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Die Zerstörung des individuellen und kollektiven Heilwissens und der Aufstieg der Medizin

Die Medizin ist heute eine der anerkanntesten und unhinterfragtesten Institutionen überhaupt. Sie gilt als Wissenschaft des Heilens und genießt den Ruf im Dienste des Menschen zu stehen. Wer ein Haus der Medizin aufsucht, die*der verspricht sich davon die Heilung oder Prävention einer Krankheit oder Verletzung und in vielen Fällen scheint die Medizin dieses Versprechen tatsächlich mehr oder weniger gut einzulösen. Doch die Medizin hat ihre Schattenseite: Gierig stiehlt sie ihr Wissen von Gemeinschaften, entlockt den Körpern von Menschen und Tieren durch brutale und skrupellose Folter die Geheimnisse des Lebens. Und ist dieses Wissen erst einmal in der Kathedrale der Medizin zusammengetragen, so wird es dort von deren Hohepriestern geizig behütet, damit es ja nicht in die Hände eines Ungeweihten falle. Denn die größte Angst der Medizin ist es, dass die Menschen ihre Gesundheit in die eigenen Hände nähmen. Denn dann blieben ihre Kathedralen leer.

Schon der „Eid des Hippokrates“, sozusagen der Stammvater der Medizin, schließt aus, dass Ärzt*innen ihr Wissen an Unbefugte weitergeben. Das ist zwar nichts Außergewöhnliches, immerhin wird man entsprechende Gelöbnisse für beinahe jede Zunft finden, wenn man nur sucht, und doch wird man heute nicht viele Berufe finden, die so exklusiv sind wie der des Arztes. In vielen Ländern werden Ärzte vom Staat zugelassen, doch bevor das beispielsweise in Deutschland überhaupt zur Debatte steht, müssen werdende Ärztinnen ein Medizinstudium absolvieren. Und dazu muss man erst einmal zugelassen werden. Die Studienplatzvergabe ist für die Bundesrepublik zentralisiert, wer keine Bestnoten (in der Regel einen Abiturschnitt von 1,0 bis 1,1) vorweisen kann, wird abgewiesen. Im Ausland studieren und damit das strenge Auswahlverfahren umgehen, können sich nur Reiche leisten – Kinder von Ärzt*innen beispielsweise. Und nicht nur der Zugang zur Ausbildung als Ärztin bleibt den allermeisten Menschen verwehrt, auch das Wissen um Medikamente gehört zu den bestgehüteten Geheimnissen. Kein Wunder. Im Jahr 2018 erwirtschafteten Pharmaunternehmen durch den Verkauf von Medikamenten weltweit rund 1,2 Billionen US-Dollar. Die Medizin „im Dienste der Menschheit“? Dass ich nicht lache!

Dabei ist eine Institution wie die Medizin, die über fast das gesamte Heilwissen einer Zivilisation verfügt, keine Naturgegebenheit. Erst die organisierte Zerstörung des Heilwissens der Menschen vor vielen hundert Jahren ermöglichte die Entstehung eines solchen Ungetüms, das heute die Menschen und ihre Gesundheit im Namen des Staates/der Staaten (oder eher im Namen des Kapitals?) verwaltet. Im folgenden Artikel werde ich einige Meilensteine dieses Prozesses aufgreifen, um darzustellen, wie die Medizin als Instrument der Herrschenden zur Verwaltung ihrer Bevölkerung – ein Charakter, der heute vielleicht offener zutage tritt als jemals zuvor – entstehen konnte und wie diese Verwaltung funktioniert.

Klostergärten, Hexenverfolgung und Kolonisierung

Selbstverständlich ließen sich die autoritären und sozial-kontrollierenden Spuren der Medizin noch ein ganzes Stück weiter zurückverfolgen, etwa ins antike Griechenland und Rom, wo Ärzt*innen, die neues Wissen über den menschlichen Körper unter anderem durch die Sezierung lebendiger Sklav*innen erlangten, vor allem der reichen Oberschicht und dem Militär zur Verfügung standen. Aber der Fokus dieser Untersuchung soll auf der modernen Medizin liegen, die sich unter anderem dadurch auszeichnet, dass sie ein Monopol auf die Kunst der Heilung erhebt und die Etablierung eben jenes Monopols begann in einer anderen, späteren Zeit.

Auch wenn die jahrtausendewährende Domestizierung die Menschen bereits zuvor von der Natur, von ihren eigenen Körpern und durch die Arbeitsteilung auch weitestgehend von der eigenen Zuständigkeit für ihre Gesundheit getrennt hatte, so war es auch in Europa vor allem in der armutsgeplagten Unterschicht, die keinerlei Zugang zu dem sich bereits während der Antike herausgebildeten, ärztlichen Spezialist*innentum und wissenschaftlichen medizinischen Wissen hatte, durchaus verbreitet, dass man sich um viele, wenn nicht alle wesentlichen Belange der eigenen Gesundheit selbst kümmerte, bzw. diese Aufgabe denjenigen Familienmitgliedern zufiel, die auch ansonsten der häuslichen, „reproduktiven“ Sphäre zugeteilt waren. Sprich: vor allem Frauen. Das hier zur Anwendung gebrachte Heilwissen war von Region zu Region unterschiedlich, es richtete sich nach der regionalen Flora und Fauna, sowie den jeweiligen heidnischen Überresten des spirituellen Erbes vormalig freier Gemeinschaften. Gemeinsam ist diesem Wissen jedoch vor allem, dass es obwohl es vermutlich uralt war, nahezu ausschließlich oral weitergegeben wurde. Schließlich beherrschte zu dieser Zeit auch kaum jemand die Schrift ihrer Herrscher*innen. Ein wesentlicher Bestandteil dieses Heilwissens war der Gebrauch von Heilkräutern, die wenngleich sie teilweise auch gezielt in Kräutergärten angebaut worden sein mögen, vor allem in der Natur gesammelt wurden.

