesellschaft, in der die Abschaffung der Polizei nur ein Teilaspekt eines radikal anderen Miteinanders sein soll. Teil dieser Utopie ist dabei immer die Suche nach „Alternativen“ zu Polizei und Knast, um die „Sicherheit“ und den „Schutz“ der Menschen zu gewährleisten. Ob Grüne Jugend oder A World without Police, die etwa die Polizeikräfte „durch Systeme gemeinschaftlicher Sicherheit und Konfliktlösung“ ersetzen wollen, konkreter beispielsweise durch „basisdemokratisch aufgestellte Sicherheitsteams, in denen diejenigen das Sagen haben, die auf Schutz angewiesen sind“, es braucht einen Ersatz für das, was die Polizei aktuell leistet oder leisten soll.

Doch was bedeutet das, wenn ich nach „Alternativen“ zur Polizei suche? Was ist es, was ich erhalten will? Was ist „die Polizei“ überhaupt? Wo kommt sie her, was sind die Ideen und Vorstellungen, die dahinter stehen? Gibt es da wirklich etwas, das erhaltenswert ist? Oder muss die Polizei in ihrer Gesamtheit zerstört werden? Aber was bedeutet das? Ich möchte im Folgenden versuchen, diese Fragen zu erkunden. Dabei geht es mir nicht nur darum, den propagierten Reformismus der abolitionistischen Bewegung zu kritisieren, sondern ich möchte versuchen tiefer zu gehen, der Essenz der Idee der „Polizei“ nachzuspüren und mir die Frage stellen, worauf wir uns eigentlich beziehen, wenn wir über die „Polizei“ reden, und zu entlarven, dass die „Polizei“ – nicht nur als der berühmte Bulle im Kopf – unsere Vorstellungen eines menschlichen Miteinanders so tief durchdrungen hat, dass auch eine Welt ohne Polizei in den allermeisten Fällen eine polizierte Welt sein wird.

Dabei möchte ich keine einheitliche Geschichte der Polizei erzählen, keinen Entwicklungsstrang, keine Erzählung irgendeines „Fortschritts“ oder „Antifortschritts“, sondern eher Fragmente sammeln, Diskurse und Ideen wie auch Geschichten über die Polizei und das Polizieren.

Polizeigeschichten

Der Begriff der „police“ oder „Policey“ taucht erstmals im 15. und 16. Jahrhundert im Heiligen Römischen Reich, Frankreich und England auf. Er leitete sich vom Altgriechischen ab, vom Begriff „politeia“ und ist damit mit der griechischen „polis“, den antiken Stadtstaaten, verbunden und mit dem Begriff der „Politik“ eng verwandt. „Polis“ heißt übersetzt einfach „Stadt“ oder „Staat“, was im antiken Griechenland identisch war. „Politik“ bezeichnete in den antiken Stadtstaaten all diejenigen Tätigkeiten und Fragestellungen, die das Gemeinwesen – also die Polis – betrafen. Interessant ist hier das berühmteste Werk des griechischen Philosophen Plato, die Politeia, zu betrachten. In der Politeia diskutiert Plato darüber, inwiefern Gerechtigkeit in einem idealen Staat hergestellt werden kann. In Platos idealem Staat soll die Bevölkerung aus drei Ständen bestehen: den Bauern und Handwerkern, den Kriegern oder Wächtern und den „Philosophenherrschern“. Dabei sind die Wächter diejenigen, die den Staat bewachen sollen. Sie sollen den Staat nach außen wie nach innen verteidigen – nach heutigen Begriffen sollen die Wächter also militärische wie polizeiliche Aufgaben erfüllen –, wenn auch darauf zu achten sei, dass die Wächter nicht zu unterdrückerisch gegen die eigene Bevölkerung vorgehen dürften. Den Staat zu verteidigen bedeutet bei Plato auch, eine optimierte Stabilität dieses Staates herzustellen – was etwa beinhaltet dafür zu sorgen, dass die Bürger immer in einer optimalen Anzahl an Menschen für den Staat vorhanden sind, aber auch dass kulturelle „schädliche Neuerungen“ von den Bürgern ferngehalten werden müssten, also in die Fortpflanzung der Bürger im Sinne des Staates einzugreifen und alles, das die Menschen von ihrer Subjektivierung als Bürger entfernt, von diesen fernzuhalten.

Die „Policey“ des 15. und 16. Jahrhunderts – wenn auch noch nicht allgemein definiert und teilweise unterschiedlich verwendet – umfasste meist – angelehnt an die „Politik“ der Polis – einen Zustand der guten, allgemeinen Ordnung eines Gemeinwesens sowie einer allgemeinen „Wohlfahrt“ und „Sittenaufsicht“. So wurde 1530 in Augsburg eine „Reichspolizeiordnung“ beschlossen, die neben dem, was wir auch heute noch in Strafgesetzbüchern finden, auch Dinge wie Gotteslästerung, Fluchen und Schwören, Trinken, die ständische Kleiderordnung, Trompeter und Spielleute, Betteln und Müßiggang oder den Verkauf unterschiedlicher Waren wie etwa Ingwer regelte und für die Nichtbefolgung konkrete Strafen festlegte. Dabei gab es aber noch keine Institution der „Polizei“, die dafür sorgte, dass diese Regeln eingehalten werden, sondern es gab eine Fülle an unterschiedlichen Umsetzungen und Zuständigkeiten. So hatten die Zünfte in den Städten etwa häufig eigene, konkurrierende „Polizeien“, die dann mit den städtischen Wachen in Konflikt gerieten. Vielerorts übernahmen Söldner – häufig ehemalige Soldaten – die oftmals sehr niedrig angesehene Aufgabe, andere Menschen zu drangsalieren, oft waren es auch feudale Garden und Wachen, die über die Einhaltung solcher „Ordnungen“ wachten.

Die Verteidigung des Eigentums insbesondere reisender Kaufleute und der Adligen war ein wichtiger Bestandteil früher Polizeiarbeit, der Kampf gegen „Müßiggang“ und „Bettelei“ ein anderer. In der Schweiz – wenn auch nicht nur da – spielte der Kampf gegen nicht sesshafte, umherwandernde Menschen – da deutlich schwerer kontrollierbar und eine Gefahr für Eigentum und Leben insbesondere der reichen Kaufleute und Adligen –, wie „Zigeuner“, Räuberbanden, Vaganten, Fahrende und Bettler eine wichtige Rolle für die Entwicklung der frühen Polizei. Ehemalige Soldaten sollten als sogenannte „Landjäger“ das „Gesindel“ vertreiben. Im 17. Jahrhundert übernahmen im Heiligen Römischen Reich „Vogte“, niedere Adlige, die Etablierung einer „guten Ordnung“. Wachleute und Nachtwächter übernahmen dann die Aufgaben, etwa zu kontrollieren, ob sich jemand im Wirtshaus nicht an die Tischmanieren hielt oder sich nicht seines Standes gemäß kleidete. In den USA waren die Vorläufer der modernen Polizei ab circa 1700 sogenannte „slave patrols“, Sklavenpatrouillen, die Sklavenrevolten niederschlagen und geflohene Sklav·innen wieder einfangen sollten.

Das moderne Konzept der Polizei als vom Staat bezahlte und geförderte Beamte wurde von deutschsprachigen und französischen Juristen und Beamten im 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts entwickelt. Einflussreich war Nicolas Delamares Traité de la Police von 1705, ebenso wie die von Philipp von Hörnigk entwickelte Polizeiwissenschaft. Einer der bedeutendsten Theoretisierer der Polizei ist Johann Heinrich Gottlob von Justi, der 1756 die „Grundsätze der Policey-Wissenschaft“ folgendermaßen definiert:

“In weitläuftigem Verstande begreifet man unter der Policey alle Maaßregeln in innerlichen Landesangelegenheiten, wodurch das allgemeine Vermögen des Staats dauerhaftiger gegründet und vermehret, die Kräfte des Staats besser gebrauchet und überhaupt die Glückseligkeit des gemeinen Wesens befördet werden kann.”

Aufgabe des Staates sei, dass er das größtmögliche „Glück“ für die größtmögliche Anzahl seiner Bürger ermögliche. „Polizei“ bzw. ius politiae (Polizeigewalt) erwuchs zum wichtigsten Bestandteil der einheitlichen absoluten Staatsgewalt. Die Polizei sei wichtigstes Instrument zur Gewährleistung der „Herrlichkeit“ des Staates. Sie vergrößere die Stärke des Staates, während sie diesen in guter Ordnung halte. Gleichzeitig solle sie das „Glück“ aller Staatsbürger fördern. Sie solle sich nicht nur um die Durchsetzung von Gesetzen kümmern, sondern sei auch für die öffentliche Gesundheit, die Stadtplanung und die Überwachung von Preisen zuständig – ganz im Sinne von Platos Politeia. Alle möglichen Aspekte im Leben eines Untertans wurden immer umfassender reguliert. Resultat dieser Ideen war der absolutistische „Wohlfahrtsstaat“ des 17. und 18. Jahrhunderts, heute besser bekannt und verrufen als „Polizeistaat“.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts kam Kritik am Polizeistaat auf. Der Bürger dürfe „nicht zu seinem Glück gezwungen werden“. Die Aufgabe der Polizei liege ausschließlich in der sogenannten „Gefahrenabwehr“ und der Verhinderung von Straftaten. Wohlfahrtspolizeiliche Ziele müssten dabei aber nicht etwa aufgegeben, sondern lediglich eingeschränkt bzw. an andere Institutionen ausgelagert oder anders realisiert werden. Die französische Revolution organisierte die Polizei in diesem Sinne vollkommen neu und lieferte die Basis für das bis heute bestehende Verständnis und die Organisation von Polizeiarbeit:

„Die Polizei wird eingesetzt, um die öffentliche Ordnung, die Freiheit, das Eigentum, die individuelle Sicherheit aufrechtzuerhalten. Ihre Haupteigenschaft ist die Wachsamkeit. Die Gesellschaft betrachtet als Masse ist Objekt ihrer Fürsorge.“

Umgesetzt wurde diese Beschränkung allerdings noch lange nicht, weder in Frankreich noch in deutschsprachigen Gegenden. Erst mit der Weimarer Republik wurde dies im deutschsprachigen Raum mehr oder weniger umgesetzt. Im NS erweiterten sich die Befugnisse der Polizei massiv und eine neue Form des absolutistischen Polizeistaats, der totalitäre Polizeistaat, zum „Schutz der deutschen Volksgemeinschaft“ erschaffen. Nach der Niederlage 1945 erstand die Polizei in der Bundesrepublik in der heute bekannten Form wieder auf (übrigens mit weitreichenden personellen Überschneidungen, ebenso wie es bereits beim Übergang der Weimarer Schutzpolizei zur nationalsozialistischen Polizei der Fall gewesen ist. Aber das nur am Rande). In der DDR hingegen war die Polizei nun für den „Schutz der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung“ zuständig, mit den allseits bekannten polizeistaatlichen Konsequenzen.

Polizeivorstellungen

Was können wir aus diesen Geschichten und Fragmenten herausdestillieren? Was macht die Polizei aus? Auch wenn die Polizeiidee einer Entwicklung und einem Wandel unterworfen war, denke ich, dass sich gewisse Grundvorstellungen bereits herauskristallisieren.

So gehört zur „Polizei“ grundlegend die Vorstellung eines „Gemeinwesens“ oder einer „Gesellschaft“, die Vorstellung von etwas Kollektivem also, das über dem einzelnen Individuum steht, das die an einem Ort befindlichen Menschen gänzlich und unfreiwillig umfasst und eine abstrakte Gesamtheit bildet, die durch „schädliches“ Verhalten Einzelner innerhalb oder außerhalb dieses kollektiven Gebildes Schaden nehmen könnte, was wiederum zum Schaden aller gereichen würde. Deshalb muss das einzelne Individuum diesem übergeordneten Kollektiv untergeordnet werden und eine formelle Struktur gebildet werden, etwa einen Staat, um dieses „Gemeinwesen“ zu schützen. Die Verteidigung dieser Struktur gegenüber äußeren wie inneren Feinden, die „dauerhafte Gründung und Vermehrung des Vermögens des Staates“, die Herstellung einer Stabilität dieser Struktur ist dabei ein, vielleicht auch erstes Ziel der Polizeiarbeit. Das bedeutet, dass kollektives wie individuelles Verhalten, das diese Struktur gefährden könnte, bekämpft werden muss. Das Individuum spielt dabei keine Rolle, nur die „Masse“ wird dirigiert, als entindividualisierte Zellen des „Gemeinwesens“, die verwaltet und wie Schachfiguren an die richtige Stelle platziert werden müssen. Wir können das Bild dieses „Gemeinwesens“ durchaus organisch betrachten. In Leviathan, einem äußerst einflussreichen staatstheoretischen Werk der Aufklärung, beschreibt Hobbes den Staat als einen riesigen, einheitlich handelnden Körper, zusammengesetzt aus zahlreichen Menschen, die diesen Riesen mit ihren Handlungen zum Leben erwecken. Betrachten wir den Staat als ein solches Ungetüm – und der moderne Staat ist auf jeden Fall damit halbwegs treffend beschrieben –, dann muss dafür gesorgt werden, dass seine Bestandteile, oder in der modernen Variante der Körpervorstellung seine „Zellen“ ihre Aufgaben erfüllen, die diesen Riesen zum Leben erwecken, d. h. sie können nicht die Freiheit haben zu tun und zu lassen, was sie wollen. Um seine „Zellen“ zu einer für den Leviathan notwendigen Disziplin zu bewegen, braucht es eine Identifizierung der Staatssubjekte mit ihrem Staat. Unterschiedliche Methoden können dabei angewandt werden. Eine ist die Diffamierung individueller Freiheit, des ungezügelten Ichs, als „Egoismus“ und die Propagierung der Aufgabe dieser individuellen Eigenheit zum Wohle einer abstrakten und damit beliebig mit Inhalt befüllbaren „Gemeinschaft“ – genannt „Altruismus“. Eine andere ist den dem Staat unterworfenen „Zellen“ einen Nutzen durch die Teilhabe zu versprechen.

