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Zehn Thesen zur Ausbreitung des Egokraten

I

Der Egokrat – Mao, Stalin, Hitler, Kim Il Sung – ist kein Unfall oder eine Anomalie oder ein Hervorbrechen der Irrationalität; er ist eine Personifizierung der Beziehungen der existierenden sozialen Ordnung.

II

Der Egokrat ist zunächst ein Individuum, wie jede*r andere: Ohne Stimme und machtlos in dieser Gesellschaft, ohne Gemeinschaft oder Kommunikation, dem Spektakel geopfert, “der ununterbrochene Diskurs der bestehenden Ordnung über sich selbst, seine Selbstlobrede, das Selbstporträt der Macht in der Epoche ihrer totalitären Kontrolle der Bedingungen des Seins.” (Debord) Vom Spektakel zurückgeweisen, strebt er nach “dem befreiten menschlichen Wesen, einem Wesen, das zugleich ein soziales Wesen ist, sowie ein Gemeinwesen.” (Camatte) Wenn sich seine Sehnsucht in der Praxis ausdrückt: an seinem Arbeitsplatz, auf der Straße, wo auch immer das Spektakel ihm seine Menschlichkeit raubt, dann wird er zum Rebellen.

III

Der Egokrat drückt in der Praxis nicht seine Sehnsucht nach Gemeinschaft und Kommunikation aus; er verwandelt sie in einen Gedanken. Mit diesem Gedanken bewaffnet ist er noch immer ohne Stimme und machtlos, aber er ist nicht länger wie jede*r andere: Er ist Selbstbewusst, er besitzt den Plan. Um seine Andersartigkeit zu bestätigen, um sicherzugehen, dass er sich nicht selbst betrügt, muss er von anderen als anders betrachtet werden – von jenen anderen, die bestätigen, dass er wahrhaft im Besitz des Plans ist.

IV

Der Egokrat findet “Gemeinschaft” und “Kommunikation” nicht dadurch, dass er die Elemente des Spektakels in seiner Reichweite zerstört, sondern indem er sich selbst mit ähnlich gesinnten Individuen umgibt, anderen Egos, die den Goldenen Plan einander widerspiegeln und einander ihr Recht als Besizer dieses Plans beteuern. Auserwählte. An diesem Punkt muss der Plan, wenn er gülden bleiben soll, immerfort der gleiche bleiben: unbefleckt und unkompromittiert; Kritik und Korrekturen sind Synonyme für Verrat, “folglich kann er nur als eine Kampfschrift über die Realität existieren. Er fechtet alles an. Er kann nur dadurch überleben, dass er einfriert, indem er zunehmend totalitär wird.” (Camatte) Um also den Plan widerzuspiegeln und zu bestätigen muss das Individuum aufhören zu denken.

V

Das ursprüngliche Ziel, der “befreite Mensch” wird an die Praxis verloren, wenn es dem Selbstbewusstsein des Egokraten untergeordnet wird, denn “Selbstbewusstsein wird selbst zum Ziel und verdinglicht sich in einer Organisation, die darin besteht, das Ziel zu personifizieren.” (Camatte) Die Gruppe gegenseitiger Bewunderer benötigt ein Programm und einen Treffpunkt; sie wird zu einer Institution. Die Organisation, die die Form einer bolschewistischen oder nazi-Zelle, eines sozialistischen Lesekreises oder einer anarchistischen Affinitätsgruppe annimmt, je nach lokalen Gegebenheiten und individuellen Vorlieben, “schafft ein günstiges Klima für informelle Herrschaft von Propagandisten und Verteidigern ihrer Ideologie, Spezialisten, die im allgemeinen umso mittelmäßiger sind, je mehr ihre intellektuelle Aktivität in der Widerholung bestimmter endgültiger Wahrheiten besteht. Ideologischer Respekt für einstimmige Entscheidungen ist insgesamt vorteilhaft für unkontrollierte Macht innerhalb der Organisation selbst, einer aus Spezialisten für die Freiheit” (schrieb Debord über anarchistische Organisationen). Indem es das herrschende Spektakel ideologisch ablehnt, reproduziert die Organisation aus Spezialisten für die Freiheit die Beziehungen des Spektakels in ihrer internen Praxis.

VI

Die den Plan verkörpernde Organisation wendet sich an die Welt, weil “das Projekt dieses Selbstbewusstseins darin besteht, die Realität in ihrem Konzept einzuschließen.” (Camatte) Die Gruppe wird militant. Sie zieht aus, um die internen Beziehungen der Organisation auf die Gesellschaft auszuweiten, wobei eine Variante dessen wie folgt beschrieben werden kann: “Innerhalb der Partei darf keiner zögern, wenn der Befehl der Führung erteilt wird, ‘vorwärts zu marschieren’, niemand darf sich nach rechts drehen, wenn der Befehl ‘links’ lautet.” (ein revolutionärer Anführer, zitiert nach M. Velli.) An diesem Punkt ist der spezifische Gehalt des Plans für die Praxis ebenso irrelevant wie die Geografie des christlichen Paradieses, weil das Ziel auf einen Totschläger reduziert wurde: Es dient als Rechtfertigung für die repressiven Praktiken der Gruppe und als ein Instrument der Erpressung. (Beispiele: “Von der sozialistischen Ideologie auch nur geringfügig abzuweichen, bedeutet die bourgeoise Ideologie zu stärken.” Lenin, zitiert nach M. Velli; “Wenn ‘Libertäre’ andere verleumderisch niedermachen, dann stelle ich ihre Reife und ihre Hingabe an den revolutionären sozialen Wandel in Frage”, ein “Anarchist” in einem Brief an The Fifth Estate.)

VII

Die militante Organisation wächst mithilfe von Konvertierungen und Manipulationen. Konvertierung ist die bevorzugte Technik des frühen Bolschewismus und des missionarischen Anarchismus: Die explizite Aufgabe der Kämpfer ist es der arbeitenden Klasse Selbsbewusstsein einzuflösen (Lenin), “arbeitende Menschen mit unseren Ideen zu erreichen” (ein “Anarchist” in “The Red Menace” [dt. “Die Rote Bedrohung”] Toronto). Aber die implizite Aufgabe und das praktische Resultat seiner Tätigkeit besteht darin, die Praxis der Arbeiter zu beeinflussen, nicht ihr Denken. Die Konvertierung ist erfolgreich, wenn die Arbeiter, egal was ihre Ideen sind, Beiträge an die Organisation zahlen und den Aufrufen der Organisation gehorchen (Streiks, Demonstrationen, etc.). Das implizite Ziel des Egokraten besteht darin, seine Hegemonie (und die seiner Organisation) über eine große Anzahl von Individuen zu errichten, der Anführer einer Masse an Gefolgsleuten zu werden. Dieses implizite Ziel wird auf zynische Weise zu einem expliziten, wenn es sich bei den Kämpfern um Nazis oder Stalinisten (oder eine Mischung aus beiden, wie bei der US Arbeiterpartei) handelt. Konvertierung weicht der Manipulation, die unverblühmt lügt. In diesem Modell ist die Rekrutierung von Anhängern das explizite Ziel und die Idee nicht länger ein Fixstern, perfekt und unveränderlich; die Idee wird zu einem bloßen Mittel für das explizite Ziel; was immer die meisten Anhänger*innen rekrutiert, ist eine gute Idee; die Idee wird zu einer zynisch konstruierten Collage basierend auf den Ängsten und Ressentiments potentieller Anhänger; ihr hauptsächliches Versprechen ist die Vernichtung von Sündenböcken: “Konterrevolutionäre”, “Anarchisten”, “CIA Agenten”, “Juden”, etc. Der Unterschied zwischen Manipulatoren und Missionaren ist ein theoretischer; in der Praxis sind sie Konkurrenten auf dem gleichen sozialen Millieu und sie bedienen sich der Techniken des jeweils anderen.

VIII

Um die Idee auszustrahlen, also um zu konvertieren oder zu manipulieren, benötigt der Egokrat Instrumente, Medien, und es sind genau solche Medien, die ihm die Gesellschaft des Spektakels im Überfluss zur Verfügung stellt. Eine Rechtfertigung sich dieser Medien zu bedienen lautet wie folgt: “Die Medien sind derzeit ein Monopol der herrschenden Klassen, die diese zu ihrem eigenen Nutzen zweckentfremden. Aber ihre Struktur bleibt ‘grundsätzlich egalitär’, und es ist die Aufgabe der revolutionären Praxis, dieses Potential, das sie bieten, das aber von der kapitalistischen Herrschaft pervertiert wird, hervorzuholen. In einem Wort: sie zu befreien …” (eine Position, die von Baudrillard paraphrasiert wird.) Die Ursprüngliche Ablehnung des Spektakels, die Sehnsucht nach Gemeinschaft und Kommunikation wurde durch die Sehnsucht ersetzt, Macht über genau die Instrumente auszuüben, die Gemeinschaft und Kommunikation auslöschen. Bedenken oder ein plötzlicher Ausbruch von Kritik werden durch organisatorische Erpressung ausgeschlossen: “Die Leninisten werden gewinnen, außer wir akzeptieren selbst die Verantwortung zu kämpfen, um zu gewinnen…,” (“The Red Menace.” Ein Stalinist würde sagen, “Die Trotzkisten werden gewinnen …”, etc.) Von diesem Punkt an, lässt sich alles machen; alle Mittel sind richtig, wenn sie zum Ziel führen; und an der absurden äußersten Grenze wird sogar Werbung, die Aktivität und Sprache des Kapitals selbst, zu einem gerechtfertigten revolutionären Mittel: “Wir konzentrieren uns vor allem auf Distribution und Reklame … Unsere Werbearbeit ist breit gefächert und teuer. Sie beinhaltet überregionale Anzeigen, Werbesendungen, Kataloge, Tischaufsteller im ganzen Land, etc. All das kostet eine enorme Menge Geld und Energie, die von den Einnahmen gedeckt wird, die mit dem Verkauf von Büchern gemacht werden.” (Ein “anarchistischer Geschäftsmann” in einem Brief an The Fifth Estate.) Ist dieser anarchistische Geschäftsmann ein groteskes Beispiel, weil es so lächerlich übertrieben ist, oder befindet er sich vollkommen innerhalb der orthodoxen Tradition organisierten Kampfes? “Das Hauptinstrument, das wir benötigen, um den Sozialismus einzuführen ist der ‘Staatsapparat’, den wir fertig vom Kapitalismus übernehmen; unsere Aufgabe dabei besteht darin, bloß das abzuhacken, was diesen exzellenten Apparat kapitalistisch verstümmelt, um ihn noch gewaltiger, selbst demokratischer, selbst allumfassender zu machen …” (Lenin, zitiert nach M. Velli.)