Doch ein Schatten legte sich über die Lande, ein Schatten, der in den nächsten Jahrhunderten auf eine sehr ähnliche Art und Weise einen Großteil der Welt befallen sollte und der in Europa, ebenso wie auf dem amerikanischen und afrikanischen Kontinent dem individuellen und kollektiven Heilwissen den Garaus machen würde: die Rede ist selbstverständlich von der christlichen Missionierung. Kein geringerer als der Missionar Bonifazius, der sich bereits zuvor damit hervorgetan hatte, eine uralte, dem Gott Donar (Thor) geweihte Eiche neben zahlreichen weiteren heiligen Bäumen gefällt zu haben, um die heidnischen Glaubenskulte der germanischen Stämme zu zerstören, veranlasste 743 bei der „Synode von Liftinae“ auch, dass das Sammeln von Heilkräutern durch die Kirche untersagt wurde. Zweck dieses Verbotes war wiederum, dass die „Neubekehrten von allem heidnischen Wesen fern gehalten werden und fern bleiben möchten.“ Doch auch wenn die allseits erwartete Reaktion der germanischen Gottheiten ausblieb, als sich Bonifazius an ihren Bäumen verging, so bedurfte es doch mehr als eines Verbots durch die Kirche, um die Menschen davon abzuhalten, sich selbst und einander zu heilen, indem sie dafür benötigte und bewährte Kräuter sammelten. Wohl um keinen allzugroßen Autoritätsverlust zu erleiden, wurden in der Folge diversen Kräutern eine biblische Bedeutung angedichtet, die diese beispielsweise in Form von Marienkulten als „christlich“ legitimierten.

Doch die neue Strategie der Kirche sollte schließlich aufgehen. Mit Verbreitung der christlichen Glaubensdoktrin festigte sich auch die Vorstellung, dass Krankheiten von Gott auferlegt wurden und eine Heilung daher auch nur mit seiner Hilfe überhaupt möglich sei. Das stärkte die mönchische Medizin, die sehr schnell zur einizigen anerkannten medizinischen Schule avancierte. Schon zwischen 770 bis ca. 800, nur wenige Jahrzehnte nachdem der Missionar Bonifazius versucht hatte, das Kräutersammeln zu verbieten, erließ Karl der Große, der einen großen Teil seiner Macht der kirchlichen Infrastruktur verdankte, ein Gesetz (Capitulare de villis), das unter anderem den Anbau bestimmter Heilpflanzen in jedem kaiserlichen Gut vorschrieb. Der sogenannte St.-Galler-Klosterplan (819-826), der rund 16 Heilpflanzen und ihren Anbau beschreibt und das Lehrgedicht Hortulus (ca. 840), das rund 24 Heilpflanzen beschreibt, zeugen von der weiteren Institutionalisierung und gleichzeitigen Verflachung (antike Schriften führen oft tausende, wenigstens aber mehrere hunderte Heilpflanzen auf, dagegen müssen 16 bzw. 24 Pflanzen geradezu lächerlich erscheinen) der Pflanzenheilkunde rund um Klöster. Bei den Pflanzen handelt es sich häufig um welche, die in den hiesigen klimatischen Bedingungen nur schlecht gedeihen, was unter anderem daher kommt, dass vorrangig Pflanzen verwendet werden, die (manchmal auch nur vermeintlich) in der Bibel beschrieben sein sollen. Eine beliebte Strategie, um die Bevölkerung davon abzuhalten auch weiter wilde Heilpflanzen zu sammeln, besteht darin, ihnen das Pflücken der Pflanzen in den Klostergärten zu gewähren. Auf diese Weise lässt sich gewährleisten, dass nur die von der Kirche „zertifizierten“ Heilpflanzen verwendet werden und das „heidnische“ Heilwissen nach und nach in Vergessenheit gerät.

Nicht alle Menschen lassen sich vom klösterlichen Kräutergarten ködern. Über mehrere Jahrhunderte koexistiert die klösterliche Medizin mit alternativem Heilwissen. Praktizierende dieses alten Heilwissens gelten als Hexen und Zauberer, was als „heidnische Irrlehre“ gilt und „durch Kirchenstrafen wie Bußen oder – in schweren Fällen – durch Ausschluss aus der Gemeinschaft geahndet werden“ soll. Ab dem 13. Jahrhundert jedoch begann die Kirche und mit ihr der Staat, die beide gleichermaßen Deliquent*innen verschiedener Ausprägungen fürchteten, zum vernichtenden Schlag gegen Hexen und andere Deliquent*innen auszuholen. Freilich geht es dabei längst nicht nur darum, nicht-christliches Heilwissen zu vernichten. Die Inquisition richtet sich gegen Homosexuelle, Jüd*innen, Ketzer*innen jeder Art, aufständische Elemente und sonstige Feind*innen der Ordnung. Im für die Deutsche Inquisition besonders bedeutenden, 1486 veröffentlichten Hexenhammer werden unter anderem Abtreibungen und libidosteigernde, sowie -senkende Verabreichungen als gängige und zu ahndende Verbrechen von Hexen beschrieben.

Nicht zufällig fällt die Vernichtung des nicht-christlichen Heilwissens in Europa in die gleiche Epoche, in der auch die moderne Wissenschaft und ihre Medizin entsteht. Franzis Bacon, einer der Gründerväter der modernen Wissenschaft, soll etwa in den Verfahrensweisen der Inquisition das Vorbild gefunden haben, der „Hexe Natur“ ihre Geheimnisse abzupressen. Übrigens war Francis Bacon als Generalstaatsanwalt unter König Jakob I. durchaus auch unmittelbar in den einen oder anderen Hexenprozess verwickelt gewesen.