So ist Teil der Polizei-Vorstellung auch, dass der Staat oder eine andere Struktur in der Lage seien, dieses „Gemeinwesen“ zu verbessern, indem dieser die Beziehungen von Menschen und anderen Lebewesen auf eine „gute“ Art und Weise „ordnet“ und so das „Glück“ der meisten befördern würde, der „Wohlfahrt“ dienen würde. Was „Glück“ oder „Wohlfahrt“ dabei sein soll, bestimmen natürlich jene, die in diesem Konstrukt das Sagen oder Einfluss haben, ebenso wie sie bestimmen, wer genau davon wie „profitieren“ solle und wie diese „Ordnung“ auszusehen hat. Diese „Ordnung“ wird in dieser Erzählung einem furchterregenden „Chaos“ gegenübergestellt. Hobbes etwa stellt seinen Staat einem staatenlosen „Naturzustand“ entgegen, der, gemäß seiner Vorstellung, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf sei, als einzige Schlachterei unter den Menschen beschrieben wird – ein erstaunlicher Vergleich, schließlich wäre es zumindest mir neu, dass Wölfe ein solches Verhalten an den Tag legen würden. Nur ein Staat könne mithilfe der Errichtung eines Gewaltmonopols und durch Zwang auferlegte. für alle verbindliche Regeln, sogenannte Gesetze, diesen „Urdrang“ des Menschen bändigen. Nur durch die auferlegte Herrschaft des Leviathan, vor der sich jeder fürchte, könne jeder ohne Furcht vor seinem Nächsten leben und so erst zu Freiheit und Autonomie gelangen. Diese Verdrehung, die ich nicht anders als mit dem berühmten und überstrapazierten Satz aus Orwells 1984 , „Freiheit ist Sklaverei“ zusammenzufassen vermag, setzt sich in der beständigen Panikmache vor diversesten „Gefahren“ fort, etwa altbekannt die vor Mördern, Vergewaltigern und Kinderschändern, aber auch die vor Terroristen, Islamisten oder neuerdings die vor einem Virus. Gleichzeitig werden die Menschen davon entwöhnt, ja es wird ihnen sogar verboten, ihre Konflikte und sonstige Widrigkeiten direkt und selbst zu klären oder auszutragen. Das führt sogar so weit, dass – zumindest in Deutschland – Menschen die Cops rufen, wenn ihre Nachbarn zu laut sind, anstatt dass sie einfach selbst hingehen, um den Konflikt direkt mit diesen auszutragen. Durch diese bewusst herbeigeführte „Hilflosigkeit“ der Menschen und dem geschürten, manchmal trotzdem nicht einmal real vorhandenen „Sicherheitsbedürfnis“, das dann wiederum nur der Staat befriedigen und nur er für Schutz sorgen könne, wird dann die Unterwerfung der Individuen gerechtfertigt und sogar als Freiheit verkauft.

Polizeimethoden

Irgendwo sind alle diese Ideen einfach nur Blabla, um die Herrschaft derjenigen, die mithilfe der geschaffenen Struktur gefestigt und aufrechterhalten werden soll, zu legitimieren und die eigenen Vorstellungen, wie Menschen zu leben haben, durchzusetzen, sowie die Handlungen der dieser Herrschaft unterworfenen Menschen so zu beeinflussen oder zu bestimmen, dass sie der eigenen Machterhaltung und dem eigenen Profit dienen. Das bedeutet nicht, dass diejenigen, die die Gestaltung dieser „Ordnung“ mitbestimmen oder grundlegend setzen, nicht tatsächlich daran glauben, eine für alle „gute Ordnung“ zu entwerfen. Doch egal ob aus reiner Machtgeilheit oder aus Philanthropie, beide eint, dass sie andere Menschen in eine „Ordnung“ bringen wollen, die ihren Zielen entgegenkommt, dass also auf die Menschen Einfluss genommen werden müsse, etwa bei Plato Geburten kontrolliert und Zensur betrieben werden müsse, damit die Menschen auf eine die Ordnung aufrechterhaltende und dieser Ordnung entsprechenden Art und Weise handeln. Viele Kritiker des kapitalistischen demokratischen Nationalstaates werfen dieser Ordnung vor, das Versprechen darauf das größtmögliche Wohl für alle herzustellen, nicht zu erfüllen, und stellen ihm ihre eigene Utopie einer Ordnung entgegen, von der angeblich tatsächlich alle profitieren würden und die die größtmögliche Freiheit für alle etablieren würde.

Womit wir es bei dieser Art der Kritik also zu tun haben, ist eine Kritik an den Methoden und der Form, jedoch keine grundsätzliche Verwerfung von (An-)Ordnungsvorstellungen. Da sind sie nicht die einzigen, denn es gab immer viel Diskussion hinsichtlich der Methoden und Mittel zur Durchsetzung oben genannter Ziele und wieviel (physischer) Zwang und Strafe dabei eingesetzt werden sollte oder dürfe. Bereits Plato wollte nicht, dass die „eigene Bevölkerung“ zu sehr von den Wächtern unterdrückt werde, aber ein bisschen dann doch, kaschiert als das angeblich dialektische Verhältnis zwischen „Freiheit“ und „Sicherheit“, zwischen denen man eine optimale Balance finden müsse.

Während etwa in feudalen Zeiten „polizeiliche“ Institutionen ebenso wie Gerichte und Strafen auf die sichtbare und öffentlich zelebrierte körperliche Bestrafung verbotenen Verhaltens, auf das Schauspiel der Zerstörung des Körpers des Delinquenten setzte und die „Ordnung“ häufig mithilfe von offener physischer Gewalt durchgesetzt wurde, setzte mit der Aufklärung eine „Humanisierung“ und Subtilisierung dieser Kontrollinstrumente ein, die sich zukünftig nach wissenschaftlichen, „vernünftigen“ und demokratischen Prinzipien organisieren sollten. „Willkürliche“ Herrschaft und Strafen, die härter waren als das, was die Person verübt hatte, passte den protestantischen Aufklärern nicht. Mit der Absetzung der Aristokratie als die herrschende Klasse und der Emanzipation des Bürgers, der Bourgeoisie, als neue herrschende Klasse musste ein anderes Herrschaftsverhältnis her, eines, das vermeintlich auf Vernunft basierte. Die auch heute noch auf den Grundsätzen der Aufklärung basierenden polizeilichen Institutionen erheben den Anspruch, ihre Tätigkeit an gewissermaßen „objektiven“ Kriterien zu orientieren, die philosophisch und demokratisch entwickelt wurden, um ein Zusammenleben zu sichern, das im Sinne zumindest der Mehrheit bzw. der meistmöglichen Anzahl an Menschen sei.

Der Staat solle dabei das Instrument zur Durchsetzung dieser Vernunft sein. Dabei wird scheinbar jeder gleich machtlos angesichts verschriftlichter Vorschriften und Gesetze. Ein Cop hält sich nur an die Vorschriften, ein Richter ans Gesetz. Ein jeder orientiert sich an einer leblosen Sache, die weil sie leblos ist, als höhere Sache gilt, der man sich ja auch nur unterwirft. Ein jeder nur ein Rädchen in einem System, das vorgeblich dem Wohl aller dient. Ganz im Sinne von Hobbes‘ Leviathan. Gott – herrschaftliche Legitimationsstrategie vor der Aufklärung – heißt nun Vernunft und Wissenschaft.

Außerdem verschiebt sich der Fokus auf die „Prävention“ unerwünschten Verhaltens anstatt der altbewährten Bestrafung – „es ist besser zu verhindern, dass Verbrechen überhaupt stattfinden anstatt sie zu bestrafen“, proklamierte etwa der utilitaristische Philosoph Jeremy Bentham – ebenso wie auf die „Resozialisierung“ aka Umerziehung von Menschen, die trotzdem gegen Regeln verstoßen, unter anderem mithilfe von nicht körperlich sichtbaren Bestrafungen, die je nach „Besserungsgrad“ minimiert werden können. „Die Strafe soll, wenn ich so sagen darf, eher die Seele treffen als den Körper“, bemerkte der Aufklärer de Mably 1789.

Im 19. Jahrhundert wird in Großbritannien die Strategie des „policing by consent“ entwickelt. Angesichts von Arbeiterstreiks und -aufständen, die teilweise dadurch verschärft wurden, dass die Cops zahlreiche Protestierende niederschossen, musste eine neue Strategie her. Der Begründer der Londoner Metropolitan Police Force, ein Politiker namens Peel, entwickelte 1829 das „policing by consent“, das zustimmungsbasierte Polizieren. Diese Idee sollte revolutionäre Bewegungen in reformistische verwandeln, die in der Polizei ihren Partner und nicht ihren Gegner sehen. Die Idee dabei war, dass je mehr die Leute sich selbst polizieren, umso weniger brutale Gewalt zur Durchsetzung der Staatsordnung aufgewendet werden muss.

„Die Polizei muss die willige Kooperation der Öffentlichkeit bei der freiwilligen Befolgung des Gesetzes sicherstellen, um in der Lage zu sein den Respekt der Öffentlichkeit zu sichern und aufrechtzuerhalten… Der Kooperationsgrad der Öffentlichkeit, der gesichert werden kann, senkt proportional die Notwendigkeit offene brutale physische Staatsgewalt anzuwenden.“

So beschreibt Peel seine Idee. Die Polizei darf also nicht als von außen aufgedrückte Unterdrückungs-, Überwachungs- und Kontrollstruktur wahrgenommen werden, sondern muss als Ausdruck des Gemeinwillens, als „Bürger im Dienste des Bürgers“ angesehen werden, an Gesetze gebunden wie alle und nur gegen diejenigen vorgehend, die sich nicht an Gesetze halten. In diesem Sinne steht auch das 1926 in der Weimarer Republik geprägte – und von Heinrich Himmler begeistert wieder aufgenommene und bis heute verbreitete – Motto „Die Polizei – dein Freund und Helfer“. Peel prägte auch den Satz: „Die Polizei ist die Öffentlichkeit und die Öffentlichkeit ist die Polizei“, denn die erfolgreichste Polizei ist diejenige, die die Gesellschaft so durchsetzt hat, dass sie eins mit ihr geworden ist, wo sich die Leute von selbst an die Regeln halten, ohne darüber nachzudenken, diese als selbstverständlich betrachten und andere daran hindern, diese Regeln zu brechen.

Polizeigesellschaft

Humanismus: die Kunst einem Monster Lippenstift aufzutragen und es dazu zu bringen ganz süß zu gucken, während man ihm weiche mitleidsgefärbte Kleider anzieht; die Kunst die eigene Verteidigung einer solchen Unmenschlichkeit menschlich erscheinen zu lassen.
Good cop bad cop

Seit dem 18. Jahrhundert, also eigentlich seit Beginn der Institutionalisierung der Polizei, wird darüber nachgedacht, auf welche Art und Weise die Anwendung physischer Gewalt minimiert werden kann, ohne dabei die Kontrolle über die Bevölkerung zu verlieren, um so die Akzeptanz der bestehenden Herrschaftsstrukturen und ihrer Regeln zu steigern. Die meisten Kritiken am Polizeistaat – damals wie übrigens auch heute – beschränkten sich darauf, dass es nicht Sache einer physische Gewalt anwendenden Institution sei, gewisse Dinge zu regeln, dass das „unmenschlich“ sei, sondern dass es andere Institutionen oder Ansätze gebe, die besser für die Regelung dieser Dinge geeignet seien. Welcher Dinge? Handlungen, Beziehungen und Situationen, die die „Ordnung“ stören könnten, etwa dadurch, dass die Befriedung der Bevölkerung nicht mehr funktioniert, es also Potenzial für Revolten gibt, oder dass die Mitglieder dieser Ordnung ihre Aufgaben nicht (mehr) erfüllen (können). So ist beispielsweise der „Kampf“ gegen Armut, Drogenmissbrauch oder Obdachlosigkeit – Beispiele derjenigen, die etwa mehr Sozialarbeiter für diese Angelegenheiten anstelle von Cops fordern – Versuche das Versagen des Glücksversprechens des Staates zu kaschieren oder aufzufangen, ebenso wie Revolten aufgrund von existenzieller Not zu verhindern und andererseits mithilfe von „Resozialisierungs“programmen etwa von Obdachlosen oder Drogenabhängigen diese in den Körper des Leviathan als nützliche Zellen zu reintegrieren.

„Polizei“ als Etablierung und Aufrechterhaltung einer „Ordnung“ umfasst die Einfügung der Subjekte des Leviathans in seinen Körper. Doch was bedeutet das konkret? Ein altes Synonym zur „Policey“ ist „Mannszucht“. Heute kennen wir noch das „Zuchthaus“, die „Züchtigung“ oder „züchtig“ zu sein. Dabei sind die „Züchtigung“ oder das „Züchtigsein“ Dinge, das wir meist mit vielleicht etwas veraltet wirkenden Erziehungsmethoden assoziieren. Ob veraltet oder nicht, können wir allerdings sagen, dass Erziehung eine ganze Menge mit der Polizei zu tun hat.

part. policiert, in gute bürgerliche ordnung (polizei) gebracht, wol eingerichtet; gebildet, gesittet, civilisiert
„Polizieren“, Grimms Wörterbuch

Wer poliziert ist, ist laut Grimmschen Wörterbuch „gebildet, gesittet, civilisiert“. Jemand Unpoliziertes ist also ungebildet, unzivilisiert, ungesittet. Wer eine „schlechte Erziehung“ genossen hat – oder, in moderneren Worten ausgedrückt, „einen niedrigen Bildungsstandard hat“ –, der läuft Gefahr eher „straffällig“ zu werden, sprich ordnungsgefährdendes Verhalten an den Tag zu legen. Eine gute Bildung und Erziehung ist ein wichtiges Anliegen für den Staat. Die „Erziehung“ ist auch begrifflich eng mit der „Zucht“ verwandt. Das mittelhochdeutsche zühter und das althochdeutsche zuhtari bedeuten ursprünglich „Lehrer“ oder „Erzieher“. Die „Policey“ als „Mannszucht“ dient als lebenslange Erziehungsinstanz. Wer schon einmal in einem Gerichtsprozess saß, kennt den erzieherischen Charakter der ganzen Veranstaltung. Erziehung ist nichts anderes als die Einschränkung der Handlungen des freien, ungezügelten Individuums auf die erwünschten, die in unserer Gesellschaft die des arbeitenden Bürgers sind. Polizei ist auch Schule, Erziehen ist Polizieren.

Doch kehren wir zur „Zucht“ zurück. In Victor Hugos Roman Les Misérables – Geschichte eines Brotdiebes, der nach neunzehn Jahren Zwangsarbeit versucht ein moralisch „besserer“ Mensch zu werden, dabei einen Industriestandort gründet und Bürgermeister wird, dessen Versuche sich zu „rehabilitieren“ aber immer dann scheitern, sobald die Menschen von seiner Vergangenheit erfahren – begegnen wir einem Bischof – der Seelsorger des Protagonisten, der durch seine Freundlichkeit diesen zur Moral bekehrt –, der beim Anblick von Bauern, die Brennesseln aus dem Feld herausreißen und daneben in der Sonne verdorren lassen, murmelt:

Meine Freunde, behaltet dies, es gibt weder schlechtes Kraut noch schlechte Menschen. Es gibt nur schlechte Gärtner.