IX

Für den Egokraten sind die Medien bloße Mittel; das Ziel ist Hegemonie, Macht und die Kontrolle über die Geheimpolizei. “Als unsichtbare Piloten im Zentrum des volkstümlichen Sturms müssen wir ihn nicht mit einer sichtbaren Macht lenken, sondern mit der kollektiven Diktatur aller Verbündeten. Eine Diktatur ohne Abzeichen, ohne Namen, ohne offizielle Befugnisse, und doch eine umso mächtigere, weil sie keine der Erscheinungsformen der Macht besitzt.” (Bakunin, zitiert nach Debord) Die kollektive Diktatur aller wird schnell zur Herrschaft des einzigen Egokraten weil “wenn all die Bürokraten zusammen alles entscheiden, der Zusammenhalt ihrer eigenen Klasse nur durch die Konzentration ihrer terroristischen Macht in einer einzigen Person sichergestellt werden kann.” (Debord) Mit dem Erfolg des Unterfangens des Egokraten, der Errichtung der “Diktatur ohne offzielle Befugnisse”, ist Kommunikation nicht nur auf einer sozialen Ebene ausbleibend; jeder lokale Versuch wird von der Polizei absichtlich liquidiert. Diese Situation ist keine “Entstellung” der ursprünglichen, “reinen Absichten” der Organisation; sie ist bereits in den Mitteln angelegt, den “grundsätzlich egalitären” Instrumenten, die für ihren Sieg genutzt werden. “Was die Massenmedien ausmacht ist die Tatsache, dass sie Anti-Vermittler, Intransitive sind, die Tatsache, dass sie nicht-Kommunikation erzeugen … Fernsehen ist alleine durch seine Präsenz eine soziale Kontrolle im Zuhause. Es ist nicht notwendig, sich diese Kontrolle als das Periskop des Regimes vorzustellen, mit dem das Privatleben von jedem ausspioniert wird, da das Fernsehen bereits besser als das ist: Es stellt sicher, dass die Menschen nicht länger miteinander reden, dass sie definitiv isoliert sind, angesichts der Aussagen ohne Antworten.” (Baudrillard)

X

Das Projekt des Egokraten ist überflüssig. Die kapitalistischen Medien der Produktion und Kommunikation reduzieren die Menschen bereits zu stimmlosen und machtlosen Zuschauern, passiven Opfern, die beständig den “Eigenlobreden” der herrschenden Ordnung unterworfen sind. Die antiautoritäre Revolution erfordert nicht ein anderes Medium, sondern die Vernichtung aller Medien, “die Vernichtung ihrer gesamten derzeitigen Struktur, sowohl funktional, als auch technisch, ihrer Betriebsform sozusagen, die überall ihre soziale Form widerspiegelt. Schließlich ist es offensichtlich das bloße Konzept von Medium, das verschwindet und verschwinden muss: das ausgetauschte Wort, wechselseitiger und symbolischer Austausch, negieren die Vorstellung und Funktion des Mediums, der Vermittlung … Wechselseitigkeit entsteht durch die Zerstörung des Mediums.” (Baudrillard)

1977

Referenzen

Jean Baudrillard , Pour une critique de l‘ economie politique du signe (Paris , Gallimard , 1972)

Jacques Camatte , The Wandering of Humanity (Detroit , Black & Red , 1975)

Guy Debord , Society of the Spectacle (Detroit , Black & Red , 1970; 1977)

Claude Lefort , Un Homme e n Trap : Reflexions sur „L ‚Archipel de Goulag,“ Paris , Seuil , 1976

Michael Velli , Manual for Revolutionary Leaders (Detroit , Black & Red , 1972)


Übersetzung aus dem Englischen. Fredy Perlman. “The Theses on the Proliferation of the Egocrat” (1977) in Anything Can Happen.

Geduld

Meiner Meinung nach basieren viele der falschen Vorstellungen bezüglich demokratischer Verwaltung auf der Zweideutigkeit des Konzepts von (sozialem) Konsens. Die folgenden Absätze geben eine Argumentationslinie wieder, wie sie heute von vielen Anarchist*innen verfochten wird.

Als die sichtbare Grundlage der Herrschaft der gewaltvolle Zwang war, war den Ausgebeuteten die Notwedigkeit zu rebellieren nur allzu bewusst. Wenn sie dennoch nicht rebellierten, so lag das an der Erpressung, die Polizei und Hunger ihnen auferlegten, damit sie in Resignation und Elend verharrten. Folglich war es notwendig mit Entschlossenheit gegen diese Erpressung vorzugehen. Heute jedoch profitieren die Institutionen des Staates von der Beteiligung der Massen, die durch ein mit Nachdruck verfolgtes Unterfangen der Konditionierung zu ihrer Einwilligung (Konsens) bewogen wurden. Aus diesem Grund sollte die Revolte auf die Ebene der Delegitimierung verlagert werden, mit dem Ziel des graduellen und sich ausbreitenden Zerfalls des sozialen Konsenses. Folglich müssen wir mit unserem Projekt der sozialen Transformation ausgehend von jenen kleinen Zonen beginnen, in denen die Autorität ihre Legitimation bereits verloren hat, sie sozusagen eingeklammert wurde. Andernfalls wird die Rebellion bestenfalls zu einem Selbstzweck, einer nutzlosen und missverstandenen Geste und im schlechtesten Fall zu einem Beitrag zur Repression und einer gefährlichen Abweichung von den eigentlichen Bedürfnissen der Ausgebeuteten. Mir scheint, dass dies der Kern einer immer widerkehrenden Debatte in unterschiedlichen Gewändern ist.

Tatsächlich basiert diese gesamte Argumentationslinie auf einer falschen Vorannahme, und zwar auf der Unterscheidung zwischen (sozialem) Konsens und Repression. Es ist offensichtlich, dass der Staat diese beiden Kontrollinstrumente benötigt und meiner Meinung nach erliegt keiner dem fatalen Fehler das zu leugnen. Aber zu erkennen, dass die Macht nicht alleine mit der Polizei oder alleine mit dem Fernsehen bestehen kann, genügt nicht. Es ist wichtig zu verstehen, wie die Polizei und das Fernsehen zusammenspielen.

Legitimation und Zwang erscheinen nur dann als unterschiedliche Zustände, wenn man (sozialen) Konsens als eine Form von immateriellem Apparat betrachtet, der die Materialität von Befehlen formt; in anderen Worten: Wenn man annimmt, dass die Produktion eines bestimmten psychologischen Verhaltens – das der Akzeptanz – irgendwo anders liegt, als in den Strukturen der Ausbeutung und Unterdrückung, die auf einer solchen Einstellung basieren. Von diesem Standpunkt aus betrachtet ist es irrelevant ob eine solche Produktion früher (zur Vorbereitung) oder später (als Rechtfertigung) stattfindet. Von Interesse ist nur, dass es nicht zur gleichen Zeit passiert. Und genau hier findet sich die Trennung von der ich gesprochen habe, wieder.

In der Realität existiert die Trennung zwischen der inneren Sphäre des Bewusstseins und der praktischen Sphäre des Handelns nur in den Köpfen – und Projekten – von Priester*innen aller Coleur. Aber schließlich sind selbst sie gezwungen ihren himmlischen Phantasien eine irdische Basis zu verleihen. So wie Descartes die Pinealdrüse zu dem Ort machte, an dem sich die Seele befindet, so wie die Bourgeoisie das Privateigentum zur Festung ihrer dürftigen Heiligtümer auserkor. Auf eine ähnliche Art und Weise muss der moderne Demokrat, der nicht weiß, wo er den (sozialen) Konsens hernehmen soll, auf Wahlen und Meinungsumfragen zurückgreifen. Als Letzter verortet der zeitgemäße Libertäre die Delegitimierungspraxis in einer “nicht-staatlichen, öffentlichen Sphäre” mit mysteriösen Grenzen.

(Sozialer) Konsens ist ebenso eine Ware, wie ein Hamburger oder das Bedürfnis nach einem Gefängnis. Wenn die totalitärste Gesellschaft diejenige ist, die weiß wie man den Ketten die Farbe der Freiheit verleiht, dann ist er tatsächlich zur Ware par excellence geworden. Wenn die effektivste Repression von der Sorte ist, die die bloße Sehnsucht nach Rebellion auslöscht, dann ist (sozialer) Konsens präventive Repression, die Polizierung von Ideen und Entscheidungen. Seine Produktion ist materiell, wie die der Kassernen oder der Supermärkte. Zeitungen, Fernsehen und Werbung sind Machtinstrumente, die Banken und Armeen ebenbürtig sind.

Wenn man das Problem auf diese Art und Weise formuliert, wir klar, dass die sogenannte Legitimation nichts anderes ist als ein Befehl. (Sozialer) Konsens ist Zwang und seine Auferlegung wird durch bestimmte Strukturen ausgeübt. Das bedeutet – und das ist die Schlussfolgerung, die niemand ziehen will – dass er angegriffen werden kann. Andernfalls würde man mit einem Phantom ringen, das, sobald es sichtbar wird, bereits gewonnen hat. Unsere Fähigkeit zu handeln wäre gleichbedeutend mit unserer Impotenz. Ich könnte die Umsetzung der Macht sicherlich angreifen, aber ihre Legitimation würde immer – und keiner wüsste woher – zurückkehren, sowohl vor, als auch nach meinem Angriff, und dessen Bedeutung annulieren.

Wie man sehen kann, beeinträchtigt mein Verständnis von der Realität der Herrschaft meine Fähigkeit die Revolte zu begreifen. Und umgekehrt.

Die Beteiligung an den Projekten der Macht hat sich ausgedehnt und der Alltag wird zunehmend davon kolonisiert. Stadtplanung macht polizeiliche Kontrolle teilweise überflüssig und virtuelle Realität zerstört jeden Dialog. All das erhöht die Notwendigkeit eines Aufstands (sicherlich eliminiert es ihn nicht). Wenn wir darauf warten würden, dass alle Anarchist*innen würden, bevor wir Revolution machen, sagte Malatesta, dann hätten wir ein Problem. Wenn wir auf die Delegimierung von Macht warten, bevor wir sie angreifen, dann haben wir ein Problem. Aber glücklicherweise ist zu Warten keines der Risiken der Unersättlichen. Die einzige Sache, die wir zu verlieren haben, ist unsere Geduld.

 


Übersetzung aus dem Englischen. Massimo Passamani. Patience in Freedom’s Disorder – A Collection of Texts by Massimo Passamani, erschienen bei Roofdruk Edities.

Im permanenten Kampf gegen die Gesellschaft und das Phantom der Politik

Eine kritische Analyse der insurrektionellen Methode

“(…) jeder ist völlig frei, sich zu dem Bestehenden nach eigenem Gutdünken zu verhalten, ob Anarchist oder nicht. Es ist aber auch nötig, dass jeder Anarchist gerade als solcher, sich fragt ob man die bestehende Macht bloß treffen oder wirklich endgültig niederschlagen will. Um diese grundsätzliche Frage kreist all unser Handeln und Verhalten gegenüber dem Bestehenden.

Denn, obwohl Anarchist, kann ein Individuum an die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Revolutionierung in libertärem und selbtsbestimmtem Sinne glauben oder nicht. Aber wenn ein Anarchist an die revolutionäre Möglichkeit glaubt, dann muss die Auseinandersetzung mit der bestehenden Macht jene großen Maße des subalternisierten Sozialen in Betracht ziehen, die in den Kampf miteinbezogen werden muss, nicht nur zum Zwecke der Erreichung einer genügenden Kraft zur Zerstörung des Bestehenden, sondern auch um sie anzuregen, Delegierungen, Enttäuschungen und Passivität zu überwinden und sich der Praxis der direkten Aktion, der Selbstverwaltung des Lebens an sich und der individuellen und kollektiven Selbstbestimmung anzueignen.