Nicht unmittelbar zeitlich synchron, aber sowohl von der Art und Weise des Verlaufs her, als auch zumindest synchron zur letzten Phase der Vernichtung des nicht-christlichen Heilwissens in Europa, findet auch außerhalb Europas eine gigantische Vernichtung von indigenem Heilwissen statt. Ihre Antriebsmotoren: der europäische Kolonialismus und die christliche Missionierung. Genozide, Verschleppung und Versklavung, Vertreibung aus ihren ursprünglichen Territorien, kulturelle Auslöschung und Internierung in Lagern, in denen später unter anderem tödliche und erniedrigende medizinische Experimente zur Entwicklung von Impfstoffen und Seuchenbekämpfungsstrategien durchgeführt werden werden, tragen ebenso ihren Teil dazu bei, wie die äußerlich weniger gewalttätige Bekehrung zum christlichen Glauben mit „Buch und Schwert“, in deren Rahmen jegliche Spiritualität indigener Kulturen und damit auch das damit häufig verbundene Heilwissen beinahe noch nachhaltiger zerstört wurde. Auf dem südamerikanischen Kontinent gelten Praktizierende indigener Heilmethoden als Ketzer*innen. Die katholischen Konquistadoren beschreiben spirituelle Rituale, die Teil dieser Methoden sind, als gespenstisch und gotteslästerlich und verbrennen die Praktizierenden nach dem Vorbild der Inquisitoren in ihrer Heimat auf dem Scheiterhaufen. Der atlantische Sklav*innenhandel, in dessen Rahmen heutigen Schätzungen zufolge rund 12 Millionen Menschen gefangen genommen, verschleppt und vor allem in Nordamerika versklavt wurden, verursacht zudem zahlreiche Seuchen (weil indigende Bevölkerung, sowie Sklav*innen Erregern ausgesetzt sind, mit denen sie bisher nicht in Kontakt gekommen sind und zudem auf engstem Raum und unter katastrophalen hygienischen Bedingungen zusammengepfercht sind), in denen nur die autoritäre und die Menschen zu verwaltenden Entitäten reduzierende, europäische Medizin ihre Wirkung erweisen kann und so ihre scheinbare Überlegenheit gegenüber indigenem Heilwissen unter Beweis stellt.

Lazarette, Pesthäuser, Irrenhäuser, Arbeitshäuser und Krankenhäuser

Bis heute machen sogenannte Krankenhäuser einen wesentlichen Teil der medizinischen „Versorgung“ hierzulande aus. Aber in welchem Kontext ist es überhaupt eine besonders kluge Idee, alle Kranken an einen einzigen Ort zu bringen? Diese fixe Idee konnte sich nur vor dem Hintergrund eines Expert*innenstandes an Mediziner*innen und dem zunehmenden Anspruch der Verwaltung von Kranken etablieren. Dabei scheint mir der Strang der Entstehung des modernen Krankenhauses zunächst unabhängig von der zuvor beschriebenen Zerstörung des individuellen und kollektiven Heilwissens betrachtenswert, auch wenn diese beiden Entwicklungen schließlich miteinander verwoben sein werden.

Valetudinarien und Leprosorien sind die wohl frühesten Formen dessen, was heute als Krankenhaus bekannt ist. Leprosorien, Siechenhäuser, später Pesthäuser, dienten unverhohlen der Verwaltung Kranker, die als Aussätzige galten und dort zum Schutze der übrigen Bevölkerung bis zu ihrem Tod oder in Ausnahmen ihrer Genesung verwaltet wurden. Auch wenn diese Anstalten wohl viel älter sind und beispielsweise im Chinesischen Kaiserreich um 300 v. Chr. existierten, während das Judentum mit seinen Reinheitsgesetzen ebenfalls die Absonderung von Aussätzigen kennt (allerdings wohl ohne diese in Anstalten zu verwalten), werde ich vor allem auf die Entwicklung dieser Anstalten im christianisierten Europa, vor allem auf französischem und deutschem Territorium zurückkommen. Zuvor jedoch lohnt es sich einen Blick auf die römischen Valetudinarien zu werfen, die unter Kaiser Augustus (um das Jahr 0) Verbreitung fanden. Um das Jahr 14 errichtete das römische Militär in mehreren Garnisonen der umkämpften germanischen Grenze sogenannte Valetudinarien, Lazarette, in denen verletzte und wohl auch erkrankte Soldaten mit dem Ziel behandelt wurden, wieder kampffähig gemacht zu werden. Den militärisch bewährten Anstalten folgten bald auch zivile Valetudinarien, bezeichnenderweise jedoch nicht für römische Staatsbürger*innen (um die Armen sorgte sich keiner, die Reichen ließen sich lieber in ihren eigenen Gemächern versorgen), sondern vor allem für die Sklav*innen von Gutsherr*innen und die Dienerschaft (oft ebenfalls Sklav*innen) reicher Adliger. Sie dienten also dazu, die Arbeitskraft des teuer erworbenen „Personals“ zu erhalten. Die in diesen zivilen Valetudinarien arbeitenden Ärzte waren meist selbst medizinisch gebildete Sklav*innen, sogenannte „servi medici“.

Auch wenn die Medizingeschichte diese Valetudinarien lieber nicht in Verbindung mit der Entstehung „öffentlicher“ Krankenhäuser im christianisierten Europa bringen möchte, wird diese Kontinuität jedoch schon daran offenbar, dass spätere Klöster ganz verschiedene Einrichtungen unterhielten, die der Unterbringung von Kranken und Pilgern dienten: Das „Hospitale pauperum“ für Arme, das „Hospitium“, ein Gästehaus für reiche Pilger und das „Infirmarium“, den Krankensaal für die Mönche selbst. Diese Einteilung ist nicht nur ein Beweis für die Klassenmedizin dieser Zeit, sie setzt sich auch in der weiteren Entwicklung fort: Siechenhäuser außerhalb der Klöster und Städte dienten ab dem 6. Jahrhundert der Verwaltung von als ansteckend geltenden Kranken. Besondere Anstaltskleidung, sowie das Tragen von Schellen, Lazarusklappern und Hörnern bekamen die dort Inhaftierten von der Kirche ebenso verordnet, wie die späteren Insass*innen der Pesthäuser vollständig abseits der übrigen Bevölkerung inhaftiert wurden.