Der Bischof weiß, wie nützlich Brennesseln sind und was man alles damit machen könnte und ist betrübt über die Dummheit der Bauern. Ebenso ist der Protagonist mithilfe von Fürsorge „bekehrbar“ und kann zu einem nützlichen Mitglied der Gesellschaft werden, was aber durch sein Stigma als ehemaliger Strafgefangener immer wieder von der Gesellschaft zunichte gemacht wird. Ich finde das ganze Buch sehr bezeichnend für die Idee, die hinter der Polizei steht sowie für gängige Polizeikritiken, und speziell die Brennesselszene in diesem Kontext äußerst interessant. Die Moral von der Geschicht‘: der Protagonist, die „Brennessel“ könnte und ist ein so nützliches Mitglied der Gesellschaft, doch dadurch, dass ihm die Vergangenheit nicht verziehen wird, kann er dieses Potenzial nicht ausleben. Auf andere „liberale“ oder „emanzipatorische“ Kritiken übertragen, ist das Argument, dass jeder Mensch Fähigkeiten habe, die für die Gesellschaft nutzbar gemacht werden könnten, und die Methoden der Institution der Polizei und der Strafjustiz seien dafür häufig nicht geeignet, teilweise schüfen diese auch erst die Probleme, die sie vorgeben zu lösen. Die Polizei sei häufig „ein schlechter Gärtner“, doch durch eine Umstellung der Methoden, etwa durch Güte, könnte der Garten Gesellschaft viel mehr erblühen und seine Elemente maximal nützlich verwertet werden. Vieles von dem, was als „Unkraut“ entfernt wird, könnte sehr wertvoll für die Gesellschaft sein.

Der Garten im Gegensatz zum wilden Wald oder zur wilden Ebene ist das passende Pendant zur Gesellschaft im Gegensatz zur Freiheit, zum wilden, ungezähmten, freien „Naturzustand“, den Hobbes so verteufelt. Der Garten ist die geordnete, kontrollierte Umgebung, in dem jede Pflanze, jedes Tier danach sortiert wird, ob es für den Zweck des Gartens nützlich ist oder bekämpft werden muss. Und auch hier kann der Gärtner sich irren, Nützliches zerstören und Schaden anrichten und ihm werden andere widersprechen und andere Theorien haben, wie der Garten in seiner ganzen Pracht erblühen kann, doch der Garten selbst bleibt unangetastet. So wie der Gärtner seine Blumen und Nutzpflanzen zieht, Regenwürmer ansiedelt, einen Kompost anlegt und die Schnecken vergiftet, so wird der neugeborene Mensch ge- – pardon erzogen und kultiviert, einer guten „Zucht“ bzw. „Erziehung“ unterworfen, er wird zivilisiert und domestiziert, er wird poliziert.

So gibt es viele Institutionen, „Fachbereiche“, Vereine und akademische Fakultäten, die sich mit der optimalen „Zucht“ der Menschen beschäftigen und sich darum streiten, welcher Dünger die besten Resultate bringt. Was ist die effektivste Methode, um unerwünschtes Verhalten zu eliminieren und erwünschtes zu produzieren? Wie lege ich den Garten am besten an, um das beste Resultat zu erzielen, wie erschaffe ich den Raum, indem am besten das gewünschte Resultat zutage tritt? Die Psychologie, die Pädagogik, die Verhaltensforschung und die Sozialwissenschaft, die soziale Arbeit, die Architektur – etwa durch das Entwerfen „sicherer“ Wohnviertel – haben erstaunliche Arbeit geleistet, um die Produktion erwünschten Verhaltens zu steigern. „Sanftere“ Methoden als der Knüppel verringern bei vielen den Widerstand spürbar. Die Forschungen in diesem Bereich mögen die Erkenntnis geliefert haben, dass das Polizieren mithilfe physischer Gewalt nicht immer das geeignete Mittel zur Verhaltenskontrolle ist, sondern mehr als „Mittel letzter Wahl“ gebraucht bzw. zumindest der Anschein dessen vermittelt werden sollte. Eine Trennung der „Unverbesserlichen“, derjenigen also, bei denen subtilere Methoden der Verhaltenskontrolle nicht funktionieren, von denen, die für andere Mittel anfällig sind, isoliert diese „aufständischen“/kriminellen Elemente und macht sie so leichter kontrollierbar.

In einem Verständnis der Polizei als Kriegsführung gegen das ungezähmte Individuum zur Herstellung des Bürgers und des Arbeiters muss auch die moderne Unterscheidung von Militär und Polizei infragegestellt werden. In anderen Ländern als Deutschland mag diese Unterscheidung eh lächerlich erscheinen, in denen das Militär immer dann zum Einsatz kommt, wenn die klassische Polizei und die anderen Institutionen nicht mehr in der Lage sind, das Verhalten ihrer Bürger zu kontrollieren – eine Intervention, die sicherlich trotz aller „antifaschistischen“ Lippenbekenntnisse auch in Deutschland bei einem Aufstand zu erwarten wäre. Moderne Militärstrategiepapiere sehen in der zunehmend globalisierten Welt mit zunehmend gefestigten Nationen ohnehin in der Aufstandsbekämpfung das militärische Aufgabenfeld des 21. Jahrhunderts, Polizei- und Militärstrategien und -technologien befruchten sich gegenseitig, greifen ergänzend ineinander. Das Militär kommt dann zum Tragen, wenn eine neue Ordnung etabliert werden soll, etwa durch eine militärische Besatzung, oder um eine spürbar ins Wanken geratene Ordnung wieder zu stabilisieren, also quasi um die ursprüngliche Besatzung zu wiederholen. Doch eine Ordnung kann sich besser festigen, wenn die Besatzung nicht mehr als solche empfunden wird. Die militärische Besatzung eines Gebietes wird von den meisten als Freiheitseinschränkung betrachtet werden und entsprechenden Widerstand hervorrufen. Aufgabe einer Polizei ist es, eine solche ursprüngliche Besatzung so weit zu subtilisieren und zu etablieren, dass sie als von den Bewohner·innen eines Gebietes als erwünscht und als Garantin ihrer Freiheit wahrgenommen wird. Während das Militär zumindest in bisherigen Konflikten häufig den Krieg zwischen Staaten oder sonstigen Machtgefügen geführt hat und Gebiete neu besetzt, führt die Polizei in einem dann bereits gefestigten Staatsgefüge einen sozialen Krieg gegen die immer potenziell widerständischen Menschen innerhalb dieser Staaten.

Polizeianarchie?

da jeder nur für sich will leben,
nichts zum gemeinen nutz hingeben,
da geht zu grund all policei.
Georg Rollenhagen (1542-1609), froschmevseler.

Wenn wir Polizei als das Herstellen einer guten Ordnung betrachten, und wir davon ausgehen, dass eine Ordnung nur durch die Kontrolle über die Handlungen der in diese Ordnung eingegliederten Menschen (und anderen Lebewesen) hergestellt werden kann, dann ist natürlich auch klar, dass jeglicher Versuch, eine Ordnung jedweder Art herzustellen, beinhalten muss, das Verhalten der Menschen der erwünschten Ordnung anzupassen, es anzuordnen, also zu polizieren. Dass die Errichtung eines Gemeinwesens, einer Gesellschaft die Einrichtung einer Polizei, egal wie diese genannt werden wird, zur Folge haben wird. Dass alle Versuche und Vorschläge der Reformierung wie auch der Abschaffung der Polizei neue Polizeien errichten.

In gewissen anarchistischen Kreisen werden viele identitätsbasierte Befreiungskämpfe positiv rezipiert, die das Aufstellen „eigener Sicherheitskräfte“ als die Lösung bzw. die Alternative zur Polizei propagieren. Schillerndstes aktuelles Beispiel ist da die „Asayish“, die Institution zur Etablierung der öffentlichen Sicherheit in Rojava, die gerne als ein solches gelungenes Beispiel der „eigenen“ Sicherheitskultur beworben wird. So erklärte der Verwalter der Rojava-Asayish Ciwan İbrahim 2016, die Asayish sei eine „Sicherheitsinstitution, die sich nicht über, sondern innerhalb der Gesellschaft verorte“. Man könnte meinen Ciwan İbrahim hätte Peel gelesen, den Erfinder der britischen „Bobbies“, aber auch wenn dem nicht so ist, fällt es mir schwer irgendeinen Unterschied zum peelschen „Die Polizei ist die Öffentlichkeit und die Öffentlichkeit ist die Polizei“ oder dem deutschen „Die Polizei – dein Freund und Helfer“ zu sehen. Doch sie unterschieden sich schon von den Sicherheitskräften der Staaten, beteuert Ciwan İbrahim, denn:

Zuallerst basiert unsere Sicht auf gesellschaftlichen Problemen, nicht auf „Verbrechen und Strafe“. Was wir im Allgemeinen erreichen wollen ist nicht nur ein Individuum in einem Strafgericht zu bestrafen und so eine temporäre Lösung anzuwenden. Unser tatsächliches Ziel ist es die Ursache dieses Problems herauszufinden und sie umzudrehen, um sie ineffektiv zu machen und es zu verunmöglichen sie in ein Verbrechen umzuwandeln. Zum Beispiel wenn es ein Diebstahls- oder Schmuggeldelikt gibt, dann finden wir die Organisatoren und zerschlagen das Netzwerk.

Revolutionär neu, behauptet Ciwan İbrahim. Ich muss sagen, dass mir speziell bei diesem genannten Beispiel kein bisschen klar wird, inwiefern diese Methode sich von „kapitalistisch-demokratischen“ Polizeitaktiken unterscheidet, schließlich wäre mir neu, dass beispielsweise Interpol und jede sich mit Organisierter Kriminalität beschäftigende Polizeieinheit nicht versuchen würde, die Organisatoren ausfindig zu machen und die Netzwerke zu zerschlagen. Doch auch wenn man über dieses genannte Beispiel hinwegsieht, so ist das Ziel der Asayish, „nicht nur“ zu bestrafen, sondern auch die Grundbedingungen zur Begehung von Straftaten zu beseitigen, absolut identisch mit den Theorien zum präventiven Polizieren aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Die Behauptung Ciwan İbrahims in den kapitalistischen Demokratien gehe es um nur um das Bestrafen von „Verbrechen“, ist einfach falsch, und wie wir gesehen haben geht es im modernen Polizeiverständnis ganz viel auch darum die Bedingungen zur Begehung von Straftaten zu eliminieren.

Zur Frauen-Asayish, die als das besondere Element der Asayish propagiert wird und die sicherlich auch denen gefällt, die sich wünschen, dass „Sicherheitsteams“ von denjenigen gestellt werden, die „auf Schutz angewiesen sind“ – wie es etwa die vom ABC Wien beworbene Broschüre „Eine Welt ohne Polizei“ vorschlägt –, möchte ich gerne mal ganz ketzerisch die Geschichte von der Weiblichen Kriminalpolizei (WKP) in Deutschland erzählen: Nachdem in Deutschland bereits seit 1903 von Frauenrechtsvereinen durchgesetzte sogenannte Polizeifürsorgerinnen Prostituierte und minderjährige Straftäter betreuten, Heimeinweisungen erließen, Sozialprognosen für Straffällige erstellten und sonstige mit dem Strafvollzug zusammenhängende Sozialarbeit verrichteten – begründet mit der besseren Eignung von Frauen zum Umgang mit diesen Gruppen (Jugendliche und erwachsene Frauen) aufgrund spezifisch „weiblicher“ Eigenschaften wie Fürsorglichkeit und Mütterlichkeit und der Kritik an einem spezifisch „männlichen Blick“ auf „sittlich gefährdete“ Mädchen und Frauen –, wurde ebenfalls auf Betreiben von Feministinnen hin 1926/27 die Weibliche Kriminalpolizei eingerichtet, die – ähnlich zu der Frauen-Asayish in Rojava – überwiegend für „sittenpolizeiliche“ Aufgaben – etwa der Umgang mit Opfern sexualisierter Gewalt, Prostituierten und minderjährigen Straftätern – zuständig war. Dass Frauen keine „besseren“ Cops sind oder sonstwie die Zugehörigkeit zu einer solchen Gruppe nicht dazu führt, dass die Polizei auf einmal eine ganz andere Institution wird, wie teilweise die Forderungen danach, dass Betroffene von Diskriminierung o. ä. Polizeiaufgaben übernehmen sollen, suggerieren, zeigt nichts eindrucksvoller – auch wenn ich es eigentlich müßig finde, mir überhaupt die Mühe zu machen auf eine solch absurde Behauptung einzugehen – als die Rolle der WKP im Nationalsozialismus. Die WKP übernahm im nationalsozialistischen Deutschland rassepolitische Aufgaben, beteiligte sich an der sogenannten Bereitstellung von Judentransporten wie auch an der Errichtung nationalsozialistischer Jugendheime in überfallenen Gebieten. Die lesbische Kriminaldirektorin Friederike Wieking – in den 20er Jahren in der Berliner Frauenbewegung aktiv und ranghöchste Polizeibeamtin im Dritten Reich – trug dabei etwa ab 1941 die Verantwortung für das Jugendschutzlager Moringen und ab 1942 für das Mädchenlager Uckermark – beides KZs für Jugendliche und junge Erwachsene. Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb die WKP als Institution erhalten – Einstellungsvoraussetzung war vorher einen sozialen Beruf erlernt zu haben – und wurde in den 70er Jahren aufgelöst und in die Kriminalpolizei integriert. Beispiele wie die Asayish oder andere Sicherheitsinstitutionen solcher „revolutionärer und emanzipatorischer Befreiungsbewegungen“, die als ein völlig neues Konzept und eine reale bessere Alternative zur Polizei beworben werden, erinnern mich einfach nur daran, wie die Sowjetunion das Gulag als einen wertvollen Schritt propagierte, um dem Ziel näherzukommen Gefängnisse abzuschaffen und die Menschen durch Arbeit zum Sozialismus zu führen.

Auch gewisse Konzepte der abolitionistischen Bewegung, wie etwa Community Accountability oder Transformative Justice, werden als Alternativen zur Polizei diskutiert. Besonders im Trend liegt dabei die deutsche Variante der Community Accountability, die sogenannten „Awareness-Teams“. Auf vielen anarchistischen Veranstaltungen ist man auf einmal mit ihnen konfrontiert, während sie teilweise sogar uniformiert, etwa in rosa Hemdchen, Warnwesten oder mit lila oder sonstwie kennzeichnender Armbinde – mmh, vielleicht waren es auch Buttons gewesen – über das Gelände patrouillieren. Die Kritik, dass sie polizieren würden, wird meist damit abgeschmettert, dass ein Awareness-Team nicht genauso organisiert und strukturiert sei wie eine Polizei. Eine solche Betrachtungsweise ist allerdings oberflächlich und ignoriert die Ideen, die zur Einrichtung einer „Polizei“, wie wir sie heute kennen, geführt haben. Wenn wir das Polizieren als Handlungen verstehen, die dazu dienen das Verhalten der Menschen so weit unter Kontrolle zu bringen, dass bestenfalls nur noch erwünschtes Verhalten zutage trete, dann zeigt das gerne vorgebrachte Argument, dass Awareness-Teams noch so lange nötig seien, bis die Menschen endlich alle „reflektiert“ seien, bis es sich von selbst abschaffen würde, dass offenbar Awareness-Teams als Teil einer Infrastruktur gesehen werden, die auf das Ziel hinarbeitet alle Menschen zu „reflektieren“. Was anderes aber als das Verhalten von Individuen zu polizieren soll dieses „Menschen reflektieren“ bitte sein? Andere argumentieren, dass ein Awareness-Team nur dazu da sei, eine Ansprechstelle zu schaffen, doch damit bildet es immer noch einen Teil in der Infrastruktur zur Verhaltenskontrolle und wir wissen ja, wie eng „soziale“ und „Wohlfahrts“institutionen mit der Polizei verknüpft sind und auch die praktischen Umsetzungen solcher Awareness-Strukturen haben diese Verknüpfung bisher nur immer wieder bestätigt.