Genau darum sind die individuellen Aktionen zur offenen Bekämpfung der politisch-ökonomischen Macht und ihrer Strukturen und Personen – wenn sie sicherlich auch positiv sind, da sie zumindest die soziale Befriedung verhindern und, entgegen ihrem Anspruch, absolut und unangreifbar zu sein, die Schwäche der Herrschaftsmacht aufzeigen – auf der Ebene der aufständischen Revolution doch völlig ungenügend, wenn sie den Reaktionsweisen der proletarischen Massen auf ihre Ausbeutung und Unterdrückung nicht systematisch innewohnen. Anders gesagt, wenigstens wie ich es sehe, öffnet sich die aufständische Gelegenheit, worin der Anarchismus – bzw. die antiautoritäre Praxis – eine grundlegende soziopolitische Rolle übernehmen kann, nur wenn sich die individuellen Instanzen von Kampf und Angriff mit der Forderungen und Protesten reziprok durchdringen können, die von Fall zu Fall aus mehr oder weniger bedeutenden Massensektoren des unterdrückten Sozialen kommen. Wenn diese Einfügung bzw. diese gegenseitige Durchdringung fehlt, wird sich unser Handeln nicht nur als unverständlich, sondern Wo sind sie nur hin, die Nazissogar als weitab jeglicher Wo sind sie nur hin, die Nazisallgemeinen Wahrnehmung herausstellen, vor allem durch die terroristische Verfälschung, die der Staat und das Kapital bewerkstelligen werden.”

Auszug eines Briefes von Costantino Cavalleri an Luca Farris (Nihil, Nr. 3-4 S. 36-37).

Dieser Abschnitt von Constantino Cavalleri drückt die Grundvorraussetzungen der sogenannten “insurrektionellen Methode” (oder anders gesagt, der “insurrektionalistischen” Herangehensweise des Anarchismus) klar aus. Die Bestrebung mit den Massen aufständische Versuche zu unternehmen, die schon seit dem neunzehnten Jahrhundert von einigen Anarchist*innen theoretisiert und experimentiert wurde, wovon der bekannteste Errico Malatesta ist (der auch verschiedene Texte hinterlassen hat, in denen von dem die Rede ist, was die anarchistische Herangehensweise an den Aufstand sein sollte), ist zwischen Ende der 70er bis Anfang der 80er Jahre in den Texten von Alfredo Maria Bonanno, Pierleone Porcu, Costantino Cavalleri und anderen Genoss*innen wiederaufgenommen und revidiert worden. Diese haben den zentralen Corpus intakt gelassen, wollten aber die organisatorischen Strukturen revidieren.

Eine der Grundvoraussetzungen der insurrektionellen Herangehensweise ist der alte Mythos der sozialen Revolution. Das ist das ideale Ziel, indem eine radikale Transformation der Strukturen der Gesellschaft im anarchistischen Sinne erreicht werden kann, auf dessen Basis die insurrektionellen Anarchist*innen jeden eigenen Eingriff in die Realität betrachten; eine romantisierte Anschauung der ärmsten Klassen, wonach ihnen die marginalisierte soziale Stellung und Vertrautheit mit der Gewalt des täglichen Überlebenskampfes eine potentielle Neigung zur Revolte und eine ideale Komplizität mit denen verleihen würde, die gegen die Autorität kämpfen; folglich ein Glaube in die Erweckung der ausgeschlossenen und ausgebeuteten Massen, der den Veränderungen wenig Rechnung trägt, die in den letzten Jahrzehnten die westlichen menschlichen Gesellschaften in spasmodische Konsumgesellschaften verwandelt haben, die vom Spektakel und der fortgeschrittenen Technologie einer immer stärkeren Entfremdung unterworfen sind, und wo die verschiedenen sozialen Klassen (die aufgrund der ökonomischen Unterschiede fortbestehen) immer mehr dieselben ethischen Werte der Verteidigung des herrschenden Systems und die Bestrebungen zur immer stärkeren Integration teilen, anstatt sie zu zerstören. Folglich hat sich die Situation gegenüber dem neunzehnten Jahrhundert bedeutend verändert. Heutzutage erscheinen die wirklich revolutionären Möglichkeiten immer ferner zu sein. Dieses Vertrauen in eine eines Tages zur Anarchie führende Revolution – was Stirner als ein weiteres der zahlreichen Phantome, die die Wirklichkeit überlagern, identifizieren würde – brachte einige Anarchist*innen zur Entwicklung von Methodologien des Eingriffs ins Soziale, die den revolutionären Prozess beschleunigen oder dann zumindest einige Personengruppen, die aus Gründen ihres täglichen Überlebenskampfes eh schon mit der Autorität in Konflikt stehen, dazu bringen möge, improvisierte Momente der Konfliktualität und der Selbstverwaltung auszudrücken, in der Hoffnung, dass sich der Konflikt danach bis zur Auslösung des allgemeinen Aufstandes verbreite.

Um zur Passage Costantino Cavalleris zurückzukommen, es ist überflüssig sich zu fragen ob man die Macht “wirklich definitiv stürzen” oder bloß treffen will; klar wollen alle Anarchist*innen die Macht niederschlagen. Das Problem ist, dass der Wille wohl auf einen unendlich fernen Horizont gerichtet werden kann, aber man muss sich mit den aktuellen realen Bedingungen, wogegen sich dieser Wille äußert, ehrlich auseinandersetzen. In Zeiten eines wie heute verbreiteten sozialen Friedens und völlig anderen sozialen Zustandes, bedeutet der Vorschlag einer gegenüber einem Jahrhundert vorher substantiell unveränderten Analyse der Wirklichkeit etwas aufzubauen, das eher einer Religion, als einer plausiblen Aktionspraxis gleicht.

Die Kritik, die ich vorlegen will, bezieht sich vor allem auf einige Versuche der praktischen Anwendung der insurrektionellen Methode, die in den vergangenen Jahren von einigen Anarchist*innen aufgrund einer besonderen Auslegung des Insurrektionalismus gemacht wurden und ein weiteres Gespenst aufkommen ließen, nämlich das der Politik. Wie, das werden wir detaillierter sehen. Aber sie richtet sich auch gegen einige dieser Herangehensweise innewohnenden Grundvoraussetzungen, die meiner Meinung nach, von Anfang an schon problematisch sind und solche Verirrungen möglich machen.

Ich nehme den Denkanstoß aus einem kürzlich erschienen Essay aus dem spanischen Raum “Cuando se senala la luna. A vueltas con el insurreccionalismo” (Wenn man auf den Mond zeigt. Manchmal mit dem Insurrektionalismus) auf, das von einigen Anarchist*innen geschrieben wurde. Ein Buch, das ein für alle Male über die Bedeutung der insurrektionellen Methode Klarheit verschaffen und auf die Kritiken entgegnen möchte, die im Verlaufe der Zeit von verschiedenen Kreisen (vor allem von linken und hauptsächlich von marxistisch-leninistischen) erhoben wurden. Was mich betrifft, bestätigt es bloß einige von mir schon gehegte Zweifel.

In diesem Artikel beziehe ich mich auf das, was als “klassische” Auslegung des Insurrektionalismus verstanden wird, wie sie fast wortwörtlich seit ihrer anfänglichen Formulierung von einigen Anarchist*innen interpretiert wurde, die einige ihrer heikelsten Aspekte sogar verschärft haben, wie die qualvolle Suche nach sozialem Konsens als Voraussetzung für jeglichen aufständischen Versuch.

Ich bin mir jedoch der Tatsache bewusst, dass der Insurrektionalismus kein Monolith aus Konzepten und Praktiken ist, die im Laufe der Zeit feststehen und gegen jegliche Infragestellung immun sind. Seit Ende der 90er Jahre sind denn auch verschiedene anarchistische Aktionsgruppen in Erscheinung getreten, die obwohl sie sich theoretisch sehr wohl auf den Insurrektionalismus bezogen haben, demselben eine stark veränderte Interpretation gegeben und einige derselben Aspekte in Frage gestellt haben, womit ich mich in diesem Artikel auseinandersetzen werde: Diese Gruppen und Individuen haben sich zu Beginn ihres persönlichen bewaffneten Aufstandes entschieden ohne den Konsens der Massen abzuwarten. In Anbetracht der drastischen Veränderungen, die sie an einigen der Grundvoraussetzungen dieser Herangehensweise vorgenommen haben, stelle ich mir die Frage, ob sie unbedingt die Definition “Insurrektionalismus” beibehalten mussten? Jedenfalls scheint die Tendenz dieser neuen informellen anarchistischen Gruppen eine progressive Abwendung von diesem Begriff und dessen historischem Erbe zu sein.

Vor allem muss geklärt werden, was man unter insurrektioneller Herangehensweise versteht. Es handelt sich um eine Herangehensweise an den Kampf, die aus Folgendem besteht: “von einer Hypothese des Eingriffs in die soziale Konfliktualität auszugehen um die verschiedenen Mechanismen der Herrschaft – Strukturen, Personen und Mittel – zu erforschen und anzugreifen, mit dem Ziel der Gemeinsamkeit in einem selbstorganisierten und destruktiven Weg, der den Aufstand anspornen kann” (Cuando se senala la luna S. 140).

Ihre Anhänger*innen legen Wert darauf klarzustellen, dass es sich weder um eine Ideologie noch um eine Theorie handelt, sondern bloß um eine Methode der Organisierung oder des Eingriffs, die sich so oder so mit ihrer praktischen Anwendung auf dem Terrain der Wirklichkeit auseinandersetzen muss. Da in den von uns bewohnten Gegenden ein spontaner Aufruhr der Bevölkerung eher selten vorkommt, wurde die “insurrektionelle” Methode in den letzten Jahren zu einer anarchistischen Methode des Eingriffs in schon bestehende soziale Kämpfe oder zum Maßstab zur Schaffung neuer mit dem Zweck des direkten Miteinbezuges auch von Menschen ohne vorgängigen politischen Weg, von anderen “Ausgebeuteten”, “Ausgeschlossenen”, “Proletarier*innen” oder “Lumpenproletarier*innen”, wie sie im kommunistischen/anarchistischen Sprachgebrauch genannt werden. Selbstverständlich wäre die Absicht des Ganzen, die Rebellion dieser Menschen zu unterstützen oder anzuregen, um gemeinsam aufständische Bewegungen anzustoßen. Aber wo, wie so oft der Fall, beim größten Teil der Menschen der Mangel an rebellischem Geist mit Händen greifbar ist, genügt der Eingriff der Anarchist*innen nicht, um dort eine Revolte anzuregen, wo der Drang danach schon von Anfang an fehlte. Ab und zu sind es dann schlussendlich gerade die Anarchist*innen, die ihre eigenen Tonlagen und Inhalte niedrig halten, um sich der Stimmungslage der Leute anzupassen.