Um 1700 entstehen in Frankreich und Deutschland die ersten Irrenhäuser, die unter anderem dazu dienen sollen, die weniger arbeitsbegeisterte Bevölkerung zu disziplinieren. Gerade auf dem deutschen Territorium treten diese Anstalten als Toll- und Zuchthäuser besonders häufig in Kombination mit Gefängnissen auf. Einmal erbaut, wechselten die Internierungsanstalten der Pest- und Irrenhäuser häufig ihren Zweck. Die ursprünglich im Jahre 1709 errichtete Charité Berlin wurde etwa als Pesthaus angelegt, diente dann aber zunächst als Spinnhaus (eine Strafanstalt für Frauen, die verarmt waren, bettelten oder sich prostituierten und die dort als Spinnerinnen zwangsarbeiten mussten), zur Verwaltung von Armen und als Garnisonslazarett. Zahlreiche Krankenhausbauten weisen bis heute mehr Ähnlichkeiten mit Knästen auf als mit irgendetwas anderem. Das ist kein Zufall. Und während heute die Gittertüren der Zellen, pardon Patientenzimmer, bis auf einige Ausnahmen durch reizarme, klinisch-weiße Türen ersetzt wurden, kann zumindest ich mich beim Besuch in einer solchen Anstalt  noch immer nicht des kalten Schauers, der mir dabei den Rücken hinunterläuft, erwehren.

„Deine Gesundheit gehört nicht dir!“ und der kranke Mensch als defektes Teil der Maschine

Dienten die verschiedenen Abarten von Krankenhäusern bis weit ins 19. Jahrhundert hinein vor allem der gesellschaftlichen Absonderung von Armen, Ansteckenden, „Verrrückten“, Arbeitsverweigerern, Verbrecher*innen und sonstigen für die „Volksgesundheit“ (dieser Begriff stammt allerdings aus einer späteren Epoche) schädlichen Elementen, so fielen im 20. Jahrhundert die Mauern zunehmend und die Gitter vor den Fenstern verschwanden. Aber wer den Mauern des Krankenhauses entkam, die*der musste nun zunehmend feststellen, dass die ganze Welt zu einem Krankenhaus geworden war. Auch wenn man den Nationalsozialismus keine reine „Ärztebewegung“ nennen sollte [1], so erfuhren die autoritären Lehren der Medizin ganz besonders in dieser Epoche einen enormen Bedeutungszuwachs. Der Begiff „Volksgesundheit“ wird zwar in der Medizingeschichte ebenfalls nicht mehr vorrangig mit dem Begriff „Gesundheit“ in Verbindung gebracht, aber das sollte keineswegs darüber hinwegtäuschen, dass darunter im Brustton der Überzeugung und mithilfe einer erst angesichts des Holocausts als pseudowissenschaftlich gebrandmarkten Methodik durchaus genau das verstanden wurde. „Rassenhygiene“ und „Erbgesundheit“ war nicht bloß ein nationalsozialistischer wissenschaftlicher Wahnsinn, weltweit gründeten sich eugenische Institutionen, die hohes Ansehen genossen. Besonders Zwangssterilisierungsprogramme wurden in zahlreichen Gebieten weltweit in dieser Zeit und selbst nach dem Ende des Nationalsozialismus gesetzlich verankert und durchgeführt. Die Opfer: indigene Bevölkerungen, rassifizierte Menschen und Behinderte. Die eigene Gesundheit wird dabei auf zahlreichen Ebenen entpersonalisiert. Nationalsozialistische Propaganda mahnt zur „Abhärtung“ und betrachtet Infektion als eine Schwäche des Infizierten, eine mit der der*die Infizierte der Volksgemeinschaft, dem „Volkskörper“ schaden würde.

Das Individuum als Teil des „Volkskörpers“, das kranke Individuum als Gefahr für die „Volksgesundheit“, es erinnert an eine sich dieser Tage noch verstärkten Haltung. Wobei das Individuum heute nicht einmal mehr krank zu sein braucht, um als Gefahr für die nun „öffentliche Gesundheit“ zu gelten. Aber dies soll nun kein zynischer Erguss werden, sondern eine ernstgemeinte Analyse. Es sind freilich völlig unterschiedliche Argumentationsweisen, die sich nur in ihrer Auswirkung zu ähneln scheinen [2]. Und doch drängt sich einem – ganz im Sinne des des Organischen beraubten, mechanistischen Weltbildes – hier der Vergleich mit einer anderen Methaphorik auf: Ist in einer solchen Betrachtung der kranke Mensch nicht gleich einem defekten Teil der Maschinerie des Kapitalismus und der Zivilisation? Einem Teil, das entweder repariert oder ausgetauscht werden muss, um die Maschine am Laufen zu halten?

Dienten die frühen Vorläufer des Krankenhauses noch dazu, „Kranke“ unterschiedlicher Ausprägungen zu kontrollieren und zu verwalten, so ist es heute der Geist des Krankenhauses, der in den Köpfen der Menschen spukt und sie zu ihrem Beitrag zur „Volksgesundheit“ drängt. Ein Geist, der auf die ein oder andere Art und Weise schon früher spukte und dabei einige der grausamsten, genozidalen Vernichtungsfeldzüge wissenschaftlich-medizinisch legitimierte.

Von Gesundheitsregistern bis zur Impfmücke

Der derzeitige Gesundheitstotalitarismus kann meines Erachtens nur vor dem Hintergrund verstanden werden, dass es niemals universelles Anliegen der Medizin war, dem Individuum durch Heilangebote zu helfen. Während die Heilung der Wohlhabenden durchaus immer eines der Anliegen der Medizin gewesen sein mag, war jedoch vor allem das Anliegen, Arbeitskraft verfügbar zu halten, Anliegen von flächendeckender Medizin. Das heißt nicht, dass die Medizin nicht in der Lage und möglicherweise sogar willens wäre, mir – hier in Zentraleuropa auch trotz der Tatsache, dass ich Arbeit um jeden Preis vermeide, als kriminell und asozial gelte und auch sonst nicht gerade dem Ideal der Gesellschaft entspreche – zu helfen, wenn ich etwa ein gebrochenes Bein habe. Vielmehr bedeutet das, dass der Preis für diese Hilfe immer darin liegt, dass anderswo auf der Welt – oder auch in Gefängnissen, Psychiatrien, usw. hierzulande – medizinische Experimente an anderen Menschen vollführt werden, Menschen aus einer Laune irgendwelcher Philanthrop*innen heraus zwangsgeimpft werden und dabei möglicherweise als „in zeitlichem Zusammenhang mit der Impfung Verstorbene“ in die Statistiken eingehen und die gesamte arme Bevölkerung der Welt auf die eine oder andere Art und Weise mithilfe der Medizin als Arbeitskraft-Ressource verwaltet wird.