Nur weil ich etwas einen anderen Namen gebe und an den Methoden schraube, bedeutet das nicht, dass ich das, was ich vorgebe oder auch meine zu bekämpfen, tatsächlich zerstört habe. Und solange ich unbedingt einen Garten möchte anstatt eines Urwalds, werde ich ordnend eingreifen müssen, um diesen Garten zu erhalten. Deshalb sehe ich auch alle „anarchistischen“ Konzepte, die in irgendeiner Form eine Gesellschaft errichten wollen, als problematisch an, da sie immer mit dem Problem konfrontiert sein werden ihre Ordnung einführen, erhalten und verteidigen zu müssen. Den ungezähmt geborenen Menschen mithilfe von „Bildung“ zum reflektierten Menschen, der für die Anarchie bereit ist, zu erziehen, wie es einige „Transformationstheorien“ propagieren, bedeutet die Zähmung des wilden Individuums und seine Unterwerfung. Mir scheint es auch kein Wunder, dass insbesondere bei Verfechter·innen solcher „anarchistischen Utopien“ die Grenzen zwischen Basis- oder Rätedemokratie und ihrer angeblich anarchistischen „befreiten Gesellschaft“ nicht klar gezogen sind, ja teilweise auch als Synonyme oder zumindest nicht als Widerspruch zu den eigenen Ideen behandelt werden. Sowieso gibt es ja die Vertreter·innen des Anarchismus, die behaupten Anarchismus sei die „echte“ oder „radikale Demokratie“ im Gegensatz zu den heutigen kapitalistischen Demokratien, in der die Menschen sich endlich „selbst verwalten“ könnten. Doch was kann ich von einer auch radikalen Demokratie, die sich selbst verwaltet, schon erwarten als dass ich mich im Zweifel selbst poliziere, auch wenn ich nicht denke, dass es dabei bleiben wird, wenn ich mir so die Konzepte von „antifaschistischen Schutzgruppen“ („Für eine neue anarchistische Synthese!“) oder „basisdemokratisch aufgestellten Sicherheitsteams“ („Eine Welt ohne Polizei“), von Transformative Justice und Awareness-Teams so ansehe, die für im Hier und Jetzt als auch „nach der sozialen Revolution“ diskutiert werden.

Wer die Herrschaft hasst, kann die Polizei nicht „ersetzen“, sondern muss sie zerstören. Dafür muss man aber auch bereit sein die Kontrolle aufzugeben. Die Kontrolle über andere Menschen wie über andere Lebewesen. Wir brauchen den Mut im Urwald zu leben anstatt uns in unseren Garten zurückzuziehen. Das meine ich absolut wörtlich. Ein ungezähmtes, freies Leben kann es nur außerhalb von Mauern und Zäunen geben, außerhalb der Gesellschaft, außerhalb der Zivilisation stattfinden. Heißt das, Freiheit kann es nur als Einsiedler alleine in einer Höhle geben? Ich denke nicht. Jedoch können Beziehungen meiner Meinung nach nur herrschaftsfrei bleiben, solange sie direkt zueinander möglich sind und solange eine Gemeinschaft nicht über das Individuum gestellt wird. Aber heißt das denn, dass ich mir alles von anderen gefallen lassen muss? Gegenfrage: Lässt man sich nicht viel mehr gefallen, wenn man sich einer (Selbst-)Verwaltung und Gesetzen unterwirft, gebildet und mithilfe von Massenkommunikationsmitteln mit Propaganda bombardiert wird und mit einer Umgebung konfrontiert ist, die sich durch ihre „sichere Architektur“ auszeichnet und einer Ordnung zur besten Ausbeutung der sogenannten „natürlichen Ressourcen“? So wie ich mich gegen eine solche Einschränkung meiner Freiheit zur Wehr setze, kann ich doch auch meine Konflikte selbst klären, kann diejenigen bekämpfen, die meinen mich als Individuum in ihren Plänen übergehen oder zerstören zu können. Die Kontrolle anderer über mich allerdings damit bekämpfen zu wollen diese anderen zuerst zu kontrollieren, Freiheit dadurch garantieren zu wollen, dass ich die Freiheit aller einschränke, ist sicherlich keine Anarchie. Anarchie ist halt doch Chaos und eben nicht Ordnung, wie gewisse sich vor Kontrollverlust fürchtende Anarchist·innen immer versichern.

Angesichts einer solch verinnerlichten Sehnsucht nach Kontrolle über jegliches Leben und den sich immer weiter verfeinernden Technologien und Theorien zur immer weiteren Subtilisierung und Verinnerlichung dieser Kontrolle sieht es erstmal düster aus. Doch da eine vollständige Determinierung aller Handlungen eines Individuums auch bei allen Versuchen totalitärster Methoden an den Individuen selbst scheitern, die sich nicht auf Maschinen reduzieren lassen, wenn es auch noch so sehr versucht wird, kann auch das Netz der Kontrolle nie so engmaschig werden, dass kein Widerstand mehr zutage treten wird. Ein Garten bleibt nur durch die beständige Intervention des Gärtners ein Garten. Also lasst uns nicht den Garten übernehmen und selbstverwalten, sondern töten wir den Gärtner in unserem Kopf und ziehen mutig in die Wildnis. Denn wie es Helfrich Sturz bereits im 18. Jahrhundert erkannte:

der policierte mensch ist … nicht so zufrieden mit seinem zustande als der wilde.

Endnoten

[1] Historisch war der Abolitionismus eine Bewegung, die sich für die Abschaffung der Sklaverei einsetzte und war unter anderem in den USA sehr stark. Mit Abschaffung der Sklaverei kämpften Abolitionist·innen in den USA weiter gegen die Unterdrückung der Schwarzen. Ein Fokus liegt dabei auf der Kritik am Knast, denn dort wird die Sklaverei häufig durch Zwangsarbeit ohne oder gegen geringfügigsten Lohn fortgeführt, insbesondere an Schwarzen, die in den USA (nicht nur da) überproportional oft im Gefängnis sitzen.

[2] [UPDATE] ABC Wien hat die genannte Broschüre inzwischen von ihrer Webseite gelöscht.


Spannende Lektüren bei Entstehung dieses Textes
  • „What is Policing?“ in: The Master’s Tools: warfare and insurgent possibility
  • „Good cop bad cop“ in: Cop-out. The significance of Aufhebengate
  • „Policing on the Global Scale. On the Relationship Between Current Military Operations, Crowd Control Techniques, the Technologies of Surveillance and Control and Their Increasing Intrusion into our Daily Lives“
  • „Ich will Bullen töten, bis ich selbst sterbe. Für die Annihilation der Polizei und die Zerstörung der Menschheit“
  • „Nicht Freund, nicht Helfer – Feind!“ in: Yegussa
  • „I survived Awareness“
  • „The Continuing Appeal of Nationalism“
  • „Fragmentarische Notizen gegen die Justiz“
  • „Der Einzige und sein Eigentum“

Übernommen von Zündlumpen #083.

Beim Maschinenstürmer Distro ist dieser Text kürzlich auch als Broschüre erschienen.

Fragmente für einen aufständischen Kampf gegen den Militarismus und die Welt, die ihn benötigt

Die Anarchisten sind schliesslich gegen den Antimilitarismus (oh weh, da habt ihr den Versprecher, seht, ein Versprecher passiert nie völlig zufällig, tatsächlich sind die Anarchisten auch gegen eine gewisse Art von “Antimilitarismus”). Wie auch immer, um unangenehme Missverständnisse zu vermeiden, lasst uns versuchen, deutlicher zu sein. Ich korrigiere mich: die Anarchisten sind gegen den Militarismus. Daran besteht kein Zweifel. Sie sind gegen den Militarismus, und dies nicht im Namen von einer einstimmigen pazifistischen Auffassung. Sie sind vor allem gegen den Militarismus, weil sie eine andere Auffassung des Kampfes haben. Das heisst, sie haben nichts gegen Waffen, sie haben nichts gegen das Konzept der Verteidigung vor der Unterdrückung. Aber sie haben hingegen viel gegen einen bestimmten, vom Staat gewollten und befehligten, und von den repressiven Strukturen organisierten Gebrauch der Waffen. Sie haben viel einzuwenden gegen einen militärischen Gebrauch der Waffen. Während sie aber einverstanden sind, oder zumindest in ihrer überwiegenden Mehrheit einverstanden sind, mit dem Gebrauch der Waffen gegen den Unterdrücker, mit dem Gebrauch der Waffen gegen jene, die unterdrücken und ausbeuten, mit dem Gebrauch der Waffen in einem Befreiungskrieg. Mit dem Gebrauch der Waffen gegen bestimmte Personen, gegen bestimmte Realisierungen der Ausbeutung.

Es ist also falsch, zu sagen: „Die Anarchisten sind Antimilitaristen, was das gleiche ist, wie zu sagen, dass sie Pazifisten sind”. Die Anarchisten sind nicht gegen den Militarismus, weil sie alle Pazifisten wären. Sie haben nichts gegen das Symbol der Waffe, und ebenso wenig können sie eine Verurteilung des bewaffneten Kampfes im Generellen akzeptieren, um hier diesen streng technischen Begriff zu gebrauchen, der eine ausgedehnte Betrachtung verdienen würde. Sie sind hingegen völlig einverstanden mit einem bestimmten Gebrauch der Waffen: Welchen? Jenen, bei dem diese Gegenstände gebraucht werden, um sich zu befreien, da keine Befreiung auf friedliche Weise möglich sein wird. Denn jene, die die Macht besitzen, werden nie so höflich sein, sich in aller Seelenruhe beiseite zu stellen, ohne Widerstand zu leisten und ohne zu versuchen, diese um jeden Preis zu erhalten.

Aus Alfredo Bonanno. »Wie ein Dieb in der Nacht.«

Was ist Krieg? Was ist Militarismus?

Über die unterschiedlichen Epochen haben sich Kriege auf verschiedene Arten und Weisen geäußert. Einige (frühe) Eroberungsfeldzüge, bei denen sich eine zivilisatorische Imperialmacht bisher nur von staatenlosen Gemeinschaften bewohnte Gebiete einverleibt, mögen dabei zumindest seitens der staatenlosen Gemeinschaften anders geführt worden sein, als jene Kriege in denen die Armeen von Monarchen, Aristokraten, Kauf- und Geschäftsleuten, Kirchen oder Nationalstaaten aufeinandertreffen. Möglicherweise haben sie sogar mehr mit bestimmten modernen Formen des Krieges gemein, auf die ich noch zurückkommen werde. Vorerst will ich die Frage danach, was Krieg und Militarismus ist jedoch ausgehend von jenen althergebrachten Konflikten unter den Herrschenden beantworten, in denen sie ihre Armeen aufeinander hetzen, um irgendwelche Herrschaftsansprüche zu klären oder gar persönliche Streits auszutragen.

Der Fürst, der eine eigene Armee befehligt etwa, er mag mannigfaltige Gründe haben, um gegen die Armee eines anderen in den Krieg zu ziehen. Vielleicht wurde er gedemütigt, vielleicht buhlt er damit um die Liebe einer Prinzessin, bzw. vielmehr die Anerkennung und Gunst ihres Vaters, vielleicht behagt ihm der Verlauf einer seiner Reichsgrenzen nicht und er möchte sie ein Stück nach außen verschieben, vielleicht will er einen Schatz erobern oder sich das Recht zur Ausbeutung weiterer Bauern sichern. Manchmal trachtet er einem anderen, höherstehenden Fürsten nach dessen Position, manchmal mag er auch eine Eingebung Gottes gehabt haben oder irgendeinen Mythos allzu ernst genommen haben. Egal was sein Grund ist: Für seine Untertanen und Söldner dürfte dies schwerlich Grund genug sein, ihr Leben und ihre Unversehrtheit für ihn und seine Sache zu geben. Es mag vielleicht sogar den einen oder anderen Untertan geben, der zwar ebenfalls nicht für des Fürsten Sache in den Krieg zieht, allerdings die eigene Sache (einen höheren Posten, einen Anteil der Beute, usw.) mit der des Fürsten verbunden betrachtet. Die Zahl solcher Untertanen wird aber immer gering sein und wie auch der Fürst sind sie selbst ebensowenig bereit, ihren eigenen Kopf hinzuhalten, wenn Schwerter auf Schilde prallen, Pfeile Rüstungen durchbohren und Lanzen an dem zerbersten, was vielleicht einmal der unversehrte Leib eines Menschen gewesen sein mag.

Um eine Armee aufzustellen muss sich der Fürst also etwas einfallen lassen, wie er das Interesse irgendwelcher Untertanen – es müssen ja auch nicht notwendigerweise die eigenen sein – wecken kann, den ihnen zugedachten Platz im Gemetzel einzunehmen und dort – wenn es sein muss – bis zum bitteren Ende zu bleiben. Eine einfache Möglichkeit, dieses Interesse zu wecken besteht darin, seine Krieger*innen zu bezahlen. Der Fürst nennt diese Söldner und er weiß um das Problem, dass diese wankelmütig sein werden. Schließlich hat er sie nur durch Bezahlung oder das Versprechen einer Bezahlung – manchmal auch durch das Versprechen eines Anteils einer reichen Beute, ein äußerst gewiefter Trick, weil er auch gleich das Interesse des Söldners siegreich zu sein weckt – dazu bewegen können, ihm zu dienen. Und der Fürst weiß, dass nicht nur er Geld besitzt, sondern auch sein Feind. Auch kommt es nicht selten vor, dass Söldner angesichts einer feindlichen Streitmacht oder während der Schlacht mit ihr mitsamt ihrem Sold und den an sie ausgegebenen Waffen desertieren, dass sie sich als kampfuntauglich erweisen oder dass sie sich überhaupt weigern, etwas zu tun, wofür sie ihrer Auffassung nach nicht genügend Sold erhalten haben. Söldnerheere sind deshalb nicht besonders beliebt bei unserem Fürst. Das sogenannte Lehnssystem ist ein Versuch, diese rein monetäre Bindung der Söldner um eine Abhängkeit der fortan Vasallen genannten Untertanen zu ersetzen. Im Austausch für das Recht, selbst einmal Despot zu sein und einen kleinen Teil der Ländereien des Fürsten zu verwalten, die darauf lebenden Bauern zu knechten und einen gewissen sozialen Status zu erlangen, leistet der Vasall seinem Fürsten, dem Lehnsherren alle möglichen Dienste, vor allem zieht er für ihn in den Krieg – und verpflichtet auch einige seiner Untertanen dazu. Was der Söldner für das bisschen Sold, das er bekam nicht zu tun bereit war, das tut der Vasall, dieser edle Ritter, nun mit Freuden im Austausch für etwas noch viel schmutzigeres: Eine schmucke Rüstung und eine Position in der Verwaltung des Reiches seines Fürsten. Der Militarismus ist geboren.