Es geht also nicht nur darum, wie einige meinen, die spontanen aufständischen Momente nicht zu verpassen und sich an ihnen mit schon vorbereiteten spezifischen technischen Kompetenzen und den richtigen Mitteln zu beteiligen, und auch nicht darum, die individuellen und kollektiven Aktionen des Bruches (mit dem System), die andere inspirieren mögen, sofort zu vollziehen um anderen affinen Geistern die Tür offen zu halten. Die insurrektionalistische Methode sieht eine langfristige Projektualität und komplexe Strukturen (die jedoch als “fluide” beschrieben werden), und einerseits Affinitätsgruppen und andererseits Vollversammlungen, Komitees und Koordinierungen vor, im Versuch, Kampfprojekte zu schaffen, die eine anarchistische Minderheit mit anderen sozialen Kategorien vereinen können.

Die in den 80er Jahren getätigte theoretische Überprüfung der insurrektionellen Methode entstand aus der Ablehnung vieler Anarchist*innen der vor allem früheren formal starr und synthetisch organisierten Strukturen, die heute in einer immer marginaleren Position überleben. In unserem Land ist Federazine Anarchica Italiana (FAI) die Bekannteste. Die zwischen den 70er und den 80er Jahren stattgefundenen Veränderungen in der kapitalistischen Produktionsweise, die Abschwörungen und Reuebekundungen vieler Menschen die in den Jahren vorher am kollektiven Kampf gegen den Staat teilgenommen hatten und das Gefühl der Niederlage und Befriedung der 80er Jahre analysierend, schlugen einige italienische Genossen zum Eingriff in die Realität der Kämpfe eine Modalität vor, die sich vom schalen Anarchismus der Föderationen und der Großbuchstaben unterschied.

Als Antwort auf diese alten sklerotischen Organisationsformen schlug die insurrektionelle Herangehensweise an die Anarchie vor, die Kämpfe auf einige Grundprinzipien zu gründen: nämlich Selbstorganisierung, permanente Konfliktualität, Affinitätsgruppen und Angriff, mit dem Zweck bessere Grundvorraussetzungen für einen Massenaufstand zu schaffen. Selbstorganisierung, Konfliktualität, Affinität und Angriff sind jedoch schon immer die Methoden einer bestimmten Art, Anarchie zu leben, die am Rande der großen Organisationen eh schon immer existierte. Es gibt zahllose historische Beispiele, wie Feind*innen der Autorität sich so organisierten, um gegen die Macht zu konspirieren, unter anderem ohne die Notwendigkeit der Unterstützung des Volkes und ohne zu viele Theoretisierungen. Wenn überhaupt, dann waren es die großen Organisationen, die mit ihrer Rigidität an einem gewissen Punkt der Geschichte eingriffen, um einen Teil dieses anarchischen Spontaneismus einzudämmen und abzuwürgen. Daher kommt die Frage auf, woher dieses Bedürfnis kommt, Seiten um Seiten mit Theorien über die Bedeutung der Affinitätsgruppen und der informellen Organisation zu füllen (übrigens oft auf sehr abstrakte Weise), wenn es in Wirklichkeit doch nichts Neues ist und es genug wäre, einige historische Kampferfahrungen der anarchistischen aber auch anderer Bewegungen erneut hervorzuholen, um auf Anhieb verständlich zu machen, was man meint, und um den Sinn des Diskurses erneut praktisch umzusetzen.

Es stimmt, dass diese Basiskonzepte von den am stärksten bürokratisierten Splittergruppen des Anarchismus missachtet wurden, indem sie gewerkschafts- und parteiähnliche stabile Bünde bildeten, die der Einzelinitiative Grenzen setzten. Wohl davon kommt in jenem besonderen historischen Kontext die Notwendigkeit einer Neudefinierung des Insurrektionalismus, um damit den Bruch mit den alten Methoden zu vollziehen und um andere Möglichkeiten der Organisierung, “informellere” eben, zu stärken. Aber wie wir sehen werden, ist auch die insurrektionelle Methode gerade wegen ihrer Zielsetzungen nicht vor der Gefahr gefeit, auf dem richtigen Wege, den es zu beschreiten gilt, Einschränkungen aufzuerlegen und Richtlinien vorzugeben.

Jenseits der zitierten und schon immer auch dem individualistischen Anarchismus eigenen Aspekte (Affinität, Selbstorganisierung, Angriff) ist für die insurrektionelle Herangehensweise der Wunsch charakteristisch, über das insurrektionelle Projekt mit der Gesellschaft zu interagieren. Da die soziale Revolution der ideale Horizont des Insurrektionalismus ist, ist eine seiner Grundvoraussetzungen denn auch die Notwendigkeit, mit den “Leuten” zusammen zu kämpfen, bzw. mit Menschen ohne schon bestehende Affinität, was eine ganze Reihe von Schwierigkeiten und Gegensätzen mit sich bringt.

Wenn sich die Menschen in Zeiten einer wie heute kargen sozialen Konfliktualität ohne ein erweitertes Bewusstsein der Herrschaftsverhältnisse an einem gewissen Punkt ihres Lebens gegen irgendwas mobilisieren, tun sie es sicher nicht für große Ideale, sondern aus rein egoistischen und unvorhergesehenen Gründen. Menschen, die sich nie um die verschiedenen “Ungerechtigkeiten” in ihrer Umgebung gekümmert haben, sind in einigen Fällen bereit, sich aufs Spiel zu setzen, wenn diese Ungerechtigkeiten etwas treffen, was ihre Grundbedürfnisse angeht (Lohn, Wohnung, Arbeit, usw.). In der Mehrheit der Fälle sind diese Menschen nur an der spezifischen und sie betreffenden Frage interessiert und teilen unsere Analyse der Wirklichkeit, unsere revolutionären Bestrebungen oder unsere Methoden nicht, die sie als zu extrem, kontraproduktiv oder unverständlich betrachten, als mit der Gegenseite zu wenig dialogbereit und folglich wenig geeignet, um sofortige Resultate zu erzielen.

Diese Gegensätze werden von den Anarchist*innen, die sich mit nicht affinen Personen auf soziale Kämpfe einlassen, in der Regel auf zweierlei Weisen gehandhabt. Selbstverständlich werde ich schematisieren müssen, da diese Positionen nicht immer so scharf umrissen sind, sondern es darunter auch Mittelwege geben kann.

In der ersten, meiner Meinung nach einzig akzeptablen Herangehensweise, gibt es die totale Transparenz, indem im Moment der Lancierung eines neuen Kampfes die eigenen Ansichten und Absichten mitgeteilt werden. Durch Diskussionen, Texte, Flugblätter, usw. offenbaren die Anarchist*innen klar und deutlich ihre über den von ihnen aufgenommenen, spezifischen Kampf hinausgehenden Analysen der Wirklichtkeit und der Herrschaftsverhältnisse. Ihr Vorschlag ist klar: weder Vermittlung, noch Bevollmächtigung. Das Einzige was zu tun ist, ist der direkte Angriff auf die Verantwortlichen der Unterdrückung, mit dem Ziel der totalen Subversion dieser Sachlage. In dieser Herangehensweise sehe ich keinerlei Gegensatz. Der Wille, die Tür für eventuell neue Kompliz*innen offen zu lassen ist da, ohne sich selbst und die eigenen Ideen zu kompromittieren. Einige vergangene und gegenwärtige Beispiele dieser Herangehensweise sind der Kampf gegen das Mega-Gefängnis von Brüssel, der Kampf gegen das Abschiebelager “Regina Pacis” in Leece und der Kampf gegen die Räumung der “Banc Expropriat” in Barcelona. Alles Beispiele, die unter anderem im Buch “Cuando se senala la luna” ausführlicher beschrieben werden.

Wenn diese Transparenz gepflegt wird, bleiben uns jedoch, leider, die dermaßen erwünschten “unterdrückten” Splittergruppen der Gesellschaft fern. Manchmal nähern sich uns sogar die nicht an, die von den Projekten, die man zu bekämpfen versucht, eigentlich am stärksten bedroht sind, außer in seltenen und isolierten Fällen, und der Kampf wird dann schlussendlich von derselben anarchistischen Affinitätsgruppe weitergeführt, die ihn begonnen hat. Diese Menschen werden lieber zuhauf jenen Komitees und Vereinigungen beitreten, die klassischer demokratische und weniger radikale Methoden vorschlagen und auf legale und medienwirksame oder hochsymbolische Aktionen ausgerichtet sind.

Wenn der Kampfvorschlag nicht von den Anarchist*innen kommt, sie aber versuchen, sich in einen schon bestehenden Kampf einzufügen, kommt es bei der transparenten Herangehensweise früher oder später mit großer Wahrscheinlichkeit bisweilen zu unlösbaren Konflikten und Divergenzen mit den anderen teilnehmenden Menschen. Die Diskussionen um dermaßen voneinander entfernte Weltanschauungen oder über die Notwendigkeit, diesen oder jenen Kompromiss einzugehen, werden immer reger. In dieser Auseinandersetzung werden die mit der besseren Rhetorik siegen, oder wahrscheinlich die, die mit dem richtigen Schwung die sinnvolleren Dinge (aus der Sicht des herrschenden Gedankengutes) sagen werden. Logischerweise werden die im Lande oder Stadtteil bekannteren Personen etwas mehr Gewicht haben, auf ihre Meinungen wird man eher hören als auf die Meinungen jener, die wie die Anarchist*innen extremistisch denken, oder, noch schlichter gesehen, von außen kommen oder sich schwarz kleiden. Wie aus der Sackgasse herauskommen wenn es keinen Konsens zu dem gibt, was zu tun ist? In einigen Fällen werden die Anarchist*innen versuchen, sich in Beharrlichkeit zu üben um ihre Ideen durchzusetzen und die Dinge überstrapazieren, was die Gefahr birgt, autoritär zu erscheinen, oder sie werden der Versammlung fernbleiben und sich außerhalb derselben weiter organisieren. In anderen Fällen werden sie schlussendlich einige Kompromisse eingehen, die sie gegenüber sich selbst auf verschiedene Weisen zu rechtfertigen versuchen werden, in der Gewissheit, dass die Zeit ihnen recht geben wird. Wenn eine solche Situation sich eine gewisse Zeit lan hinzieht, wird die Frustration in einem der beiden Lager überhand nehmen und eine große Anzahl Menschen die Gruppe verlassen.

Da insurrektionelle Anarchist*innen auf dem Terrain erfahren haben, wie sehr diese Herangehensweise schlussendlich oft scheitern wird, haben einige insurrektionalistische Anarchist*innen in den letzten Jahren eine graduelle Herangehensweise und Verwässerung der eigenen Inhalte bevorzugt. Auf diese Herangehensweise konzentriere ich meine Kritik.