Der bisher in westlichen Ländern im Hinblick auf direkte körperliche Eingriffe zur Anwendung gekommene Ansatz, mit wenigen Ausnahmen (Zwangspsychiatrisierung, Zwangssterilisierungen, Zwangsmedikationen, usw.) auf die Freiwilligkeit der Patient*innen zu setzen (wer nicht zum Arzt geht, tut das halt nicht) scheint dabei zunehmend zu bröckeln. Was ein neokoloniales Bündnis aus Philanthrop*innen, Pharmaindustrie, WHO und Staaten in den vergangenen Jahrzehnten durch medizinische Studien, Impfprogramme, die sowohl zwangsweise, als auch ohne genügende Aufklärung durchgeführt wurden und Programme zur elektronischen Erfassung von Gesundheitsdaten in sogenannten „Entwicklungsländern“ getestet hat, scheint nun erprobt genug, um auch in den Zentren der Macht auf die verarmte Bevölkerung losgelassen zu werden. Die derzeitige Diskussion um Gesundheitsregister, in denen entsprechende Daten zentral erfasst und für Behörden jederzeit abrufbar gespeichert sind, die Diskussion um Privilegien für Geimpfte, die Stigmatisierung derer, die sich nicht impfen lassen wollen, sie alle sprechen für sich. Unterdessen geben vorsichtig an die Öffentlichkeit dringende Forschungsprojekte Aufschluss darüber, welche Totalität dieser Gesundheitswahn mittlerweile auch in Wissenschaftskreisen angenommen hat: Es ist ja längst kein Geheimnis mehr, dass Virolog*innen dazu neigen, die Menschen einzusperren, zu überwachen und zu kontrollieren. Aber dass mancherorts daran geforscht wird, Impfungen mithilfe genmanipulierter Mücken zu verabreichen, die, einmal freigelassen, unkontrollierbar alle impfen, die sie vor ihren Rüssel bekommen, das macht die erschreckenden Ausmaße dieses Wahnsinns der Medizin vielleicht bewusster als vieles andere.

Für mich steht fest: Eine Institution wie die Medizin vermag mir nichts anzubieten, was gegen ihre Zerstörung spricht. Ich kann auf Expert*innen verzichten, die mir Heilung im Austausch für meine Verwaltung und Kontrolle im Dienste der Herrschenden anbieten, während sie anderswo foltern und morden. Und ganz besonders kann ich darauf verzichten, selbst gefoltert und ermordet zu werden.


[1] Dessen ungeachtet wurden die meisten Parteibücher der NSDAP an Ärzt*innen ausgestellt.

[2] Und auch die bringe ich hier vor allem zur Sprache, um eine gewisse scheinheilige, hyperkritische, die „Verschwörung“ und den Geschichtsrevisionismus“ allzeit witternde Leser*innenschaft zu provozieren.


Übernommen von Zündlumpen #082.

Fragmente für einen aufständischen Kampf gegen den Militarismus und die Welt, die ihn benötigt

Die Anarchisten sind schliesslich gegen den Antimilitarismus (oh weh, da habt ihr den Versprecher, seht, ein Versprecher passiert nie völlig zufällig, tatsächlich sind die Anarchisten auch gegen eine gewisse Art von “Antimilitarismus”). Wie auch immer, um unangenehme Missverständnisse zu vermeiden, lasst uns versuchen, deutlicher zu sein. Ich korrigiere mich: die Anarchisten sind gegen den Militarismus. Daran besteht kein Zweifel. Sie sind gegen den Militarismus, und dies nicht im Namen von einer einstimmigen pazifistischen Auffassung. Sie sind vor allem gegen den Militarismus, weil sie eine andere Auffassung des Kampfes haben. Das heisst, sie haben nichts gegen Waffen, sie haben nichts gegen das Konzept der Verteidigung vor der Unterdrückung. Aber sie haben hingegen viel gegen einen bestimmten, vom Staat gewollten und befehligten, und von den repressiven Strukturen organisierten Gebrauch der Waffen. Sie haben viel einzuwenden gegen einen militärischen Gebrauch der Waffen. Während sie aber einverstanden sind, oder zumindest in ihrer überwiegenden Mehrheit einverstanden sind, mit dem Gebrauch der Waffen gegen den Unterdrücker, mit dem Gebrauch der Waffen gegen jene, die unterdrücken und ausbeuten, mit dem Gebrauch der Waffen in einem Befreiungskrieg. Mit dem Gebrauch der Waffen gegen bestimmte Personen, gegen bestimmte Realisierungen der Ausbeutung.

Es ist also falsch, zu sagen: „Die Anarchisten sind Antimilitaristen, was das gleiche ist, wie zu sagen, dass sie Pazifisten sind”. Die Anarchisten sind nicht gegen den Militarismus, weil sie alle Pazifisten wären. Sie haben nichts gegen das Symbol der Waffe, und ebenso wenig können sie eine Verurteilung des bewaffneten Kampfes im Generellen akzeptieren, um hier diesen streng technischen Begriff zu gebrauchen, der eine ausgedehnte Betrachtung verdienen würde. Sie sind hingegen völlig einverstanden mit einem bestimmten Gebrauch der Waffen: Welchen? Jenen, bei dem diese Gegenstände gebraucht werden, um sich zu befreien, da keine Befreiung auf friedliche Weise möglich sein wird. Denn jene, die die Macht besitzen, werden nie so höflich sein, sich in aller Seelenruhe beiseite zu stellen, ohne Widerstand zu leisten und ohne zu versuchen, diese um jeden Preis zu erhalten.