Der fortan gepanzerte Vasall wird im Gegensatz zum Söldner nie wieder in der Lage dazu sein, seine eigene Sache zu vertreten, denn wenn er von einem langen, ermüdenden und kräftezehrenden Feldzug an die heimische Feuerstelle zurückkehren wird, dann wird er sich dort um die Verwaltung des Reiches seines Lehnsherren kümmern, er wird den Bauern auf dem von ihm verwalteten Land Steuern abpressen, wird die nötige Bürokratie erledigen und sich auf die nächste Schlacht vorbereiten, denn nach dem Krieg ist für ihn vor dem Krieg. Er mag glauben, dass es seine Sache wäre, für die er hier eintritt, aber er wird zeitlebens höchstens ein betrogener Egoist bleiben.

Sein Lehnsherr dagegen, unser Fürst, er reibt sich in seiner Burg, seiner Pfalz oder seinem Schloss die Hände und stößt auf seinen cleveren Einfall an. Nicht nur, dass er sich fortan nicht mehr darum zu kümmern braucht, seine Ländereien zu verwalten, er kann nun wann immer er will, Kriege führen und seine Vasallen werden ihm beinahe bedingungslos folgen. Schnell werden diese Vasallen, der sogenannte Schwertadel, Untervasallen einsetzen und diese wiederum Untervasallen. Die dabei entstehenden Hierarchien ermöglichen nicht nur die Verwaltung schnell wachsender Reiche, sondern bestimmen auch die Heeresordnug und sichern funktionierende Befehlsketten. Denn nicht nur im Krieg werden Gehorsam und vor allem Disziplin fortan die wichtigste Tugend eines Untertanen sein, auch in Friedenszeiten wird diese militaristische Tugend beständig eingeübt, wenn die Vasallen ihren jeweiligen Herren im zivilen Staatsleben dienen.

Diese militaristische Ordnung bleibt trotz zahlreicher Machtstreitigkeiten, Intrigen und Putsch(versuche) solange bestehen, bis eine neue Klasse nach der Macht greift und dieses System von außen stürzen wird: Das Bürgertum. Spätestens nachdem in Frankreich die Köpfe des Adels rollen, bedarf es auch einer Umstrukturierung des Militärs. Ein sich zur neuen Oberklasse erhobener Mittelstand kann freilich nicht die militärischen Dienste des Adels für sich in Anspruch nehmen und ohnehin wäre dessen Treue nun nicht mehr gesichert, wo wir es nicht länger mit kleinen Despoten in der Gunst eines befehlshabenden Fürsten zu tun haben. Das Bürgertum bedient sich weiterhin der militaristischen Logik, benötigt nun aber neue Untertanen, die für ihre Sache streiten werden. In Frankreich und den USA und später auch in der gesamten westlichen Welt entstehen die ersten Nationen und es wird der Mythos einer nationalen Einheit, der Nationalismus sein, der fortan die Untertanen für die Sache der Herrschenden in den Krieg mobilisieren wird. Können die Vasallen noch als betrogene Egoisten gelten, weil sie geglaubt haben mögen, dass sie für ihre eigene Sache, d.h. für ihre Macht, ihren Einfluss und ihren Status in die Schlacht zogen, so gelingt es dem Bürgertum jeglichen Egoismus im Militärwesen auszurotten. Man zieht fortan für eine fiktive, aber einem eigen geglaubte Nation, fürs Vaterland, in den Krieg, ist bereit, sich fürs Vaterland das halbe Gesicht wegschießen zu lassen, Gliedmaßen weggesprengt zu bekommen oder später auch Giftgas zu inhalieren. Die verwalterische Teilhabe an der Herrschaft, die die Disziplin der Vasallen auch in Friedenszeiten sicherte, entfällt und wird durch etwas viel schrecklicheres ersetzt: Fabriken. Im Takt der Maschine zu funktionieren, das wird fortan die nötige Disziplin des Marschierens im Gleichschritt in Friedenszeiten pflegen. Und während die Vasallen in Friedenszeiten gewährleisten mussten, dass sie allzeit genügend Kriegspferde zur Verfügung hätten, produziert die neue Unterklasse, das sogenannte Proletariat, in den Fabriken schnell auch in Friedenszeiten das Kriegsgerät, mit dem es im Kriege verstümmelt werden wird.

Die organisatorischen zivilen Hierarchien, die in der bürgerlichen Demokratie formell aufgelöst wurden, die aber im Kriege funktionierende Befehlsketten garantierten, werden in den Fabriken eintrainiert, die nicht zufällig nach einer militaristischen Logik organisiert sind. Auch wenn die meisten heutigen Staaten ein stehendes Berufsheer besitzen, das unter diesem Gesichtspunkt betrachtet vielleicht mehr dem Söldnerwesen gleichen mag, das ohnehin nie völlig verschwunden war – Söldner-Hilfstruppen waren oft einfach notwendig, um genügend Soldaten aufbieten zu können –, so zeigen doch die Erfahrungen der Weltkriege, sowie der Kriege der jüngeren Vergangenheit, dass eine Mobilisierung der Arbeiter*innen nicht nur notwendig ist, sondern dank der allgemeinen militaristischen Disziplin und dem antrainierten Gehorsam auch allzu gut funktioniert.

***

Aber das Zeitalter der Kriege der Nationen, es scheint sich dem Ende zuzuneigen, ja bis auf wenige Ausnahmen bereits vorbei zu sein. Spätestens mit dem Ende des kalten Krieges haben sich die zwei verbliebenen, militärisch-imperialen Fraktionen in eine internationale Staatengemeinschaft integriert, in der Konflikte weniger über herkömmliche territoriale Kontrolle, sondern zunehmend über Ansprüche auf Ressourcen und weltpolizeiliche Uneinstimmigkeiten entstehen. Das heißt freilich nicht, dass es keine Kriege mehr gäbe. Aber wir müssen unser Verständnis von Krieg aktualisieren, wenn wir heutige Militäroperationen ausreichend verstehen wollen.

Die Kadaver der nationalen Armeen, sie bestehen zwar aus einer Reihe nostalgischer Gründe weiter, werden jedoch in Militärbündnissen wie der NATO zu einem neuen Militär zusammengeschweißt und in internationalen Interventionseinheiten wie den UNO-Blauhelmen für vorrangig weltpolizeiliche Missionen eingesetzt, die der Sicherung von Rohstoffen dienen. Obwohl das internationale Kapital auf dieses staatlich organisierte Militär beinahe beliebig zugreifen kann, stellt es in verschiedenen Teilen der Welt zunehmend auch eigene Sicherheitstruppen auf (beispielsweise in Südamerika), die dort den Ausbau einer extraktivistischen Infrastruktur überwachen und Widerstand dagegen niederschlagen. Wo allerdings der Haupteinsatzzweck eines zunehmend internationaleren Militärs die Niederschlagung von Aufständen, die Intervention in Bürgerkriege und der Schutz wirtschaftlicher Interessen der Kapitalistenklasse ist, da bröckeln auch die nationalistischen Mobilisierungsstrategien. Auch wenn sich offenbar noch immer jede Menge Nazis in den Reihen des Militärs tummeln, die dort ihre Sehnsucht stillen, ihrem Vaterland zu dienen, lässt sich eine Mehrheit der Menschen nicht länger so plump täuschen. Anstatt feindlicher Nationen bedarf es in Zeiten globaler Völkerverständigung und internationaler Staatengemeinschaft nun eines neuen Feindes, gegen den wenigstens die Sympathien der Menschen für die Streikräfte ihres Landes erweckt werden können. Und in Zeiten, in denen das internationale Militär den Einsatz im städtischen Raum trainiert, in denen Bürgerkriegsszenarien und Aufstandsbekämpfung vom Militär eingeübt werden, da ist es auch erforderlich, dass sich dieser Feind unter der Bevölkerung versteckt.

Der Feind heißt spätestens seit 2001, aber nicht erst seitdem, internationaler Terrorismus. Und es ist vermutlich ein genialer Schachzug, dass er so ohne weiteres kaum auszumachen ist. Bereits zuvor erprobte rassistische Motive lassen sich gegen ihn ebenso mobilisieren, wie ordnungspolitische Ängste vor einer anarchistischen oder anderweitig subversiven, aufständischen Verschwörung, die Chaos in eine gleichgeschaltete und im Gleichschritt getaktete Welt bringt. Und natürlich lassen sich Revolten in der Dritten Welt, in denen die Versklavten gegen ihre Ausbeuter*innen aufbegehren, ebenso leicht zu Terrorismus erklären, wie das Regime eines Landes, das sich weigert den Ölinteressen eines Imperiums zu entsprechen.

Wie viele US-Amerikaner*innen können sich mit denen identifizieren, die unter den beiden Bürotürmen des Welthandels begraben worden sind, wie wenige waren es im Vergleich mit den Toten des Afghanistan- und Irakkriegs? Und doch genügt dieses Ereignis und dessen propagandistische Ausschlachtung nicht nur zahlreiche US-Amerikaner*innen, sondern auch unzählige Europäer*innen gegen etwas zu mobilisieren, das es so vermutlich gar nicht gibt, bzw. das rückwirkend betrachtet überhaupt erst durch diese Kriege entstanden ist. Aber der „Krieg gegen den Terror“ hat nicht nur in den entlegenen Regionen der Weltmächte Kriege gegen ein Gespenst ausgelöst, sondern auch eine Kriegsführung gegen die eigenen Bevölkerungen in den Metropolen der Macht begründet. Fortan ist jede*r Bürger*in potenzielle*r Terrorist*in. Und zwar in dem Grade, in dem er*sie „arabisch“ aussieht, muslimischen Glauben praktiziert oder anderweitig rassifiziert werden kann. Die seit 2001 frei drehende US-Flugsicherheitsbehörde TSA etwa ist der Überzeugung Terrorist*innen nicht nur an althergebrachten Rassemerkmalen wie Hautfarbe oder Kopfform zu erkennen, sondern auch an der spezifisch-terroristischen Barthaartrimmung.

Der Krieg gegen internationalen Terrorismus ist auch in Europa die ultimative rassistische Argumentationsstrategie gegen Migration geworden. Wer aus den Kriegsgebieten dieser Welt in Richtung der wohlhabenderen Metropolen flieht, könnte ja ein*e Terrorist*in sein. Wer dagegen in den Metropolen ausrastet und Amok läuft, der*die bleibt der verhältnismäßig harmlose, irregeleitete Amokläufer aus der Nachbarschaft. Ich muss hier sicherlich nicht alle Aspekte der Angst vor dem Terrorismus erläutern, sie dürfte den meisten Leser*innen nur allzu präsent, ihre gezielte Schürung und anschließende Instrumentalisierung durch die Politik in Form von technologischer Aufrüstung der Polizei – die mittlerweile Panzer fährt und Handgranaten zu ihrem Arsenal zählen darf – und des Militärs, sowie ein Ausbau der Grenzregime, ganz besonders in Europa, noch in Erinnerung sein.

Es lässt sich festhalten, dass das Gespenst des Terrorismus, wie es uns heute durch die gehirngewaschenen Köpfe spukt, das ideale und mit großem Aufwand produzierte Feindbild ist, um die Militärstrategien zu legitimieren, die von einem zunehmend global aufgestellten Militär zur Sicherung eines weltumspannenden Imperiums trainiert werden.

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Doch auch dieses modernisierte Verständnis von Krieg muss dieser Tage überdacht werden, erleben wir doch seit mittlerweile mehr als einem Jahr eine neue Form des Kriegs, genauer gesagt, des Bürgerkriegs. Der Terrorismus, er ist weithin obsolet geworden, füllt höchstens noch die Randspalten der Tageszeitungen. Stattdessen füllt ein anderer, noch fiktiverer Feind, die Schlagzeilen: Covid-19. Dieser unsichtbare Superterrorist, der die Menschen unsichtbar und hinterhältig heimsucht, der hinter jeder Brührung, was sage ich, hinter jeder Begegnung, lauert, er ist der ultimative Feind und seine Bekriegung, sie erfordert eine ganz besondere Form der Massenmobilisierung: Die Mobilisierung zur Abwesenheit. Der moderne Kriegsheld, er – oder sie, diese moderne Armee hat nun wirklich jegliche Geschlechterunterschiede überwunden – lümmelt sich zuhause auf dem Sofa, frisst Junkfood in sich hinein und verfolgt gespannt den minütlich über alle Bildschirme flimmernden Frontbericht. Und auch wenn dort mittlerweile längst keine Toten mehr gezählt werden, sondern nur mehr noch von einer wenig aussagekräftigen „Inzidenz“ die Rede ist, fiebern die kriegsbegeisterten Massen noch immer mit. Und alle anderen? „Die Beste Medizin heißt Disziplin“, so oder so ähnlich lautet der Slogan einer der jüngsten Werbekampagnen der Bundesregierung, mit der die Nation zum „Durchhalten“ aufgefordert wird. Und Disziplin ist wahrhaft vonnöten, um als Soldat*in in diesem Krieg zu kämpfen. Der klassische Krieg kannte von Zeit zu Zeit wenigstens einen „Fronturlaub“, ebenso wie wenigstens ein Teil der Bevölkerung gar nicht in den Krieg zu ziehen brauchte, der moderne Virenkrieg dagegen rekrutiert die gesamte Bevölkerung und kennt höchstens eine „Lockerung der Maßnahmen“ und selbst dabei fragt sich die*der aufmerksame Beobachter*in, wie es kommt, dass eine immer weiter verschärfte Maßnahmensituation (Lockdown und Kontaktbeschränkungen sind eigentlich die ganze Zeit geblieben und zuletzt noch um Ausgangssperren erweitert worden) doch immer wieder als „Lockerung“ verkauft werden kann.

Und wer nun aufrichtig behaupten wird, die Kriegsrhetorik bisher nicht bemerkt zu haben und folglich der Ansicht sein mag, dass es sich hier überhaupt nicht um einen Krieg handele, die*der möge mir vielleicht erklären, wie es kommt, dass außgerechnet Rheinmetall und andere Rüstungskonzerne Corona-Schutzmasken produzieren.

Aber es ist freilich nicht bloß die Kriegsrhetorik, sozusagen zum guten Zweck (was auch immer das wäre), mit der wir es hier zu tun haben. Wem auch immer das entgangen sein mag, den*die erinnere ich gerne noch einmal daran, dass wir uns in einem globalen Ausnahmezustand befinden. Ein Ausnahmezustand, der nicht nur die zuvor bestehenden, nationalen Grenzen schloss, sondern der auch ganz neue Grenzregime errichtet hat. Ob globales Freiluftgefängnis (wobei „Freiluft“ mittlerweile als allzu optimistisch entlarvt wurde) oder das von einem philosophierenden Demokraten aufgestellte „Lager als Nomos der Moderne“, das heute gar nicht mehr besonders philosophisch zu sein scheint, die momentane Realität hat etwas von beidem. Auch wenn das Quarantäne-Gefängnis (meist) keine Fenstergitter und Stacheldrahtzäune mehr kennt, sondern hier und da mit elektronischen Fußfesseln auf modernere Instrumente der Einsperrung zurückgreift und anderswo in einem gigantischen Selbstversuch die noch modernere Form der Selbsteinsperrung testet, das Risikogebiet-Lager (oft – es gibt durchaus Ausnahmen) keine allzu festen Grenzen kennt, keine Einzäunung und Flüchtende meines Wissens nach zumindest in Deutschland – Vorfälle in direkten Nachbarstaaten und anderswo auf der Welt stellen das natürlich auch für hier in Aussicht – bisher nicht von Wärtern erschossen wurden, so muss einem die Corona-Maske doch gehörig die Sinne vernebelt haben, wenn man diese Analysen noch immer zurückweist. Dazu kommen jede Menge neuer Papiere, vom Passierschein in Form eines negativen Coronatests und einer Bescheinigung des Arbeitgebers bis hin zum internationalen Ausweisdokument eines elektronischen Impfpasses. Greencard wird das zuweilen unkritisch von der Kriegspropaganda genannt.