Das Ziel einiger dieser Versuche war, jenseits der spezifischen Ausgangsfrage mit der Zeit bei den Menschen Konsens und Vertrauen aufzubauen, um ihnen “beizubringen”, anarchistische Methoden zu übernehmen (Selbstorganisierung, Ablehnung der Bevöllmächtigungen, usw., als könne man die Freiheit lehren) und sie graduell zu einer schärferen Konfliktualität zu treiben. Aber hier schleicht sich der Keim der Politik ein. Tatsächlich heißt Gradualismus die wirklich eigenen Ideen und Absichten anfänglich nicht kundzutun und in Erwartung besserer Zeiten die bittere Pille einiger inakzeptabler Kompromisse zu schlucken. Das heißt oft die Mittel zu übernehmen, die der traditionellen Politik gehören: Anpreiserei, Halbwahrheiten, Populismus. Das bedeutet, das eigene Langzeitprojekt nicht offenzulegen und die Aufmerksamkeit auf partielle Forderungen zu lenken, mit denen man manchmal nicht einverstanden ist, um den Konsens und das Vertrauen der Anwesenden zu gewinnen und so das wirkliche eigene Ziel zu erreichen. Das heißt oft auch über jene zu richten, die nicht dieselbe Methode anwenden, weil man dann beginnt, einige Praktiken (falls sie nicht zum Zeitpunkt und am Ort angewendet werden, die man für die richtigen hält) als Störung der langsamen Vertrauensaufbauarbeit zu betrachten, die man im entsprechenden Kontext voranbringt.

Diese Herangehensweise, die in den letzten Jahren in verschiedenen sozialen Kämpfen, an denen die Anarchist*innen in Italien teilgenommen haben, übernommen wurde, weist viele heikle Punkte auf, die ich vertiefen will. Angefangen bei der Frage des Endzieles der Praktizierung dieser Methode, des Horizontes den man erreichen will: den Aufstand, als die höchste Motivation, die alle vorherigen Kompromisse entschuldigen sollte.

Wir sehr die gewichtigsten Theoretiker*innen des aufständischen Anarchismus auch andauernd darauf beharren, dass von einer Methode und nicht von einer Theorie die Rede ist, so ist es doch so, dass auch der Insurrektionalismus von einigen Grundvoraussetzungen, von einigen Hypothesen und mittel- und langfristigen Zielen ausgeht, also eine Theorie ist.

Das mittelfristige Ziel ist die Schaffung von Bruchmomenten und die Verbreitung einer schärferen Konfliktualität. Die spezifischen Kämpfe, auch wenn die Forderungen nicht gänzlich geteilt werden, sind für die aufständischen Anarchist*innen ein Sprungbrett für ein anderes Ziel: Die Bildung eines Beziehungsnetzes, die Verbreitung der Praxis der Selbstorganisierung und der Konfliktualität gegen die Macht, die Anhebung der Konfliktebene in einer auf die Zukunft ausgerichteten Perspektive. Die insurrektionelle Methode hat mittelfristig das Ziel, ihre sichtbare Verbreitung zu erleben. “Das Wichtige an einer Methode und der Möglichkeit, dass ihre Praktizierung sinnvoll ist, ist ihre mögliche Verallgemeinerung” (Cuando se senala la luna).

In den insurrektionellen Analysen und Praktiken setzt man meiner Meinung nach zu sehr auf die Methode zum Nachteil der Motivationen, die zum Kampf treiben, zum Nachteil der Analysen der Wirklichkeit und deren Herrschaftsverhältnisse, zum Nachteil der uns bewegenden Spannung und Bewusstwerdung. “Was zählt, ist die Methode” (A. M. Bonanno). Was aber ist eine Methode, wenn sie von der Motivation und den Zielen getrennt ist, die die Hände, das Herz und den Kopf zum handeln bewegen?

Viele Anarchist*innen werden von der Zentralität des insurrektionellen Projekts bewegt, an partiellen und spezifischen Kämpfen teilzunehmen um mit anderen sozialen Splittergruppen in Kontakt zu treten. Wenn das klare, exoterische und unvorhergesehene Ziel einer gewissen Mobilisierung mit diesen kleinen oder großen Personengruppen geteilt wird, mit denen man sich organisiert (gegen Hausräumungen, den Bau einer Hochgeschwindigkeitslinie oder einer Müllverbrennungsanlage, die Neubestimmung eines Stadtteils, Entlassungen, usw.), hat es andere mittel- und langfristige Ziele, die denselben Menschen mit denen man kämpft unbekannt sind, aber den eigentlichen Antrieb des insurrektionellen Projektes darstellen.

Es stimmt, dass diese Kämpfe auch zu konfliktuellen Momenten führen können, aber diese bleiben letztlich kurzlebig wenn die Beteiligten keine weitergehendere und vertiefendere Kritik des Bestehenden entwickeln – wozu es oft genau kommt, weil die Anarchist*innen “praktisch bleiben” wollen und sich nicht allzuviel Sympathien verscherzen möchten. Sich mit etwelchen sporadischen “Bruchmomenten” zufriedenstellen zu lassen, wo auch einige Stadtteilbewohner*innen oder Landsleute (eine oft minderheitliche und passive Präsenz) dabei sind, bedeutet nach Monaten oder Jahren an leeren Vollversammlungen und Kompromissen aller Art ein Spiel mit immer tieferem Einsatz zu betreiben. Das einem Zufall zu verdankende Konfliktmoment wird bald enden wenn sich zwischenzeitlich keinerlei weitere Reflektion und Bewusstwerdung im Kopf der Teilnehmer*innen entwickelt hat, und wer daran teilgenommen hat, wird ohne allzuviele Fragen zu stellen, zum vorherigen Leben als Rädchen im System zurückkehren.

Übrigens ist das alles unvermeidlich, wenn der Akzent einzig auf die Methode und nicht auf die tiefsten Gründe gelegt wird, für die es sich zu kämpfen lohnt. Hier taucht ganz offensichtlich das Erbe der linken Mentalität und des historischen Materialismus in den Kämpfen mit aufständischen Bestrebungen auf, die auf der Suche nach Konsens um jeden Preis verlaufen. Die Wahl des Eingriffsbereiches bezieht sich oft nur auf die Befriedigung der materiellen Grundbedürfnisse der in den größten Schwierigkeiten steckenden Menschen, wie etwa ihr Bedarf nach einem Dach über dem Kopf, einer Arbeit, einer Aufenthaltsbewilligung. Kämpfe, die in eher zwielichtige Positionen münden können, wenn sie nicht von einem Diskurs der ausdrücklichen Ablehnung der Arbeit, des Staates und seiner Gesetze, der Identitätskarten, usw., also des Systems als Ganzes münden, was sicher nicht von allen beteiligten Menschen geteilt wird. Das scheint nicht als unüberwindbares Problem betrachtet zu werden, mit dem Ergebnis einer grundlegenden Zweideutigkeit in den Forderungen, die oft die Idee zu bestätigen oder zu bekräftigen scheinen, dass das Problem nicht so sehr der Staat, sondern eher dessen Ineffizienz in der Befriedigung der Grundbedürfnisse der Menschen sei. So endet man in der unfreiwilligen Förderung einer stärkeren Abhängigkeit vom System, anstatt für die Freiheit aller die Notwendigkeit seiner Zerstörung zu unterstützen.

Oft werden diese Kämpfe auf die Beziehung zu den Menschen ausgerichtet, die von den materiellen Privilegien der üppigen westlichen Gesellschaften ausgeschlossen sind. Das nicht so sehr und nicht nur, weil man dieselben sozialen Probleme teilt, oder sie empathisch fühlt obwohl man sie nicht selbst erlebt, sondern weil sie auf Grund ihrer sozialen und wirtschaftlichen Lage als potentielle revolutionäre Subjekte (oder “insurrektionelle”) betrachtet werden und man folglich ihr Vertrauen gewinnen will.

Darüber hinaus stellt sich in dieser Art von Kämpfen von der Befriedigung der materiellen Bedürfnisse einmal abgesehen, folgende Frage: wieviel Raum wird denn den Reflektionen über die Wünsche, die existenziellen Bedürfnisse, die Lust nach einem vollen und erfüllenden Leben auch auf der persönlichen und beziehungsmäßigen Ebene gelassen? Fast keiner.

In der Praxis sieht diese Art sich zu organisieren kleinere Gruppen aus wenigen Menschen vor, die von einer tiefen Bekanntschaft und einem großen Vertrauen vereint sind (Affinitätsgruppen) und größere Gruppen, die sowohl Anarchist*innen, als auch “andere Ausgebeutete” miteinbeziehen (Basiszellen, Koordinierungen). Sie drückt sich in einer langen Reihe von mehr oder weniger breiteren Versammlungen und Treffen aus, die oft die typisch schädlichen Mechanismen der Vollversammlung reproduzieren: Leadership, Machteifer, Weitschweifigkeiten und Zeitverschwendung … Dermaßen, dass man sich manchmal fragen kann, was in einer solchen Struktur an Informellem überhaupt noch übrig bleibt.

Das langzeitliche Ziel, das Exoterische, Stillschweigende, der sich vielleicht nie realisierende Traum ist der allgemeine Aufstand, der bestenfalls zur dermaßen ersehnten Sozialen Revolution führen könnte. Oder, als Alternative, falls er unabhängig von unserem Willen stattfände, zur Anführung des Aufstandes mit einem zuvor ausgearbeiteten Projekt ausgerüstet zu sein – um so zu versuchen, das Rennen mit anderen politischen Gruppen zu gewinnen, die sich die Straße (und die Macht) nehmen wollen. Die anarchistische Spannung wird so zu einer weiteren politischen Partei unter allen anderen.

“Diese Momente sind der mächtige Reflektor, der ein revolutionäres und anarchistisches Projekt umsetzbar macht, aber dieses Projekt, wenn auch nur in seinen methodologischen Linien, muss von vorneherein bestehen, muss vorher ausgearbeitet werden und, wenn auch nicht in allen Details, soweit wie möglich erprobt werden” (A. M. Bonanno “insurrektionalistischer Anarchismus”).

Man kämpft heute, ohne unnötige Warterei, in auch minderheitlichen Fragen mit Bezug zu den realen strategischen Knoten der Herrschaft, aber “auf eine mögliche zukünftige Verwirklichung” ausgerichtet. “Es gibt kein Projekt ohne einen Glauben in die Zukunft”. “Der anarchistische Insurrektionalismus als Projekt und als Aktion, der sich nie vervollständigen wird, weil er sich permanent auf die Zukunft ausrichtet” (A. M. Bonanno).

Methode und Strategie haben keine Existenzberechtigung außer als pragmatische Hypothese zur Erreichung eines Zieles. Und das Ziel ist in diesem Falle die gute alte Soziale Revolution oder zumindest der Aufstand (der manchmal nicht als Vorbote einer möglichen Revolution betrachtet wird und die, die nicht mehr daran glauben, würden sich mit ein bisschen gesunder nihilistischer Zerstörung begnügen). Aber Aufstand von wem gegen wen? Zu welchem Zwecke? Mit welchen Motivationen? Das scheint der insurrektionalistischen Analyse nicht so wichtig zu sein. Die dem Aufstand gewidmeten Seiten sind in vielen anarchistischen Texten reine Poesie, choralische Höhenflüge der Phantasie darüber, wie jeder Moment des Aufstands mit jeglichem etablierten sozialen Verhältnis, mit jeglicher mentalen Barriere zu brechen bedeute und die unendliche Gelegenheit zur Rache sei.