Aus Alfredo Bonanno. »Wie ein Dieb in der Nacht.«

Was ist Krieg? Was ist Militarismus?

Über die unterschiedlichen Epochen haben sich Kriege auf verschiedene Arten und Weisen geäußert. Einige (frühe) Eroberungsfeldzüge, bei denen sich eine zivilisatorische Imperialmacht bisher nur von staatenlosen Gemeinschaften bewohnte Gebiete einverleibt, mögen dabei zumindest seitens der staatenlosen Gemeinschaften anders geführt worden sein, als jene Kriege in denen die Armeen von Monarchen, Aristokraten, Kauf- und Geschäftsleuten, Kirchen oder Nationalstaaten aufeinandertreffen. Möglicherweise haben sie sogar mehr mit bestimmten modernen Formen des Krieges gemein, auf die ich noch zurückkommen werde. Vorerst will ich die Frage danach, was Krieg und Militarismus ist jedoch ausgehend von jenen althergebrachten Konflikten unter den Herrschenden beantworten, in denen sie ihre Armeen aufeinander hetzen, um irgendwelche Herrschaftsansprüche zu klären oder gar persönliche Streits auszutragen.

Der Fürst, der eine eigene Armee befehligt etwa, er mag mannigfaltige Gründe haben, um gegen die Armee eines anderen in den Krieg zu ziehen. Vielleicht wurde er gedemütigt, vielleicht buhlt er damit um die Liebe einer Prinzessin, bzw. vielmehr die Anerkennung und Gunst ihres Vaters, vielleicht behagt ihm der Verlauf einer seiner Reichsgrenzen nicht und er möchte sie ein Stück nach außen verschieben, vielleicht will er einen Schatz erobern oder sich das Recht zur Ausbeutung weiterer Bauern sichern. Manchmal trachtet er einem anderen, höherstehenden Fürsten nach dessen Position, manchmal mag er auch eine Eingebung Gottes gehabt haben oder irgendeinen Mythos allzu ernst genommen haben. Egal was sein Grund ist: Für seine Untertanen und Söldner dürfte dies schwerlich Grund genug sein, ihr Leben und ihre Unversehrtheit für ihn und seine Sache zu geben. Es mag vielleicht sogar den einen oder anderen Untertan geben, der zwar ebenfalls nicht für des Fürsten Sache in den Krieg zieht, allerdings die eigene Sache (einen höheren Posten, einen Anteil der Beute, usw.) mit der des Fürsten verbunden betrachtet. Die Zahl solcher Untertanen wird aber immer gering sein und wie auch der Fürst sind sie selbst ebensowenig bereit, ihren eigenen Kopf hinzuhalten, wenn Schwerter auf Schilde prallen, Pfeile Rüstungen durchbohren und Lanzen an dem zerbersten, was vielleicht einmal der unversehrte Leib eines Menschen gewesen sein mag.

Um eine Armee aufzustellen muss sich der Fürst also etwas einfallen lassen, wie er das Interesse irgendwelcher Untertanen – es müssen ja auch nicht notwendigerweise die eigenen sein – wecken kann, den ihnen zugedachten Platz im Gemetzel einzunehmen und dort – wenn es sein muss – bis zum bitteren Ende zu bleiben. Eine einfache Möglichkeit, dieses Interesse zu wecken besteht darin, seine Krieger*innen zu bezahlen. Der Fürst nennt diese Söldner und er weiß um das Problem, dass diese wankelmütig sein werden. Schließlich hat er sie nur durch Bezahlung oder das Versprechen einer Bezahlung – manchmal auch durch das Versprechen eines Anteils einer reichen Beute, ein äußerst gewiefter Trick, weil er auch gleich das Interesse des Söldners siegreich zu sein weckt – dazu bewegen können, ihm zu dienen. Und der Fürst weiß, dass nicht nur er Geld besitzt, sondern auch sein Feind. Auch kommt es nicht selten vor, dass Söldner angesichts einer feindlichen Streitmacht oder während der Schlacht mit ihr mitsamt ihrem Sold und den an sie ausgegebenen Waffen desertieren, dass sie sich als kampfuntauglich erweisen oder dass sie sich überhaupt weigern, etwas zu tun, wofür sie ihrer Auffassung nach nicht genügend Sold erhalten haben. Söldnerheere sind deshalb nicht besonders beliebt bei unserem Fürst. Das sogenannte Lehnssystem ist ein Versuch, diese rein monetäre Bindung der Söldner um eine Abhängkeit der fortan Vasallen genannten Untertanen zu ersetzen. Im Austausch für das Recht, selbst einmal Despot zu sein und einen kleinen Teil der Ländereien des Fürsten zu verwalten, die darauf lebenden Bauern zu knechten und einen gewissen sozialen Status zu erlangen, leistet der Vasall seinem Fürsten, dem Lehnsherren alle möglichen Dienste, vor allem zieht er für ihn in den Krieg – und verpflichtet auch einige seiner Untertanen dazu. Was der Söldner für das bisschen Sold, das er bekam nicht zu tun bereit war, das tut der Vasall, dieser edle Ritter, nun mit Freuden im Austausch für etwas noch viel schmutzigeres: Eine schmucke Rüstung und eine Position in der Verwaltung des Reiches seines Fürsten. Der Militarismus ist geboren.

Der fortan gepanzerte Vasall wird im Gegensatz zum Söldner nie wieder in der Lage dazu sein, seine eigene Sache zu vertreten, denn wenn er von einem langen, ermüdenden und kräftezehrenden Feldzug an die heimische Feuerstelle zurückkehren wird, dann wird er sich dort um die Verwaltung des Reiches seines Lehnsherren kümmern, er wird den Bauern auf dem von ihm verwalteten Land Steuern abpressen, wird die nötige Bürokratie erledigen und sich auf die nächste Schlacht vorbereiten, denn nach dem Krieg ist für ihn vor dem Krieg. Er mag glauben, dass es seine Sache wäre, für die er hier eintritt, aber er wird zeitlebens höchstens ein betrogener Egoist bleiben.