Aber während an all den neuen Grenzen wenigstens vorerst noch nicht allzu oft geschossen wird, Grenzübertritte je nach Person und Situation auch einmal geduldet werden und die Bullenschweine immerhin metaphorisch auf 1,5 Meter Abstand bleiben, hat sich die Situation an den Nationalstaatsgrenzen, sowie ganz besonders an den europäischen Außengrenzen noch einmal dramatisch verschärft. Die Situation in den noch viel realeren Lagern vor dem Festland, die weder des Stacheldrahts, noch den scharf schießenden Wachen entbehren, sie verschärft sich immer mehr. Und die ohnehin immer nur humanistische Hilfe der Linken… Sie befindet sich im Lockdown. Meist aus Überzeugung. Als im letzten Jahr die Bilder des brennenden Morias einen Funken Hoffnung aufkeimen ließen, da forderten die Linken ein neues, hygienischeres Lager. Aber was hat das mit dem Krieg zu tun? Leider eine ganze Menge, beweist es doch, dass es in Deutschland erstmals in der Geschichte eine spezifisch Linke Armee gibt. Jene, die früher den „Dienst an der Waffe“ ablehnten und im Zweifel lieber „Zivilidienst“ verrichteten, man hat sie auf ihrem ursprünglichen Metier rekrutiert: In den Krankenhäusern und Pflegeheimen, eben dort, wo man schon früher lieber Patienten den Hintern abwischte, anstatt sich die Waffe aushändigen zu lassen und zu desertieren. Und folglich ist es heute auch nicht das Sturmgewehr, mit dem die Corona-Avantgarde in die Schlacht zieht, sondern die – nur für die größten Idioten harmloser wirkende – Spritze. Das bevorzugte Werkzeug des „Todesengels“, möchte man da fast einwerfen.

Was bedeutet das also für ein anarchistisches Verständnis von Krieg? Fest steht: weniger moderne Formen des Kriegs sind mit diesem modernen Krieg ebensowenig ausgestorben, wie der Krieg gegen den Terrorismus die althergebrachten Staaten- und Bürgerkriege nicht obsolet gemacht hat. Der Virenkrieg, auch wenn einem eigentlich unmissverständlich seine Kriegspropaganda ins Auge springen muss, er wird von vielen gar nicht als Krieg wahrgenommen. In Tradition des Anti-Terror-Kampfes, des „Friedenseinsatzes“ von Blauhelmen und dem „diplomatischen Wert“ der Atombombe verspricht der Virenkrieg ebenfalls Frieden oder schlimmer noch, Gesundheit. Und er scheint dieses Narrativ dadurch sogar zu perfektionieren. Die militaristische Logik der Disziplin, die derzeit jeglichem sozialen Leben auferlegt wird, die irrationale und willkürliche Reglementierung aller sozialen Beziehungen außerhalb der bereits seit Ewigkeiten institutionalisierten Beziehungen der Familie, sie dienen der Rekrutierung einer Armee von Moralist*innen und Denunziant*innen, die fortan effizienter als jede Polizei Delinquent*innen disziplinieren und verfolgen soll.

Der moderne Krieg, er wird also nur noch in den Peripherien mit Waffengewalt ausgetragen, er gibt nur noch die „Unbelehrbaren“, die „Terrorist*innen“, die „Verbrecher*innen“, usw. der vernichtenden Gewalt von Armeen preis und zieht es selbst bei diesen vor, sie zu verhaften, einem Gericht vorzuführen und ins Gefängnis – oder in ein Lager – sperren zu lassen. Unterdessen jedoch kennt er zunehmend weniger eine Unterscheidung zwischen Territorien des Friedens und jenen des Krieges. Ist es die Polizei, die sich zunehmend die Strategien des Militärs aneignet oder ist es vielmehr das Militär, das selbst in den Gebieten des Krieges eine polizeiliche Logik verfolgt? Ich denke schon diese Frage offenbart einen gewaltigen Irrtum: Polizei und Militär sind in Wahrheit ein und das selbe; sind es möglicherweise immer schon gewesen. Die Propaganda des modernen Rechtsstaats mag hier naheliegenderweise ein anderes Bild zeichnen, aber ebenso wie der Krieg von manchen immer schon als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln betrachtet wurde und wieder andere zu dem Schluss kamen, dass umgekehrt, die Politik die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln sein müsse, unterscheidet sich die Polizei vom Militär ebenfalls höchstens in den angewandten Mitteln und selbst hier hat die Entwicklung moderner Kriegstechnologien und eine jüngere, militärische Aufrüstung der Polizei diese Unterschiede zunehmend verwischt.

Falsche Verbündete im Kampf gegen den Militarismus

Man muss nicht auf das Manifest der Sechzehn zurückgreifen – in welchem bekannte Anarchisten dazu aufriefen, sich dem Lager Frankreichs wegen seiner revolutionären Tradition anzuschließen und gegen den kaiserlichen Absolutismus Deutschlands zu kämpfen – um angesichts des Krieges Beispiele für den kompletten Verlust der Orientierung und des Gespürs für die involvierten Interessen seitens der Anarchisten zu finden. Der Großteil des heutigen „antifaschistischen“ Diskurses reproduziert im Miniaturformat die gleichen Fehler und spiegelt die Ideen des in den 70er Jahren weit verbreiteten „Antiimperialismus“ wieder: Demokraten vs. Faschisten hier, Staaten der Dritten Welt gegen Staaten des Westens dort. In jüngster Zeit akzeptieren die Unterstützer des Kampfes gegen „den Faschismus“ der Dschihadisten in Syrien sogar die Streitkräfte der US-Luftwaffe im eigenen Lager. Eine Position die bereits während jenes Krieges präsent war, welcher zum Zerfall des ehemaligen Jugoslawien in den 90er Jahren führte. In gleichem Maße verteidigen viele mit gerümpfter Nase die internationalen Interventionen, um die Grausamkeiten einzudämmen, die während der „Bürgerkriege“ in vielen afrikanischen Ländern begangen wurden (bevorzugt die Interventionen der Blauhelme, welche weniger Ablehnung provoziert als die der französischen Fremdenlegion oder die einer Koalition der NATO). Heutzutage hat es fast den Anschein, dass die westlichen Armeen eher freiwillige Rekruten einsetzen, anstatt einer Massenrekrutierung, um ihre Drecksarbeit durchzuführen. Sprich, der einzige Faktor der uns davor verschont zu sehen, wie Libertäre sich in die Armeen einreihen, um die „Bösen“ zu bekämpfen, die noch stärker konter-revolutionär sind, als die Anhänger der kommerziellen Demokratie.

Aus Die Reihen Durchbrechen. Gegen den Krieg, Gegen den Frieden, für die soziale Revolution.

Man sollte meinen, das erübrige sich zu bemerken, dass ein Staat niemals ein Verbündeter im Kampf gegen den Militarismus sein könne. Und doch scheinen vergangene und jüngere Parteinahmen von Antimilitarist*innen dringend einer solchen Klarstellung zu bedürfen. Und wenn ich in diesem Kontext Staat sage, so meine ich auch jede militaristische Bestrebung mit der Absicht, einen Staat zu gründen oder anderweitig staatliche Aufgaben zu übernehmen. Was aus einer antimilitaristischen Perspektive, so wie ich sie verstehe, mindestens unlogisch erscheint, lässt sich mit einer anarchistischen Perspektive dagegen überhaupt nicht vereinbaren. Was sich bereits früher in Solidaritätsbewegungen mit dem bolschewistischen Regime, der Fatah und Hamas oder in der Kuba-Solidaritätsbewegung beobachten ließ, findet seinen Ausdruck dieser Tage beispielsweise bei jenen, die buchstäblich die Fahnen von YPG und YPJ schwenken. Schöne Anarchist*innen und Antimilitarist*innen sind das, die da die Banner militärischer Verbände spazieren tragen, die Verhaftungen durchführen, Gefängnisse und Lager betreiben und von ihren Söldner*innen die militaristische Disziplin des Tötens auf Befehl einfordern.

Aber es ist weniger interessant, die Tatsache, dass dies so ist, festzuhalten, sondern weitaus spannender ist doch die Frage des Warum? Wie kommt es, dass unverhohlen militaristische und autoritäre Organisationen schließlich von ihren eigentlichen Gegner*innen verteidigt werden als „geringeres Übel“ – was noch die ehrlichste Betrachtungsweise ist – oder gar als „Notwendigkeit“ im Krieg gegen den imperialistischen Militarismus. Dass der Antimilitarismus hier als eine Mobilisierungsstrategie für den Militarismus dient, mag wie eine grausame Ironie erscheinen, ich unterstelle jedoch, dass hier vielmehr jene Rekuperationen des Antimilitarismus sichtbar werden, die die Abwesenheit von Krieg, die Ordnung des sozialen Friedens und die repressive Kontrolle über jegliche diese Ordnung störenden Tendenzen zum Ziel eines jeden Antimilitarimus umzudeuten versuchen. Dies mag vielleicht auch das Ziel eines humanistischen, kommunistischen oder demokratischen Antimilitarismus sein, als Ziel eines anarchistischen Antimilitarismus scheint es mir jedoch völlig unzureichend. Spannend finde ich am aktuellen Beispiel der Rojava-Solidarität, die auch unter Anarchist*innen, wenn sie nicht gar unkritisch übernommen wird, so doch weitestgehend unkommentiert bleibt, wie eine bestimmte Art und Weise der Argumentation reproduziert wird, die umgekehrt bei einer staatlichen, kapitalistischen oder nationalistischen Legitimation von und Propaganda für Militarismus zu Recht kritisiert wird. Es ist das Narrativ einer nationalen Verteidigung – auch wenn dieses nationale Motiv vielleicht verschleiert werden mag und sich teilweise hinter identitätspolitisch ansprechenderen Begriffen wie „Frauenrevolution“ (jaja, das Ziel 40% der Posten mit Frauen besetzen zu wollen und die gezielte Präsentation weiblicher Militärs durch die Propaganda scheint da heute bereits zu genügen) oder „ökologischer Revolution“ verbirgt – gegen einen im Anmarsch befindlichen Feind. Ein Narrativ, das sofortige „Lösungen“ verlangt, die oberste Priorität haben und denen folglich alles andere untergeordnet werden muss und wird. Dieses Narrativ dient nicht nur der Legitimation einer Miliz, sondern es soll auch all das Übrige rechtfertigen, was vielleicht durch die Propaganda der neuen Verwaltung anders versprochen wird, in der Praxis jedoch entsprechend autoritär daherkommt. „Noch keine Zeit gehabt, sich darum zu kümmern.“ Eben ganz die Propaganda, derer sich auch etablierte Staaten bedienen, wenn sie im Kriegszustand die Arbeiter*innenschaft zu persönlichem Verzicht zugunsten der Interessen der Nation aufrufen und zugleich die militärischen Operationen im In- und Ausland als dringlich, alternativlos, sowie als Grundvoraussetzung für eine Bearbeitung des entsprechenden Problems in der Zukunft darstellen.

Es mag vielleicht überraschen, dass gerade eine antimilitaristische Bewegung dieses Narrativ nicht als ein klassisches Stilmittel der Kriegspropaganda erkennt und man könnte sicher noch seitenlange Überlegungen niederschreiben, warum das so überraschend vielleicht gar nicht ist. Aber ich will stattdessen zum eigentlichen Thema dieses Textes zurückkommen: Wie könnte eine aufständische Perspektive aussehen, die nicht nur den Militarismus des türkischen Regimes, den der NATO und den des IS angreift, sondern die sich eben auch gegen den Militarismus von YPG und YPJ und ihrer sozialdemokratischen bis leninistischen Parteien, der PYD und der PKK, sowie überhaupt gegen jede Herrschaft, auch gegen die dessen, was Demokratischer Konförderalismus genannt wird und sowieso nur in den Augen eines Trotzkisten, der sich kurzerhand zum Anarchisten erklärt hat, als anarchistisch im Sinne des Begriffs gelten kann, richtet?

Fluchtpunkte einer antimilitaristischen Praxis des Angriffs

(i) Die Kriegsproduktion

Jüngere antimilitaristische Kampagnen, die im Burgfrieden dessen, was manchmal die „Festung Europa“ genannt wird, agierten, haben die Produktion von Waffen, Munition und sonstigem Kriegsgerät als ein Feld der Intervention für sich entdeckt. Wenn der aus dieser Produktion stammende Nachschub die Frontlinien des Krieges, die sich anderswo auf der Welt befinden, nicht mehr erreicht, so würde auch der Krieg zum Erliegen kommen. Und tatsächlich: Ohne eine ununterbrochene Kette an Nachschublieferungen wären die Kriege der Vergangenheit und Gegenwart unmöglich fortzusetzen (gewesen). Soweit jedenfalls die Theorie des Ganzen.

Gemessen an ihrer Praxis müssen diese Interventionen bislang jedoch als weitgehend gescheitert betrachtet werden. Blockaden vor Produktionsstandorten der Rüstungsidustrie, oft lange im Voraus angekündigt und somit in die Produktionspläne dieser Firmen einplanbar, hielten oft nur wenige Stunden an und lösten sich nicht selten nach einer gewissen Zeit von selbst wieder auf, als die Teilnehmer*innen der Blockade Hunger verspürten oder in die Annehmlichkeit ihrer Nachtlager zurückkehren wollten, oder an die Rückreise denken mussten, um am nächsten Tag wieder ihrer Arbeit nachzugehen. Ich will mit dieser Beurteilung überhaupt nicht klein reden, dass solche kollektiven Bemühungen des Protests nicht ihren eigenen Wert haben, aber wer glaubt, mit der Teilnahme an einer derart vorhersehbaren, einkalkulierbaren und im höchsten Maße symbolischen Blockade tatsächlich einen Beitrag dazu zu leisten, dass die Kriegsproduktion in dem Maße blockiert wird, dass das irgendeinen Effekt auf die Kriegsführung in den Kriegsgebieten hätte, die*der lügt sich schlicht selbst etwas vor. Aber es gab nicht nur diese Form massenhafter Blockaden: Sabotagen an Gleisen, Brandanschläge auf Firmenfahrzeuge von Rüstungskonzernen und ihren Zulieferern, sowie den Fahrzeugen von Logistikunternehmen, die deren Kriegsgerät verschickten, usw., sowie eine vielleicht noch größere Serie an Farbangriffen auf die Sitze dieser Unternehmen boten und bieten bis heute eine militante Perspektive der Intervention in die Kriegsproduktion.