Man will hier die Freude nicht bestreiten wenn man, und sei es auch nur einen Tag lang, mit hunderten anderen Menschen Auseinandersetzungen mit der Polizei oder die Brandschatzung von Stadtfetzen erlebt und daran teilnimmt. Aber etwas anderes ist es, sich der Illusion hinzugeben, es könne zu einer sozialen Veränderung in libertärem Sinne führen. Viele der insurrektionellen Momente, die in den letzten Jahren in den westlichen Metropolen u.a. immer seltener ausgebrochen sind, haben eher als improvisiertes Ventil für sehr viele ausgeschlossene, ausgebeutete oder diskriminierte Menschen funktioniert, bevor sie nach der ersten Dosis Repression wieder völlig zum Alltag der Herrschaftsverhältnisse zurückgekehrt sind.

Andererseits kann ein Geschehnis nicht von seinen ursächlichen Motivationen abgespaltet werden, und doch ist das der Fehler, den viele Anarchist*innen machen, wenn sie den Akzent weiterhin einzig auf die Methode und nicht auf die Motivationen setzen, die zur Aktion treiben. Wie würden wir uns verhalten, wenn der Aufstand gegen die Regierung ausbrechen würde weil sie als nicht präsent genug betrachtet wird (die Grundvoraussetzung derjenigen, die z.B. das “Recht auf Wohnraum” einfordern)? Ist das Bild von lumpenproletarischen Massen negativ oder positiv, die Elektronikgeschäfte plündern, weil auch sie einen der neuesten Computer oder das neueste Handy haben wollen? Und wenn wirtschaftlich benachteiligte Personengruppen zum Aufstand bewegt werden, weil sie rassistisch ablehnen, Immigrierte in ihrem Territorium aufzunehmen, da sie diese als Bedrohung im Wettstreit um Arbeit betrachten? Was soll man denn zum Aufstand vor einigen Jahren gegen die Regierung in der Ukraine sagen, der wohl von einer allgemeinen sozialen Frustration, aber auf von überhaupt nicht zu teilenden pro EU Bestrebungen ausgelöst wurde, und Arm in Arm mit neonazistischen und rechtsextremistischen Gruppen verlief? Denken wir wirklich, der Aufstand habe unbedingt eine anarchistische Seele oder sei leicht in diesem Sinne zu kanalisieren?

Abgesehen von ihren Motivationen läuft die insurrektionalistische Analyse manchmal große Gefahr, einer Verherrlichung der rebellischen Geste an sich zu verfallen; vor allem einer Verherrlichung der rebellischen Geste, wenn sie von vielen Menschen gleichzeitig vollbracht wird. Doch wenn heutzutage in der westlichen Welt Aufruhr ausbricht, handelt es sich oft um die Reaktion auf eine erneute Situation von Gewalt, Diskrimnierung und Missbrauch, die eine bestimmte soziale Kategorie trifft, oder um den unerfüllten Wunsch der Ausgeschlossenen nach einem Zugang zur schillernden Welt der Waren, des Geldes und des materiellen Wohlstandes, die anderen Klassen zugägnglich ist. Substantiell ist es der Wunsch nach einem Miteinbezug in die verrottete kapitalistische Welt, die wir hingegen zerstören möchten.

Wir uns verschiedene historische und zeitgenössische Beispiele zeigen, können Aufstände aus völlig unterschiedlichen Motivationen ausbrechen und eine libertäre, sowie reaktionäre Schubkraft haben. Jedenfalls sind es in der Regel spotane und unvorhersehbare Bewegungen, die in Zeiten ohne etwelche soziale Gärung, nicht von einer Minderheit vom grünen Tisch aus verursacht werden. Das Projekt, sich nicht unvorbereitet überraschen zu lassen und schon klare Ideen darüber zu haben, was zu tun ist, falls und warum auch immer eine Volksbewegung im eigenen Territorium ausbricht, ist richtig und stichhaltig. Aber hier ist von etwas anderem die Rede.

Die Entscheidung, alle eigenen Energien in Kämpfe einer bestimmten Art zu investieren, die gegenüber anderen vorgezogen werden, weil man denkt, sie könnten mehr Menschen mobilisieren und die besseren Chancen bieten, kurzfristig lokale Konflikte mit der Autorität und zukünftig vielleicht einen breiteren Aufstand zu verursachen, bleibt oft eine nicht diskutierte und nie in Frage gestellte Selbstverständlichkeit. Das nicht explizit genannte ideale Ziel ist, den Großen Tag einer anerkannten Maßgeblichkeit bei “den ausgebeuteten Menschen” zu erreichen, um den Aufstand dank der Präsenz eines breiteren Kreises von miteinander bekannten Menschen, die so zur Befolgung unserer Weisungen bereit sind, anführen zu können.

Diese Annahmen setzen Entscheide voraus. In der praktisch auf einem messianischen Glauben in die Zukunft basierenden insurrektionellen Perspektive (aber ist denn wirklich wahrscheinlich, dass gerade wir eine aufständische Bewegung ins Leben rufen werden? Oder dass sie genau im Stadtteil geschehen wird, wo wir jahrelang unsere Beziehungen aufgebaut haben?), fällt der Entscheid zum bestmöglichen Einsatz der eigenen Energien auf die kontinuierliche Teilnahme mit nicht affinen Menschen an einigen bestimmten Arten von Kämpfen – die unter anderem keinerlei Garantie bieten, die erhofften Resultate zu erzielen – anstatt die eigenen Energien in ein individuelles Angriffsprojekt gegen die Herrschaft oder in die eigene Affinitätsgruppe zu investieren, deren Bedeutung hingegen herabgewürdigt wird:

“Das charakterisierende Element dieses Projektes ist jenseits der Worte oder der Motivationen, die es analytisch mehr oder weniger vertiefen und praktisch wirksam machen, durch die Präsenz der Ausgeschlossenen, also der Leute oder der mehr oder weniger zahlreichen Massen gegeben (…). Die Teilnahme der Massen ist also das grundlegende Element des insurrektionellen Projekts und da Letzteres von einem Zustand der Affinität der einzelnen teilnehmenden anarchistischen Gruppen ausgeht, ist es auch das grundlegende Element dieser Affinität selbst, die armselige elitäre Kameraderie bleiben würde, falls sie sich auf die gegenseitige Suche nach einer vertiefteren persönlichen Bekanntschaft unter Genossen beschränken würde” (A. M. Bonanno).

Jenseits von allem, wieso sollten ein oder mehrere Tage allgemeiner Auseinandersetzungen, die man (bestenfalls) nach Jahren zunehmender Mobilisierung erreicht, mehr wert sein, als hunderte von direkten Aktionen, die von verschiedenen Affinitätsgruppen kapillar durchgeführt wurden? Könnten die von anarchistischen Individuen und Gruppen durchgeführten Projekte außer ihrem Wert an sich, nicht ebenfalls andere Menschen mit rebellischem Geist zum Handeln inspirieren? Was mir keine unwahrscheinlichere Annahme zu sein scheint als zu denken, dass sich aus einem Stadtteilkampf heraus ein Aufstand entwickeln kann, der zur Anarchie führen wird.

Manchmal entsteht der Eindruck, dass viele Anarchist*innen unter einem Minderwertigkeitskomplex leiden, der sie veranlasst, den Wert einer direkten Aktion mit anderen Maßstäben einzuschätzen wenn sie von Anarchist*innen anstatt von “jedermann” durchgeführt wird, und der zweiten Annahme ein enorm größeres Gewicht zuzuschreiben. Dieselben konfliktuellen Praktiken, die kollektiv oder individuell schon lange und dauerhaft von sich als Anarchist*innen definierenden Leuten umgesetzt werden, scheinen einen enormen Mehrwert anzunehmen, wenn sie von der Präsenz etwelcher weiterer Individuen angereichert werden, die nicht in diesem Sinne definiert werden können. Und schon wieder verfällt man der Idealisierung der ausgebeuteten sozialen Klasse … Und wenn dann vielleicht endlich mal etwelche unerwartete Kompliz*innen auftauchen, werden sie auf ein Podest erhöht anstatt sie uns als ebenbürtig zu betrachten, womit die unter rebellischen Leuten bestehende Trennung erneuert wird, die man aufheben wollte.

Ein weiteres, extrem wichtiges, Grundsatzproblem der insurrektionellen Herangehensweise ist die Beziehung zu den Menschen, mit denen man anscheinend um eine Frage, die ihnen nahegeht, gemeinsam kämpft. Die insurrektionelle Methode betrachtet diese Menschen eigentlich als Handlanger eines größeren Spieles. Aber wissen denn diese Menschen, dass sie Teil eines uns gehörenden, weiterreichenden und langzeitlichen Projektes sind? Teilen sie es? Instrumentalisiert man nicht etwa ihre Bedürfnisse und Schwierigkeiten? Betreibt man nicht etwa Politik und Avantgardismus, wenn man in Wirklichkeit andere Zwecke verfolgt, auch wenn man denkt sie seien “zum Besten” der Menschen? Stellt man sich nicht etwa über diese Menschen, wenn man sie als zu ignorant betrachtet, um zu verstehen, was wirklich auf dem Spiel steht und man sich verhält, als müsse man ihnen etwas beibringen (wie man sich selbst organisiert, wie man kämpft, was für sie besser ist)? Wir erleben hier die Spaltung zwischen Ethik und Politik, mit einer klaren Vorherrschaft des Zweiten.

Für mich heißt Anarchie leben, fraglos nach der totalen Subversion dieser Welt und der Zerstörung jeglicher Herrschaftsform zu streben, ohne die utopischen Bestrebungen – die “Phantome” – über die Wirklichkeit und meine individuelle Integrität obsiegen zu lassen. Wichtig ist mit der praktischen Umsetzung der Anarchie sofort zu beginnen, sich als Individuen anerkennen, die anderen als Individuen anerkennen, sich von den Ketten der sozialen Zwänge zu befreien, andere Beziehungen auf der Basis der Transparenz und der gleichen Augenhöhe zu schaffen, sich in die Lage zu versetzen, autonom Entscheidungen zu treffen und aufhören unsere eigenen Leben zu delegieren, den Bruch mit der eigenen Abhängigkeit vom System in Gang zu setzen, Kompliz*innen zu finden und die Macht mit allen Mitteln anzugreifen… Das beinhaltet, sich selbst von der Politik, von den falschen und heuchlerischen Beziehungen, von der hinterlistigen Berechnung zu befreien und aus dem eigenen Leben ein nachhaltiges Kampfterrain zu machen, wo es keine Trennung zwischen Kampf und Leben gibt, also genau das Gegenteil einer Logik des Kampfes als Spezialisierung und Politik.