Sein Lehnsherr dagegen, unser Fürst, er reibt sich in seiner Burg, seiner Pfalz oder seinem Schloss die Hände und stößt auf seinen cleveren Einfall an. Nicht nur, dass er sich fortan nicht mehr darum zu kümmern braucht, seine Ländereien zu verwalten, er kann nun wann immer er will, Kriege führen und seine Vasallen werden ihm beinahe bedingungslos folgen. Schnell werden diese Vasallen, der sogenannte Schwertadel, Untervasallen einsetzen und diese wiederum Untervasallen. Die dabei entstehenden Hierarchien ermöglichen nicht nur die Verwaltung schnell wachsender Reiche, sondern bestimmen auch die Heeresordnug und sichern funktionierende Befehlsketten. Denn nicht nur im Krieg werden Gehorsam und vor allem Disziplin fortan die wichtigste Tugend eines Untertanen sein, auch in Friedenszeiten wird diese militaristische Tugend beständig eingeübt, wenn die Vasallen ihren jeweiligen Herren im zivilen Staatsleben dienen.

Diese militaristische Ordnung bleibt trotz zahlreicher Machtstreitigkeiten, Intrigen und Putsch(versuche) solange bestehen, bis eine neue Klasse nach der Macht greift und dieses System von außen stürzen wird: Das Bürgertum. Spätestens nachdem in Frankreich die Köpfe des Adels rollen, bedarf es auch einer Umstrukturierung des Militärs. Ein sich zur neuen Oberklasse erhobener Mittelstand kann freilich nicht die militärischen Dienste des Adels für sich in Anspruch nehmen und ohnehin wäre dessen Treue nun nicht mehr gesichert, wo wir es nicht länger mit kleinen Despoten in der Gunst eines befehlshabenden Fürsten zu tun haben. Das Bürgertum bedient sich weiterhin der militaristischen Logik, benötigt nun aber neue Untertanen, die für ihre Sache streiten werden. In Frankreich und den USA und später auch in der gesamten westlichen Welt entstehen die ersten Nationen und es wird der Mythos einer nationalen Einheit, der Nationalismus sein, der fortan die Untertanen für die Sache der Herrschenden in den Krieg mobilisieren wird. Können die Vasallen noch als betrogene Egoisten gelten, weil sie geglaubt haben mögen, dass sie für ihre eigene Sache, d.h. für ihre Macht, ihren Einfluss und ihren Status in die Schlacht zogen, so gelingt es dem Bürgertum jeglichen Egoismus im Militärwesen auszurotten. Man zieht fortan für eine fiktive, aber einem eigen geglaubte Nation, fürs Vaterland, in den Krieg, ist bereit, sich fürs Vaterland das halbe Gesicht wegschießen zu lassen, Gliedmaßen weggesprengt zu bekommen oder später auch Giftgas zu inhalieren. Die verwalterische Teilhabe an der Herrschaft, die die Disziplin der Vasallen auch in Friedenszeiten sicherte, entfällt und wird durch etwas viel schrecklicheres ersetzt: Fabriken. Im Takt der Maschine zu funktionieren, das wird fortan die nötige Disziplin des Marschierens im Gleichschritt in Friedenszeiten pflegen. Und während die Vasallen in Friedenszeiten gewährleisten mussten, dass sie allzeit genügend Kriegspferde zur Verfügung hätten, produziert die neue Unterklasse, das sogenannte Proletariat, in den Fabriken schnell auch in Friedenszeiten das Kriegsgerät, mit dem es im Kriege verstümmelt werden wird.

Die organisatorischen zivilen Hierarchien, die in der bürgerlichen Demokratie formell aufgelöst wurden, die aber im Kriege funktionierende Befehlsketten garantierten, werden in den Fabriken eintrainiert, die nicht zufällig nach einer militaristischen Logik organisiert sind. Auch wenn die meisten heutigen Staaten ein stehendes Berufsheer besitzen, das unter diesem Gesichtspunkt betrachtet vielleicht mehr dem Söldnerwesen gleichen mag, das ohnehin nie völlig verschwunden war – Söldner-Hilfstruppen waren oft einfach notwendig, um genügend Soldaten aufbieten zu können –, so zeigen doch die Erfahrungen der Weltkriege, sowie der Kriege der jüngeren Vergangenheit, dass eine Mobilisierung der Arbeiter*innen nicht nur notwendig ist, sondern dank der allgemeinen militaristischen Disziplin und dem antrainierten Gehorsam auch allzu gut funktioniert.

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Aber das Zeitalter der Kriege der Nationen, es scheint sich dem Ende zuzuneigen, ja bis auf wenige Ausnahmen bereits vorbei zu sein. Spätestens mit dem Ende des kalten Krieges haben sich die zwei verbliebenen, militärisch-imperialen Fraktionen in eine internationale Staatengemeinschaft integriert, in der Konflikte weniger über herkömmliche territoriale Kontrolle, sondern zunehmend über Ansprüche auf Ressourcen und weltpolizeiliche Uneinstimmigkeiten entstehen. Das heißt freilich nicht, dass es keine Kriege mehr gäbe. Aber wir müssen unser Verständnis von Krieg aktualisieren, wenn wir heutige Militäroperationen ausreichend verstehen wollen.