Und doch: Mir wäre es neu, dass dabei jemals die Nachschublieferungen an die Fronten der Kriege zum Erliegen gekommen wären. Zu geringfügig war die Unterbrechung der Produktion, zu unbedeutend die Sabotage der Logistik. Nichts, was nicht durch eine zusätzliche Nachtschicht aufgeholt hätte werden können. Und der finanzielle Schaden? Nun ja, sagen wir die Geschäftsführungen der betroffenen Unternehmen rechnen in anderen Dimensionen.

Es ist keineswegs meine Absicht, diese Interventionsversuche klein zu reden, Leute zu entmutigen auch dann anzugreifen, wenn der Feind übermächtig zu sein scheint und der eigene Handlungsspielraum im Vergleich zu klein, der eigene Widerstand zu unbedeutend erscheint. All das ist für mich kein Grund, vom Angriff abzusehen. Vielmehr denke ich, dass es sich lohnt, etablierte Strategien von Zeit zu Zeit zu überdenken und gegebenfalls einer Überarbeitung zu unterziehen, wenn sich herausstellt, dass das eigene Handeln in ihnen weitestgehend wirkungslos verhallt oder kalkulierbar wird.

Die heutige Hightech-Produktion – und die Produktion von Kriegsgerät fällt definitiv in diese Kategorie – ist an sich eine äußerst labile Angelegenheit. Sie ist abhängig von zahlreichen teuren und schwer zu beschaffenden Ressourcen – ironischerweise jene Ressourcen um deren Sicherung sich der ein oder andere Krieg dreht – und besteht aus einer langen Produktionskette an Zwischenprodukten und deren Logistik an die Produktionsstandorte, an denen das Endprodukt, sei es nun ein Panzer, ein Militärjet, eine Drohne, ein Raketenwerfer oder irgendetwas anderes, aus tausenden oder Millionen von Einzelteilen zusammengesetzt wird. Die produzierenden Unternehmen durchschauen oft selbst nicht vollständig, wer die Zulieferer ihrer Zulieferer sind und noch weniger, wer deren Zulieferer wiederum beliefert. Das gilt, selbst wenn es in der Rüstungsindustrie – mehr noch, als irgendwo sonst – durchaus Bestrebungen gibt, diese Produktionsketten nachzuvollziehen und – sofern sie für den Produktionsprozess unverzichtbar sind – entsprechend abzusichern, zumindest teilweise auch für die Hersteller von Panzern, Flugzeugen, Drohnen und Co. Es soll in der Geschichte der Produktion von Hightech-Gütern – und auch in der der Rüstungsindustrie – jedenfalls schon das ein oder andere Mal vorgekommen sein, dass Produktionshallen tagelang still standen, weil eine bestimmte Mutter, die nicht ohne weiteres im Baumarkt nachgekauft werden konnte, nicht geliefert worden war oder weil ein Zulieferer Bankrott machte und erst einmal Ersatz für das von ihm gelieferte Bauteil aufgetrieben werden musste. Und als vor einigen Jahren einmal die Weltmarktpreise für seltene Erden explosionsartig in die Höhe schnellten, weil China seine Exporte senkte, da gab es bei den Zulieferern der Autoindustrie – und was man für Autos braucht, das braucht man in der einen oder anderen Form oft auch für gepanzerte Fahrzeuge – erhebliche Lieferengpässe.

Ich will hier aber gar nicht allzu konkret werden. Jedenfalls scheint mir die Möglichkeit interessant zu sein, dass jenseits der oft mit Militärtechnologie überwachten, direkten Produktionsstandorte der Rüstungsindustrie in meist ohnehin unsympathischen Gegenden die vernachlässigte industrielle Peripherie dieser Sparte manchmal entlegen in kleinen Käffern, manchmal am Rande irgendwelcher weitaus sympathischeren Industriegebiete der Großstädte schlummern mag und eine große Menge Potenzial für zündenden antimilitaristischen Ideenreichtum liefert.

Auf eine ähnliche Art und Weise ließe sich vielleicht auch im Bereich der Logistik strategisch nachbessern. Die oftmalige Güterschienennetzanbindung der Produktionsstandorte von Rüstungsunternehmen und die Namen der Logistikunternehmen der die Werkstore passierenden LKWs könnten hier Ansatzpunkte offenbaren, auch wenn ich denke, dass der qualitative Gewinn für eine antimilitaristische Praxis des Angriffs hier vor allem darin bestehen könnte, tatsächliche Frachten an die und von der Rüstungsindustrie auszumachen und zu blockieren/zerstören, wenn nicht gleich das gesamte logistische System, in dem diese verschifft, verladen, mit der Bahn oder dem LKW transportiert werden angegriffen und sabotiert wird, anstatt sich auf – in diesem Sinne eher symbolische – Angriffe auf diese Logistikunternehmen im Allgemeinen zu beschränken, die zwar sicherlich einen finanziellen Schaden anrichten, jedoch effektiv kaum Auswirkungen auf den reibungslosen Betrieb der Kriegsproduktion haben dürften.

Dabei bleibt zu bemerken, dass verschiedene aufständische Projekte der Vergangenheit vor allem dort Erfolge verzeichnen konnten, wo sie entsprechende Schwachstellen in Produktions- und Lieferketten identifizierten und ihre Angriffe auf diese konzentrierten.

(ii) Die Infrastruktur des Krieges

Armeen fürchten seit jeher Wälder, Berge und Wildnis, sprich jene Umgebungen, in die ihre Zivilisation bislang nur spärlich oder überhaupt nicht vorgedrungen ist und in der es ihnen an notwendiger Infrastruktur, sowie oft auch an geografischem Wissen und Erfahrung mangelt, um ihre Umgebung erfolgreich zu kontrollieren. Kein Wunder, dass eigentlich sämtliche Spezialabteilungen des Militärs ihre „Elitesoldaten“ auf – außerhalb einer militärischen Ausbildung Todesmärsche genannte – Expeditionen durch die raue Wildnis schicken, sie entgegen der üblichen militaristischen Logik darin üben, in gewisser Weise eigenverantwortlich zu agieren, eigene Entscheidungen zu treffen und unabhängig von den Bewegungen anderer Einheiten ihrer Armeen zu kämpfen. Diese Spezialabteilungen sind das militärische Instrument, um in Gebiete vorzudringen, die frei sind von einer für die übliche militärische Intervention notwendigen, minimalen Infrastruktur. Aber gewissermaßen handelt es sich bei diesen Einheiten um ein Relikt aus vergangenen Zeiten. Moderne Kriegstechnologie baut vor allem auf Drohnen, Satteliten, Aufklärungsflüge, (Infrarot-)Überwachungstechnologie, usw., um jederzeit selbst in die entlegensten Gebiete dieser Welt vordringen zu können. Und in den wenigen Fällen, in denen sich in der Vergangenheit die Wildnis als allzu undurchdringbar erwies, wusste man sich mit Pflanzengiften, Napalm und anderen biochemischen Waffen zu helfen. Die römischen Legionen rodeten Wälder, um das geeignete Schlachtfeld für ihre Truppen zu schaffen, die US-Army versprühte das Umweltgift „Agent Orange“, um ihre Feind*innen aus der Deckung zu locken. Das sind natürlich nur zwei der populärsten Beispiele dafür, wie sehr die totale Kontrolle über ihre Umgebung damals wie heute eine bedeutende Rolle für Militärs spielte. Auch wenn die strategische Zerstörung der Umwelt auch heute noch eine wichtige Rolle in diesem oder jenem militärischen Konflikt spielt, so lässt sich doch behaupten, dass die Kriegstechnologie zumindest nach Wegen sucht, Umweltzerstörungen eines solchen Ausmaßes (im Zuge ihres lokalen Einsatzes, denn natürlich zerstört alleine die Rohstoffproduktion für Militärgerät die Umwelt in gigantischem Ausmaß) nach Möglichkeit zu vermeiden und stattdessen mithilfe von HighTech in jeden bislang „toten Winkel“ vorzudringen.

Dabei spielen längst nicht nur die militärischen Technologien eine Rolle, mit denen bislang unbekanntes „Feindesland“ ad hoc während oder im Voraus einer militärischen Intervention erschlossen werden soll, sondern gerade dort, wo sich Kriege vornehmlich gegen einzelne Bevölkerungsgruppen in einem ansonsten erschlossenen Gebiet richten, seien es indigene Bevölkerungen, Rebell*innen, Invasor*innen, das was heute mit dem Begriff Terrorist*innen gemeint ist, oder schlicht verarmte Bevölkerungsteile, die nicht bereit sind, dem Bau einer Mine, einer Fabrik, einer Straße, usw. zu weichen, sind es vielmehr die „zivilen“ Technologien, die den Armeen und/oder der Polizei oder auch privaten Sicherheitskräften den Weg bereiten. Alles was dazu beiträgt, den Raum kontrollierbar zu machen, lässt sich selbstverständlich auch militärisch zu eben jenem Zwecke nutzen. Auf Straßen und Schienen kann das Militär schnell in jeden erschlossenen Winkel vordringen, Brücken helfen dabei, natürliche Hindernisse wie Flüsse, Schluchten und Täler zu überwinden und landwirtschaftlich genutzte Flächen ermöglichen es nicht nur, große Areale von einem einzigen Aussichtspunkt aus zu überblicken, sondern sie erleichtern vor allem auch das Vorrücken abseits der Straßen; soweit dürfte man das schon einmal mitbekommen haben. Tatsächlich sind dies jedoch nur die offensichtlichsten Infrastrukturen derer sich die Armeen bedienen. Für die Schiffahrt mithilfe von Schleusen und Talsperren begradigte und vertiefte Flussläufe ermöglichen einen verlässlichen Transport von Kriegsgerät bis weit ins Inland hinein, Häfen ermöglichen das schnelle Landen von Kriegsgerät, ebenso wie nicht nur Flughäfen militärisch genutzt werden können, sondern auch diverse schnurgerade Autobahnabschnitte als Start- und Landebahnen für Kampfflugzeuge dienen und teilweise auch als solche angelegt sind.

Jenseits einer solchen logistischen Infastruktur benötigt ein modernes Heer natürlich auch eine stabile und verlässliche Kommunikationsinfrastruktur. Eigens militärisch genutzte Sattelitenkommunikation, deren Bodenstationen sich auf Militärbasen überall auf der Welt befinden und vom Militär mobil aufgespannte Ad-Hoc-Funknetzwerke, über die verschiedene Einheiten untereinander und mit ihrem Kommandostab kommunizieren können sind ebenso zu nennen, wie bereits etablierte und durch diverse Funkmasten aufgespannte Behördenfunk- und Mobilfunknetze, die sich selbstverständlich auch zu militärischen Zwecken anzapfen lassen (der Behördenfunk ermöglicht es der Polizei immerhin bereits von beinahe überall nach Verstärkung zu funken). Insbesondere Drohnen und jede andere Form von unbemanntem Vehikel benötigt derartige Funknetze, um Informationen zu übermitteln, sowie Kommandos zu empfangen. Auch das vorrangig für das Internet verlegte Glasfasernetz lässt sich zu militärischer Kommunikation nutzen und ein funktionierendes Stromnetz, das so gut wie überall eine beinahe unbeschränkte Menge an Energie zu liefern vermag erleichtert jede militärische Operation. Nicht zu vernachlässigen ist dabei vor allem auch die in Städten überhand nehmende Beleuchtung, die es selbst Nachts ermöglicht, hunderte Meter weit in Straßenschluchten, Parks, Hinterhöfe, usw. hineinzublicken und aus der Nähe beinahe in jede dunkle Ecke blicken zu können. Und die ebenfalls überhand nehmende Videoüberwachung ermöglich schon jetzt ein immer engmaschigeres Netz polizeilicher Kontrolle.

Wir leben in einer vermessenen und kartographierten Welt, die solange ihre Infrastruktur intakt ist, militärisch leichter zu kontrollieren ist, als dies den Anschein macht, wenn man sich die Berichte über militärisch schwer kontrollierbare Guerilla-Widerstandskämpfer in anderen Teilen der Welt verinnerlicht. Dazu ist es jedoch erforderlich, sich in dieser Welt jenseits der kontrollierten Pfade bewegen zu lernen, eine Fähigkeit die nicht einfach über Nacht erlernt werden kann, ebenso wie es erforderlich ist, die neuralgischen Punkte ausfindig zu machen, die die kritischen Infrastrukturen zum kollabieren bringen. Und diese – selbst wenn im Detail – nur zu kennen genügt vielleicht nicht, wie in dem Text „Fahrtenbuch“ (Die Reihen durchbrechen) argumentiert wird, es bedarf auch des spezifischen Wissens, wie diese erfolgreich sabotiert werden können, von der Herstellung der dafür erforderlichen „Betriebsmittel“, bis zu deren fachgemäßen bzw. unfachgemäßen Gebrauch.

Ich denke, dass gerade dieser Aspekt des Wissens in Ländern, in denen gerade kein offener Krieg gegen die eigene Bevölkerung geführt wird, oft unterschätzt wird. Umso bedeutender wird dieses Wissen in dem Szenario eines Aufstandes, auf den wir schließlich nicht nur alle gespannt warten, sondern auf den wir uns auch vorbereiten. In einer solchen Situation zu wissen, wie die Infrastruktur des Krieges unschädlich gemacht werden kann, das könnte sich womöglich als entscheidend erweisen.

(iii) Die Kriegspropaganda

Für das Funktionieren des Militarismus und insbesondere für die Mobilisierung nicht nur der Soldat*innen im Kriege, sondern auch jener Teile der Bevölkerung, die einen Krieg immer mittragen, ist in der heutigen Epoche die Propaganda von entscheidender Bedeutung. Vielleicht vergleichbar mit der Weltkriegspropaganda erweist sich heute die Virenkriegspropaganda, die wir seit über einem Jahr erleben. Längst sind alle Medien, von den Zeitungen, übers Radio und Fernsehen bis hin zu den sogenannten sozialen Medien auf eine Art und Weise gleichgeschaltet, die ich persönlich vorher nicht für möglich gehalten hätte. Und alle machen sie mit, vom wirtschaftsliberalen Tagesblatt bis zur linken Monatszeitschrift, vom Staatsrundfunk bis hin zu Techgiganten wie Google und Facebook, die auf ihren Internetplattformen die staatliche Sicht der Pandemie prominent bewerben und kritische Stimmen entweder algorithmisch abwerten und somit verstecken oder unverhohlen zensieren. Wer hätte das gedacht, dass die Unternehmen, die einst (natürlich zu Unrecht) von sich behauptet hatten, den Arabischen Frühling möglich gemacht zu haben, nun, wo es die westlichen Staaten sind, die (Internet)zensur vorantreiben, sich so bereitwillig als Vollstrecker andienen. Achso, ja, eigentlich stand das zu erwarten.