Wenn die Mittel, die wir uns geben, auch unsere Zwecke widerspiegeln sollen, dann ist die Gründung unserer Beziehungen aufs Ungesagte, auf Falschheiten und Opportunismen sicher keine gute Visitenkarte zur Illustrierung unserer Vorstellung von Anarchie. Die in einer gewissen Art des Eingriffs in soziale Kämpfe implizit vorhandene Heuchelei, die von einer nicht erklärten und daher den “Ausgebeuteten” obskur bleibenden Absicht diktiert wird, ist in einem Übergang wie diesem offensichtlich und bestätigt auch einige der vorhergehenden Kritikpunkte:

“Andererseits, wenn wir in Massenkämpfe und Auseinandersetzungen um mittelfristige Forderungen eingreifen, machen wir das etwa nicht fast nur um unsere methodologisches Erbe zu empfehlen? Dass die Arbeiter einer Fabrik Arbeit fordern und Entlassungen zu verhindern suchen, dass eine Gruppe von Obdachlosen versucht, sich eine Unterkunft geben zu lassen, dass die Gefangenen für ein besseres Leben in den Gefängnissen streiken, dass die Studenten gegen eine Schule ohne Kultur rebellieren, das alles interessiert uns bis zu einem gewissen Punkt. Wir wissen sehr wohl, dass, wenn wir an diesen Kämpfen als Anarchisten teilnehmen, das quantitative Ergebnis – abgesehen davon, wie diese Kämpfe auch enden mögen – im Sinne eines Wachstums unserer Bewegung sehr relativ ist. Die Ausgeschlossenen vergessen oft auch wer wir sind, und es gibt keinerlei Grund um sich an uns zu erinnern, und noch viel weniger einen, auf Anerkennung basierenden Grund. Tatsächlich haben wir uns mehrmals gefragt, was wir als Anarchisten und folglich Revolutionäre inmitten dieser Forderungskämpfe zu tun haben, wir, die gegen die Arbeit, die Schule, gegen jegliche Konzession des Staates, gegen das Eigentum und gar gegen jegliche Art von Vereinbarungen sind, die in den Knästen netterweise zu einem besseren Leben führen. Die Antwort ist einfach. Wir sind dabei, weil wir Überbringer einer anderen Methode sind.” (Alfredo M. Bonanno).

Die Massen unterschiedslos brefreien zu können ist eine vergebliche Illusion. Einige Individuen haben einen Geist, der sich nicht domestizieren lässt und leiden stärker an den Ketten, die von der Macht um ihre Glieder geschmiedet wurden. Sie sehnen sich nach Freiheit und Wildheit. Andere Individuen lieben ihre Ketten und halten es auch zum Preise der Freiheit selbst nicht aus, ohne jemanden zu leben, der sie anführt, der ihnen Sicherheit, Stabilität, Gewissheiten und Routine gewährt. Diese Menschen haben, auch wenn sie dazu fähig wären, keinen Willen zur Veränderung ihrer Lage und bevorzugen die Verteidigung des Systems, das sie unterwirft, weil ihnen ein Leben in Sklaverei lieber ist als die Unwägbarkeit der Revolte. Diese Menschen werden wir im Moment der Rebellion immer gegen uns haben. Was uns aufs Spiel zu setzen treibt, ist nicht ein philanthropischer Instinkt, sondern vor allem die Lust uns selbst von unseren eigenen Ketten zu befreien. Darum bekennen wir uns dazu, anti-sozial und nihilistisch zu sein.

Welchen Raum hat unsere Individualität in einem politischen Projekt, das, wie der Insurrektionalismus, auf Berechnung gründet? Wirklich wenig. Wir sollten unsere Individualität beiseite legen um für die allgemeinen Leute verständlicher zu werden, denn, so wird uns gesagt, müssen die Dinge graduell gemacht werden, ansonsten würde man uns nicht verstehen. Wir müssten unsere höchsten Bestrebungen beiseite legen und uns wirder nur ums Fressen kümmern. In der Perspektive eines mit dem Rest der Gesellschaft geführten Kampfes werden Fragen die die technologisch-industrielle Herrschaft, die Umweltzerstörung und die Ausbeutung der Tiere üblicherweise total weggelassen. Vielleicht weil sie angesichts der wirtschaftlichen Unterdrückung und der Klassenunterdrückung als Fragen von Privilegierten betrachtet werden, oder weil sie für den als ignorant und unsensibel eingestuften Pöbel als allzu schwer verständlich eingeschätzt werden.

Als wäre unser existenzielles und materielles Elend nicht auch damit verbunden und als würde der menschliche soziale Bereich in einer Blase über dem Planeten, auf dem er angesiedelt ist, und über den Beziehungen zu anderen Lebewesen, von denen er abhängig ist, hängen. Man sagt uns, wir sollten unsere Diskurse der Trostlosigkeit der aktuellen Wirklichkeit anpassen und realistisch sein, da es die einzige Art und Weise sei, um uns verständlich zu machen. Unser wirkliches Ich, unsere wirklichen Gedanken können wir immer noch in unseren Vorstellungen ausleben, am Abend, im Halbschlaf vor dem Einschlafen, sobald der Tag der “wahren” Militanz vorbei ist.

Wir sollten auch auf unsere unmittelbarsten Wünsche verzichten, nämlich auf den Angriff auf das Bestehende, der vom Bedürfnis nach Befriedigung eines innerlichen Wunsches und nicht von etwelchen langfristigen politischen Berechnungen bestimmt wird. Gemäß der Theorie des diffusen Angriffs muss die direkte Aktion anonym und mit einfachen Mitteln ausgeführt werden, mit einem für alle verständlichen Ziel, und umso besser innerhalb des Kontextes eines schon laufenden sozialen Kampfes, weil sie nur so “von allen Ausgebeuteten” (vergebliche Hoffnung) “übernommen und reproduziert werden kann”. Einige Anarchist*innen, die in Dogma verwandelt haben, was eigentlich ein Vorschlag der insurrektionalistischen Herangehensweise war um eventuelle eine größere Wirksamkeit der Aktion zu haben, sind soweit gegangen zu meinen, dass eine Aktion, die nicht in diese Parameter fällt, also zu früh oder als außerhalb des Kontextes stehend durchgeführt, oder für nicht anarchistische Menschen als unverständlich betrachtet wird, sogar kontraproduktiv sei.

“Diese Angriffe müssen Ziele der alltäglichen Unterdrückung wählen, die allen offensichtlich sind und leicht verständlich sein. Daraus ergibt sich eine interessante Kritik der Beknnungsschreiben und Derartigem: wenn ein Angriff, eine Sabotage, irgendeine Aktion mit langen Bekennungen (die in der Regel die gegenteilige Wirkung haben, da sie in einer Sprache geschrieben sind, die sogar den eigenen Genoss*innen unverständlich ist) erklärt werden muss, dann eindeutig weil das jeweilige Ziel nicht gut ausgewählt wurde, da eine Aktion für sich selbst sprechen sollte und das direkt (d.h. nicht mediatisiert). Dasselbe kann man von der Notwendigkeit sagen, dass der Angriff anonym sei: er gehört niemandem, sondern allen Menschen, die ihn beklatschen, teilen, selbst auch machen würden” (Cuando se senala la luna).

Wie Sinnvoll ist es, im eigenen Handeln, in der Wahl der zu treffenden Ziele, in der Zeit seiner Ausführung, in der Bedeutung, die man ihm verleiht, darauf zu achten, dass mehr Menschen uns beklatschen können? Der im zitierten Buch gebrauchte Ausdruck ist zutreffend, denn man hat den Eindruck, dass die groß herausposaunten Resultate von gewissen sozialen Kämpfen sich oft genau auf das reduzieren – nicht auf mehr Menschen, die sich langzeitig in einer konfliktuellen Praxis radikalisieren und sich in erster Person aufs Spiel setzen, sondern auf mehr Personen, die mal kurz das beklatschen, was die Anarchist*innen tun, schon immer taten und jedenfalls tun würden (und manchmal machen sie es schlechter, gerade weil sie sich von der eigenen Suche nach Konsens limitieren lassen) – um dann kurz danach wieder an die Urne zu gehen und Gerichte zu bemühen. Das Bedürfnis nach sozialer Legitimation um die Macht anzugreifen ist vielleicht ein weiteres Symptom jenes Mangels an Selbstvertrauen und jenes Minderwertigkeitsgefühls, unter denen ein Teil der anarchistischen Bewegung weiter leidet. Das abzuschütteln ist höchste Zeit, um wieder anzufangen, wirklich Nadeln im Fleisch zu sein.


Aus Fenrir. Übernommen von https://de.indymedia.org/node/14229.

Wieso ich die zwei Antennen vom Mont Poupet abgefackelt habe

Brief von Boris geschrieben im Juni 2021 aus dem Gefängnis von Nancy-Maxeville, Frankreich

Nach 8 Monaten Untersuchungshaft im Centre Pénitentiaire von Nancy-Maxéville wurde unser anarchistischer Genosse am 19. Mai zu vier Jahren Gefängnis, wovon 2 bedingt, und zu einer Busse von hunderttausend Euro verurteilt weil er zwei Funkmasten im Jura im April 2020 während dem ersten lock down abgefackelt hat. Am vergangenen 7. August wurde er nach einem Brand in seiner Zelle in die Station für Schwerverbrannte des Hospitals von Metz eingewiesen, wo er sich in kritischem Zustand noch immer befindet.

Da wir über keine andere Version als jene der Folterer in Uniform und des journalistischen Gesindels verfügen, die in ihrem Eigeninteresse produzieren, ist unsere einzige Gewissheit, dass das Gefängnis ein System der institutionalisierter Folter ist, und dass der Staat – von der Polizei bis zur Justiz und zum Gefängnis – der direkte Verantwortung für diese Situation, die keinesfalls ein Einzelfall ist, trägt.

In diesem im Juni aus dem Knast geschriebenen Brief kommt Boris auf seinen Angriff und seine Gründe zurück, die gegen die Kontrollmittel und gegen die verheerenden Folgen für das Lebende des Abbaus der für den Bau dieser Technologien notwendigen Rohstoffe gerichtet sind.

Die Worte von Boris zu verbreiten scheint uns ein Mittel unter anderen zu sein um eine gegenüber dieser Situation, die uns den ganzen Horror der Einschliessung in Erinnerung ruft, notwendige Solidarität auszudrücken.

Von den Antennen bis zu den Gitterstäben, nieder mit der Gefängnis-Welt. Solidarität für Boris!

Wieso ich die zwei Antennen vom Mont Poupet abgefackelt habe

Hallo, ich bin Boris. Nun bin ich seit 9 Monaten wegen den Brandanschlägen auf zwei Funkantennen im Jura im April 2020 in der Haftanstalt von Nancy Maxéville eingesperrt.

Wenn ich mich erst jetzt entschieden habe einige öffentliche Worte über meinen Fall zu schreiben, dann insbesondere weil der Staat mich gerade verurteilt hat und es mir lebenswichtig erscheint, meine Eindrücke und meine Wut über diesen Technototalitarismus niederzuschreiben, die seit meiner Verhaftung überhaupt nicht nachgelassen haben. Ganz im Gegenteil.

Während die Staaten vereinbarten, die Bevölkerung mundtot zu machen indem sie diese unter dem Vorwand, die Covid 9 Pandemie einzudämmen, aufforderte brav zuhause zu bleiben, brandeten in Frankreich und in Europa (Niederlande, England, Italien) Sabotagewellen gegen die Infrastrukturen der technologischen Herrschaft (Funkantennen, unterirdische Glasfasernetze, Kraftwerke…) auf. Vom Osten bis Westen, vom Norden bis Süden Frankreichs wurden Masten gefällt, ihre Kabel durchtrennt und die meisten bzw. Dutzende abgefackelt und so die Telekommunikationen und die Ortung der Handys und die Ausspionierung jener unterbrochen, die sich im Fadenkreuz des Repressionsapparates befinden.

Während ich schreibe gehen die Sabotagen der Telekommunikationsnetze umso heftiger weiter, obwohl das oberste Interesse der Herrschaft darin besteht, sie zu verschweigen oder zu verharmlosen. Manchmal ist das Ausmass der Zerstörung dermassen, dass sie es nicht verschweigen können, wie etwa das Feuer eines TDF (Télédiffusion de France) Relais in den Bouches-du-Rhône Anfangs Dezember 2020 oder auch 2021 die Brandsabotage bei Limoges mit Bekennung als guter Vorsatz fürs neue Jahr.
Das technologische Netz, das das ganze Territorium überzieht, sich rasend verbreitet und seine Funktion mit dem neuen 5G Netz perfektioniert, ermöglicht die Akzeptanz eines ganzen Haufens an vom Staat auferlegten neuen sozialen Normen, die von Doktoren und Wissenschaftern empfohlen und abgesegnet werden. Genauso wie ein ganzer Haufen an Produkten und Drogen, die die Bevölkerung brav und gefügig halten, spielen die Bildschirme eine Hauptrolle darin, die Mehrheit dazu zu bringen, die Ausgangssperre zu akzeptieren: Telearbeit, Tele-Apéro, Tele-Schule, Tele-… Wie hätte die Herrschaft ohne diese Technostruktur die „Einhaltung“ dieses grossflächigen Hausarrests jemals durchsetzen können!

Die Stunde ist gekommen für die Beschleunigung der Datenflüsse und die Konnektivität der alltäglichen Objekte zur immer stärkeren Kontrolle, Abhörung, Nachverfolgung und Ausspionierung, und um damit die Menschenwesen immer mehr zu Sklaven der Maschine zu machen. All das nennt die Herrschaft “Fortschritt” und “Zivilisation”. In Wirklichkeit hat dieses Projekt von Gesellschaft alles an sich, was eine Dystopie ausmacht.

Gegenüber diesem digitalen Raster gibt es nicht 36’000 Lösungen. Mir scheint die Überwindung des Stadium des Kritizismus und hier und jetzt zu handeln notwendig, indem Ideen mit der Aktion verbunden werden, indem die notwendigen Vorsichtsmassnahmen getroffen werden um nicht in die Maschen der Repression zu fallen. Und leider weiss ich, wovon ich rede.

Die ganze Angelegenheit beginnt mit einem neu aussehenden blauen öligen Plastikverschluss, der unter einem der beiden Relais des Mont Poupet mit meinem DNA drauf gefunden wird. Da ich registriert bin, gerate ich ins Visier der Richter und Bullen, die mit grossem Aufwand an Kräften und Finanzen im Sommer 2020 mein tägliches Leben ausspionieren (Gewohnheiten, Beziehungen, mit Imsi Catcher, Kameras vor Wohnungen, gps unter den Autos der mir Nahestehenden, Abhören und Ortung, Beschattung und Observierung durch Zivis des GIGN (Versailles) …).
Was das Polizeigewahrsam angeht, muss ich sagen, dass ich „Scheisse gebaut“ habe als ich Aussagen machte (auch wenn es nur über mich war). Auch wenn ich vorher etliche Male in Polizeigewahrsam war ohne etwas zu sagen, an diesem Tag machte ich den fatalen Fehler, der, mal gemacht, nicht mehr gut gemacht werden kann, nicht ausgelöscht werden kann. Es bleibt das Risiko noch tiefer zu sinken, sich in Erklärungen zu verstricken, die die Angeklagten bloss benachteiligen können.

Ich war wütend auf mich selbst und ich bin es auch noch heute weil ich diesen Inquisitoren der Macht Anhaltspunkte gegeben habe, diesen echt Perversen, die genau wissen wie sie die psychologischen Schwachstellen der Individuen ausnützen können um ihnen Geständnisse zu entlocken. Was nie wieder geschehen wird.
Am 22. September stürmten in Besançon Gendarmen der regionalen Abteilung Besançon (und weitere der Einheit Oracle) begleitet von der Gerichtspolizei Dijon um 6:30 morgens meine Wohnung sowohl zwei weitere. Das im Auftrag der Ermittlungsrichterin Lydia Pflug (Chefin des JIRS – Juridictions intérregionales specialisées – Nancy) wegen Zerstörung mittels Feuer von Funkmasten in einer organisierten Bande und Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung, in Besançon im Zeitraum vom 9. Januar bis zum 9. April 2020.

Während die beiden anderen gesuchten Leute am Abend desselben Tages entlassen wurden, wurde ich nach dem Ende meiner 48 Stunden Gewahrsam ins Büro der Richterin überführt und der Brandstiftung an 2 Funkmasten am Mont Poupet am 10. April 2020 im Jura und für ein anderes Feuer an einem SFR technischen Raum des Relais TDF Mont de Bregille ob Besançon als Mitwisser angeklagt. Was als Versuch qualifiziert wird.

Am Ende der Ermittlungen im März 2021 beantragte die Staatsanwaltschaft die Aufhebung des Anklagepunktes der kriminellen Vereinigung und des gegen Ende März versuchten Brandanschlags. Sie bestand aber auf die Überweisung ans Strafgericht für das Feuer am 10. April 2020.

Wegen dieses nächtlichen Feuers während der Ausgangssperre war die Telekommunikation aller Telekom-Anbieter (Bouygues, SFR Orange und Free) sowie der staatlichen Repressionsorgane (Polizei und Gendarmerie) und der Elektrogesellschaft Enedis momentan unterbrochen und sie schätzten den Schaden auf 750’000 bis zu einer Million Euro. Genau dafür erschien ich also am 19. Mai vor dem Gericht in Nancy. Trotz des Antrags auf Verschiebung durch meinen Anwalt, der nicht präsent sein konnte, bestimmte das Gericht nach mehr als einer Stunde Wartezeit die Durchführung der Verhandlung.

So konnte die Posse weitergehen, ohne Publikum aber mit einem Vertreter der lokalen Journaille, der nur darauf wartete, seine Verve als Lakai der Macht blank zu ziehen um die Herrschaft noch ein wenig mehr zu festigen und um dem Staat zu helfen, seine vor den Blicken und den Ohren der zur Unterstützung gekommenen Leute geschützte feige und kalte Rache durchzuziehen.

Die Vorsitzende, die sich am Anfang über die mangelnde Achtung ihres Ministers (ihr nach sind die Gefangenen die Privilegierten des Ministers, weil sie als erste – vor den RichterInnen – geimpft werden, was sicher nicht stimmt) gegenüber der Richterschaft beschwerte (ob der Unmut der Bullen die Magistratur auf dumme Ideen bringt?), gibt dann den Kehrreim des armen kranken Citoyen zum Besten, der von seinem abgelegenen Hinterland aus kein Spital mehr anrufen kann um sich behandeln zu lassen.

Ich antworte einfach, dass es an der Zeit ist zu lernen miteinander zu leben, was die Gesellschaft uns geraubt hat indem sie uns hinter Maschinen isoliert hat, mit Bildschirmen die uns blind machen, mit Scheuklappen, die uns gegenüber den Grausamkeiten dieser Welt taub machen, eine Welt, die alle Lebewesen, menschliche und nicht menschliche, ausbeutet, vergiftet und tötet. Ich gebe dann, durch die Tatsache, dass ich selbst ohne Handy aufgewachsen bin, ein persönliches Beispiel und dass es damals sicher mehr gegenseitige Hilfe und Unterstützung unter den Leuten gab, in einer Zeit wo wir keinerlei Anwendungen brauchten um miteinander zu reden, uns zu treffen, uns zu küssen…

Ich gehe direkt zum Urteil über, dass die Vorsitzende, die ich kaum gehört habe, verkündete. 4 Jahre Knast, davon zwei auf Bewährung plus mehrere Zehntausend Euro Busse (Ich erinnere mich nicht genau an die Summe).

Als ich das Gericht verliess hatte ich die Freude eine recht zahlreiche Unterstützungsgruppe von FreundInnen und Compas zu sehen, die einen Moment die CRS abhängen konnten um mich mit den Rufen “Liberté! Liberté!“ zu begrüssen. Das gab mir nicht wenige Wärme und Kraft.

Meine Augen waren plötzlich voller Trauer, Freude und grosser Wut zugleich. Einige Minuten nach der Urteilsverkündung wusste ich schon, dass ich Widerspruch einlegen würde, was ich dann drei Tage danach aus der Arrestzelle heraus auch tat.

Ich möchte einige Punkte über das, was in der Presse erschien, klären. Ich handelte nicht nur gegen die 5G-Technologie. Ich kämpfe gegen das gesamte an Wellen (2g, 3g, 4g). Der Techno-Totalitarismus auferlegt seine makabren Pläne rasend schnell indem es seine schon existierenden Infrastrukturen verstärkt und verbessert. Sicherlich wird das 5G überall die Einrichtung einer Unmenge an Miniantennen erfordern um den Datenfluss der Informationen zu beschleunigen und damit zum Beispiel zu erlauben, alle Objekte des täglichen Lebens miteinander zu verbinden. Die Individuen jeglicher Autonomie zu berauben, sie zu SklavInnen der Maschine zu machen und sie zu kommerziellen und anderen Zwecken (Selbstisolierung, Ausbeutung daheim durch Telearbeit, Aufgabe des taktilen Kontaktes unter uns, Omnipräsenz kleiner und grosser Bildschirme in unserem Leben) zu benutzen, das ist die nahe sich abzeichnende Zukunft, die laufende Dystopie.

Andererseits, für jene, die immer noch an die sogenannt „grünen“ Energien glauben, an den Pseudo-Energiewandel: in Wahrheit ist es bloss eine Ressourcenanhäufung bzw. die immer wachsende Förderung einer ganzen Reihe von Metallen überall in der Welt, die notwendig sind um ihre Elektrokarren, ihre zig-Kilometer an Kabel (unter- oder überirdisch) zu produzieren, was Krebserkrankungen, Verheerung und Tod sät. Denn das Problem ist nicht bloss der Treibhausgasausstoss. Das ist bloss ein kleinster Teil davon. Das “alles elektrisch” ist genauso zerstörerisch und tödlich. Der Abbau dieser Metalle kann nur durch den Einsatz von ultra-schädlichen und die Umwelt verseuchenden Säuren geschehen, die die Böden und Wasseradern kaputt machen und vergiften und unheilbare Krankheiten wenn nicht einen raschen und sicheren Tod verursachen. Das ist die Realität des voll Digitalen, das sie uns als ökologisch, als eine Alternative zur Luftverpestung verkaufen wollen.

Lauter Gründe für jene, zu denen ich gehöre, die beim ersten Aufruf der staatlichen und sanitären Ordnung sich weigerten, sich zuhause einzuschliessen und ausgezogen sind, um einen der Pfeiler der Herrschaft direkt anzugreifen.

Kopf hoch, feuriges Herz
Vive l’anarchie!

Boris


From Attaque