Die gesamte Kommunikationstechnologie, von der Zeitung über den Rundfunk bis hin zum Cybernetz, sie war schon immer das Mittel der Wahl propagandistischer Indoktrination. Wie sonst könnte man auch die Massen erreichen. Die heute vielfach behauptete Medienvielfalt, sie existiert ebensowenig wie das Internet ein Instrument der Meinungsfreiheit ist. All diese Technologien erweisen sich im Kriegszustand mehr als jemals zuvor als Werkzeuge der Propaganda.

Auch wenn man sicherlich so einiges darüber sagen könnte, mit welchen Strategien die Herrschenden es erreichen, bei einem Großteil der Bevölkerung nicht nur die notwendige Angst vor dem Virus zu schüren, sondern sie auch gleich noch auf die Notwendigkeit des längst tobenden Virenkrieges einzustimmen, so wäre diese Analyse im Endeffekt doch unnötig, würde vielleicht sogar nur den Herrschenden etwas bringen, die ihre Mechanismen dadurch verfeinern könnten. Aus der notwendigen Distanz betrachtet, muss man meines Erachtens nach zu dem Resultat kommen, dass es die schiere Existenz von Massenmedien ist, die diese Kriegspropaganda ermöglicht und folglich eine effektive Bekämpfung dieser nur auf die Zerstörung dieser Massenmedien hinauslaufen kann.


Übernommen von Zündlumpen #083.

Wo sind sie nur hin, die Nazis?

Eine Spurensuche.

Nazis, gibt es solche Idioten heute überhaupt noch? Und kann man sie als eine gesellschaftlich relevante Kraft beschreiben? Schwerlich. Ganz gewiss stehen wir nicht kurz vor einer Machtübernahme durch faschistische Kräfte und auch wenn der mordend durch die Lande ziehende NSU und noch modernere rechte Kräfte, die sich der Strategie des Terrors verschrieben haben, selbst dem Letzten vor Augen geführt haben dürften, dass man nicht den Fehler begehen sollte, organisierte Nazis ausschließlich als glatzköpfige, fettwanstige Hohlbirnen zu unterschätzen, so sind diese Nazi-Terroristen doch allenfalls ein erbärmlicher Abklatsch der präfaschistischen Prügeltruppen der SA. Die Nazi-Kader von heute, sie besetzen ganz bestimmte Positionen innerhalb des demokratischen Systems, vom Verfassungsschutz bis zur Justiz und zuweilen fragt man sich, ob die faschistische Bewegung von heute nicht vielleicht so sehr mit dem demokratischen Staat verwachsen ist, dass sie sich selbst kaum noch vorstellen kann, diese Allianz irgendwann einmal aufzukündigen. Wozu auch? Immerhin lebt es sich als Angestellter des Staates doch eigentlich ganz gut und wem es noch nicht genügt, bei FRONTEX, Polizei und Bundeswehr nach den Regeln dieser Institutionen Untermenschen abzumurgsen, der kann sich ja immer noch unter dem Protektorat des Verfassungsschutzes verdingen und als mordender Rechtsterrorist in die Analen der Bundesrepublik Deutschland eingehen.

Nein, was ist der Faschismus in Deutschland nicht lächerlich im Vergleich zur Effizienz der Todesmaschinerie des technoindustriellen Systems unter demokratischer Herrschaft. Jeden Tag, was sage ich, jede Stunde, möglicherweise sogar jede Minute, verrecken an den Grenzen der Festung Europa jene, die nicht länger Untermenschen genannt werden, aber nichtsdestotrotz als solche behandelt. Und es mag vielleicht neben anderen Charakteren, einen gewissen faschistischen Typus anziehen, die Posten an der Front dieser Todesmaschinerie zu beziehen, doch es ist gewiss kein faschistisches Unterfangen, mit dem wir es hier zu tun haben. Und auch wenn es in den vergangenen Jahren rechtspopulistischen Parteien mit bisweilen faschistischen Flügeln immer wieder gelungen ist, in die Parlamente Europas einzuziehen und bestimmte Diskurse einer Übervölkerung oder Umvolkung europäischer Territorien zu lancieren, so ist es den demokratischen Parteien doch immer wieder gelungen, diese rechts zu überholen und mithilfe einer mörderischen Praxis, die seit jeher in ein humanistisches Vokabular der Vielfalt und Gleichheit eingekleidet ist, die Wähler*innenstimmen für sich selbst zu beanspruchen. Nein, wenn man einmal hinter die Kulissen der deutschen Politik – und das gleiche gilt auch für die meisten anderen europäischen Staaten – blickt, wird schnell klar, dass etwa ein Winfried Kretschmann oder ein Bodo Rammelow für mehr rassistische Morde verantwortlich zeichnen, als ein Uwe Mundlos oder ein Uwe Böhnhardt. Und wenn etwa ein Horst Seehofer zu seinem 69. Geburtstag die Deportation einer mit seinem Alter korrelierenden Anzahl von Menschen veranlasst, dann wird klar, dass es in einem postfaschistischen Land keinerlei Nazis bedarf, um die Institutionen des Faschismus am Leben zu erhalten.

Gewissermaßen sehen wir das auch heute, drei Jahre später, wo die durch Corona legitimierte, totale Grenzschließung das angestammte Terrain faschistischer Mobilisierung von einem Tag auf den nächsten hinweggefegt hat, ja es vielmehr allem Anschein nach in ein linkes, antifaschistisches Terrain verwandelt hat. Man braucht gar nicht allzu viel über die nationalsozialistische Vergangenheit des zentral in den Holocaust involvierten Robert Koch Instituts wissen, braucht nicht notwendigerweise zu verstehen, dass die Genetik die wissenschaftliche Disziplin ist, in die sich die Rassenhygieniker, Eugeniker und Rassentheoretiker geflüchtet haben, nachdem ihre ursprünglichen Disziplinen mit dem Bannfluch der Pseudowissenschaft belegt wurden, um zu erkennen, dass es eine faschistische Dynamik ist, die da von all den demokratischen Parteien, der Wissenschaft und anderen Akteur*innen vom Zaun gebrochen wurde. Eine faschistische Dynamik wohlgemerkt, die sogar den Nazis Angst zu machen scheint, während die deutsche Antifa in ihrer neuen Rolle als Blockwart der Gesellschaft geradezu aufzublühen scheint.

Und so kommt es, dass man die letzten verstreuten Nazis zuweilen unter jenen wiederfindet, die ihren Unmut über das, was man vorsichtig vielleicht den neuen Faschismus nennen könnte, auf die Straßen tragen. So wie den Faschist*innen immer schon das Treiben der ihrer eigenen Bewegung gar nicht so unähnlichen, kommunistischen Terrorherrschaft, spinnefeind war, scheinen sie nun auch im von der Technokratenklasse vom Zaun gebrochenen Faschismus – oder meinetwegen, um ein historisch weniger gefärbtes Wort zu verwenden, Totalitarismus – einen Feind zu erblicken. Verwunderlich ist das freilich bloß auf den ersten Blick, handelt es sich bei den Faschist*innen um nichts anderes als eine bestimmte politische Fraktion, die eben vor allem um die Macht ringt und der dabei jeder andere Machtblock, und sei er ihnen in Methoden, Zielen und Idealen auch noch so ähnlich, Todfeind ist.

Man muss dabei verstehen, warum, mit welchen Zielen und Absichten die Nazis sich den ursprünglich und in ihrem Grundsatz noch immer demokratisch geprägten (und nur um Missverständnisse zu vermeiden, aus anarchistischer Sicht ist das Wort demokratisch alles andere als eine Sympathiebekundung) Demonstrationen angenähert haben, will man ihre Rolle darin verstehen und die von ihnen ausgehende Bedrohung analysieren. Als nach einer kurzen Phase der Ohnmacht jene demokratischen Kräfte, die nicht auf Anhieb der Kriegspropaganda der Medien anheim fielen, beschlossen, ihre Uneinverstandenheit auf die Straße zu tragen, da konnte man mancherorts beobachten, wie sich die organisierten Nazis wie man selbst vielleicht auch, an den Rändern dieser Demonstrationen tummelten, in dem Versuch diese besser zu verstehen und womöglich auch, um Strategien zu entwickeln, diese für sich zu nutzen. Neben den demokratischen Organisator*innen der Demonstrationen, gab es vielerorts eine kurze Phase, in der die Richtung in die sich diese Bewegung entwickeln würde, gänzlich offen war, zu vielfältig waren die Menschen, die dort zusammengekommen waren, nicht weil sie eine bestimmte politische Identität verkörpert hätten, sondern weil sie eine gemeinsame Erfahrung einer ihnen zuvor unbekannten Form von Herrschaft dorthin trieb. Und mancherorts lässt sich gewiss bis heute von einer solchen Art von Bewegung sprechen, einer Bewegung, die sich über ein einziges Anliegen mobilisiert und die ansonsten uneinheitlicher kaum sein könnte. Nun, die organisierten Nazis jedenfalls, sie kamen anfangs oft in zivil, ohne jedes erkenntliche Abzeichen, zu erkennen nur von jenen, die sie bereits kannten, und ich selbst habe gesehen, wie diverse “Antifas” am Rande dieser Demonstrationen standen und irgendwelche lächerlichen Masken- und Abstandsbefehle in Richtung der Demonstranten brüllten, während unmittelbar neben ihnen organisierte Nazis von ihnen unerkannt das Treiben beobachteten. Spätestens als die Medien begannen, die Proteste als von Rechten ausgehend zu framen, ergriffen die Nazis die Gelegenheit beim Schopfe. Sie begaben sich in die Reihen der Demonstranten, wo sie als authentische Gleichgesinnte – denn letztlich demonstrieren selbst organisierte Faschisten bis heute für nichts anderes als die Wiederherstellung der demokratischen Ordnung, paradox, nicht? – das Vertrauen der Menschen gewannen, nicht zuletzt auch, weil die Teilnehmer*innen dieser Demonstrationen von den Medien selbst zu Nazis stilisiert wurden.

Heute lässt sich die Präsenz der Nazis in der Bewegung, die ich hier einmal, weil sie ohnehin als solche bekannt ist, trotz der unpassenden Benamung “Coronaleugner” nennen will, vermutlich als ein politischer Flügel dieser Bewegung analysieren. Während (gewissermaßen sogar linke) Demokraten eine Art Gegenflügel ausmachen. Und auch wenn die Bewegung der Coronaleugner auch von Ort zu Ort verschieden ist, teilweise sogar von Demonstration zu Demonstration, so tummeln sich in ihr ohne jeden Zweifel eben auch Nazis, die wohl darauf hoffen, neue Anhänger*innen um sich zu scharen. Nun, Faschisten gehören sabotiert, wo man ihnen nur begegnet, aber wo eine*n als Anarchist*in wohl sonst nichts zu diesen Demonstrationen treiben würde, lohnt es sich da, dort nur wegen der Faschist*innen aufzukreuzen? Dort, wo sich die Faschist*innen bis heute sichtlich schwer tun, gänzlich Fuß zu fassen und wo es ansonsten vor allem vor Demokrat*innen nur so wimmelt?

Der aktuelle Versuch der antifaschistischen Verteidiger des Bestehenden, die gesamte Bewegung von Coronaleugner*innen als faschistisch zu bezeichnen erscheint mir dagegen ebenso peinlich, wie kontraproduktiv zu sein: Wo klare demokratische Forderungen einer Rückkehr zum präpandemischen Status quo bestimmend sind, lässt sich einer Bewegung nun einmal vieles unterstellen, aber doch gewiss nicht, per se faschistisch zu sein. Wer dies dennoch tut, der macht sich nicht nur selbst lächerlich, sondern trägt auch dazu bei, dass Faschist*innen gerade wegen der daraus resultierenden, völligen Beliebigkeit dieses Begriffs als Bündnispartner*innen Fuß zu fassen vermögen. Zugleich beobachtet man innerhalb der Bewegung von Coronaleugner*innen viel eher, dass Faschist*innen für demokratische Forderungen demonstrieren. Das weißt wohl nicht darauf hin, dass diese sich den Demokraten annähern würden, sonst würden sie sich nicht gleichzeitig faschistisch organisieren, sondern wohl eher darauf, dass sich die Faschist*innen etwas davon versprechen mögen, Fuß in der Bewegung der Coronaleugner*innen zu fassen. Vielleicht spekulieren sie darauf, dass diese Bewegung zu einer Bedrohung für das herrschende System heranwächst und hoffen, durch ihre Beziehungen zu ihr das Ganze im richtigen Moment in eine faschistische Richtung lenken zu können? Ganz abwegig fände ich es nicht, auch wenn ich jenen Leuten, die sich entscheiden auf Demonstrationen für irgendwelche Grundrechte zu gehen, nicht gerade zutraue irgendwann reale – und nicht bloß inszenierte, zudem vor allem von den Medien, wie etwa die “Stürmung des Reichstags” – Aufstände zuwege zu bringen. Ich würde hier vielmehr auf jene Menschen setzen, die sich von derlei Schauläufen fern halten und trotzdem etwas einzuwenden haben, gegen all die Maßnahmen. Jene Leute, die sich einfach weiter treffen, auf der Straße, bei illegalen Parties, im Park und die sich nicht selten auch gegen sie auseinandertreibende Bullen zur Wehr zu setzen wissen, ihnen traue ich das schon viel eher zu. Oder jenen, die sich ein bisschen Benzin und ein Feuerzeug greifen und die kurzerhand ein Test- oder Impfzentrum, einen Funkmast oder andere Infrastruktur anzünden, wie das auch in Deutschland zunehmend häufiger vorkommt.

Die Bewegung der Coronaleugner, ich finde nicht, dass sie den Faschismus bedrohlicher macht, als er vorher gewesen wäre. Sicher lohnt es sich, im Auge zu behalten, was die in der Bewegung mitschwimmenden Faschist*innen so treiben, ebenso wie ich auch im Auge behalten würde, was der dominante, demokratische Flügel dieser Bewegung vielleicht so anstellen mag, denn bei ihm handelt es sich immerhin um genau jene Art von Politikern, die im Falle von Aufständen als erste bereit stehen, diese zu befrieden. Letztlich jedoch bin ich der Meinung, dass sich die Nazis mit dem Verlust ihres Haupt-Agitationsfeldes (Migration) vor allem in ihre Löcher verkrochen haben und unschlüssig sind, ob und wie sie die verlorenen Fäden ihrer Kämpfe wiederaufnehmen können. Das kann man natürlich auch als eine Gelegenheit begreifen, der faschistischen Bewegung den Todesstoß zu verpassen. Aber wenn, dann sicherlich eher indem man sie in ihren Löchern ausräuchert, so wie das in jüngerer Zeit vor allem in der Thüringer-Naziszene passiert ist, anstatt dass man ihnen den Gefallen tut, sie der Bewegung der Coronaleugner als taugliche Bündnispartner*innen anzudienen, indem man den Faschismusbegriff bis zur Unkenntlichkeit verwischt.