Die Kadaver der nationalen Armeen, sie bestehen zwar aus einer Reihe nostalgischer Gründe weiter, werden jedoch in Militärbündnissen wie der NATO zu einem neuen Militär zusammengeschweißt und in internationalen Interventionseinheiten wie den UNO-Blauhelmen für vorrangig weltpolizeiliche Missionen eingesetzt, die der Sicherung von Rohstoffen dienen. Obwohl das internationale Kapital auf dieses staatlich organisierte Militär beinahe beliebig zugreifen kann, stellt es in verschiedenen Teilen der Welt zunehmend auch eigene Sicherheitstruppen auf (beispielsweise in Südamerika), die dort den Ausbau einer extraktivistischen Infrastruktur überwachen und Widerstand dagegen niederschlagen. Wo allerdings der Haupteinsatzzweck eines zunehmend internationaleren Militärs die Niederschlagung von Aufständen, die Intervention in Bürgerkriege und der Schutz wirtschaftlicher Interessen der Kapitalistenklasse ist, da bröckeln auch die nationalistischen Mobilisierungsstrategien. Auch wenn sich offenbar noch immer jede Menge Nazis in den Reihen des Militärs tummeln, die dort ihre Sehnsucht stillen, ihrem Vaterland zu dienen, lässt sich eine Mehrheit der Menschen nicht länger so plump täuschen. Anstatt feindlicher Nationen bedarf es in Zeiten globaler Völkerverständigung und internationaler Staatengemeinschaft nun eines neuen Feindes, gegen den wenigstens die Sympathien der Menschen für die Streikräfte ihres Landes erweckt werden können. Und in Zeiten, in denen das internationale Militär den Einsatz im städtischen Raum trainiert, in denen Bürgerkriegsszenarien und Aufstandsbekämpfung vom Militär eingeübt werden, da ist es auch erforderlich, dass sich dieser Feind unter der Bevölkerung versteckt.

Der Feind heißt spätestens seit 2001, aber nicht erst seitdem, internationaler Terrorismus. Und es ist vermutlich ein genialer Schachzug, dass er so ohne weiteres kaum auszumachen ist. Bereits zuvor erprobte rassistische Motive lassen sich gegen ihn ebenso mobilisieren, wie ordnungspolitische Ängste vor einer anarchistischen oder anderweitig subversiven, aufständischen Verschwörung, die Chaos in eine gleichgeschaltete und im Gleichschritt getaktete Welt bringt. Und natürlich lassen sich Revolten in der Dritten Welt, in denen die Versklavten gegen ihre Ausbeuter*innen aufbegehren, ebenso leicht zu Terrorismus erklären, wie das Regime eines Landes, das sich weigert den Ölinteressen eines Imperiums zu entsprechen.

Wie viele US-Amerikaner*innen können sich mit denen identifizieren, die unter den beiden Bürotürmen des Welthandels begraben worden sind, wie wenige waren es im Vergleich mit den Toten des Afghanistan- und Irakkriegs? Und doch genügt dieses Ereignis und dessen propagandistische Ausschlachtung nicht nur zahlreiche US-Amerikaner*innen, sondern auch unzählige Europäer*innen gegen etwas zu mobilisieren, das es so vermutlich gar nicht gibt, bzw. das rückwirkend betrachtet überhaupt erst durch diese Kriege entstanden ist. Aber der „Krieg gegen den Terror“ hat nicht nur in den entlegenen Regionen der Weltmächte Kriege gegen ein Gespenst ausgelöst, sondern auch eine Kriegsführung gegen die eigenen Bevölkerungen in den Metropolen der Macht begründet. Fortan ist jede*r Bürger*in potenzielle*r Terrorist*in. Und zwar in dem Grade, in dem er*sie „arabisch“ aussieht, muslimischen Glauben praktiziert oder anderweitig rassifiziert werden kann. Die seit 2001 frei drehende US-Flugsicherheitsbehörde TSA etwa ist der Überzeugung Terrorist*innen nicht nur an althergebrachten Rassemerkmalen wie Hautfarbe oder Kopfform zu erkennen, sondern auch an der spezifisch-terroristischen Barthaartrimmung.

Der Krieg gegen internationalen Terrorismus ist auch in Europa die ultimative rassistische Argumentationsstrategie gegen Migration geworden. Wer aus den Kriegsgebieten dieser Welt in Richtung der wohlhabenderen Metropolen flieht, könnte ja ein*e Terrorist*in sein. Wer dagegen in den Metropolen ausrastet und Amok läuft, der*die bleibt der verhältnismäßig harmlose, irregeleitete Amokläufer aus der Nachbarschaft. Ich muss hier sicherlich nicht alle Aspekte der Angst vor dem Terrorismus erläutern, sie dürfte den meisten Leser*innen nur allzu präsent, ihre gezielte Schürung und anschließende Instrumentalisierung durch die Politik in Form von technologischer Aufrüstung der Polizei – die mittlerweile Panzer fährt und Handgranaten zu ihrem Arsenal zählen darf – und des Militärs, sowie ein Ausbau der Grenzregime, ganz besonders in Europa, noch in Erinnerung sein.

Es lässt sich festhalten, dass das Gespenst des Terrorismus, wie es uns heute durch die gehirngewaschenen Köpfe spukt, das ideale und mit großem Aufwand produzierte Feindbild ist, um die Militärstrategien zu legitimieren, die von einem zunehmend global aufgestellten Militär zur Sicherung eines weltumspannenden Imperiums trainiert werden.

***

Doch auch dieses modernisierte Verständnis von Krieg muss dieser Tage überdacht werden, erleben wir doch seit mittlerweile mehr als einem Jahr eine neue Form des Kriegs, genauer gesagt, des Bürgerkriegs. Der Terrorismus, er ist weithin obsolet geworden, füllt höchstens noch die Randspalten der Tageszeitungen. Stattdessen füllt ein anderer, noch fiktiverer Feind, die Schlagzeilen: Covid-19. Dieser unsichtbare Superterrorist, der die Menschen unsichtbar und hinterhältig heimsucht, der hinter jeder Brührung, was sage ich, hinter jeder Begegnung, lauert, er ist der ultimative Feind und seine Bekriegung, sie erfordert eine ganz besondere Form der Massenmobilisierung: Die Mobilisierung zur Abwesenheit. Der moderne Kriegsheld, er – oder sie, diese moderne Armee hat nun wirklich jegliche Geschlechterunterschiede überwunden – lümmelt sich zuhause auf dem Sofa, frisst Junkfood in sich hinein und verfolgt gespannt den minütlich über alle Bildschirme flimmernden Frontbericht. Und auch wenn dort mittlerweile längst keine Toten mehr gezählt werden, sondern nur mehr noch von einer wenig aussagekräftigen „Inzidenz“ die Rede ist, fiebern die kriegsbegeisterten Massen noch immer mit. Und alle anderen? „Die Beste Medizin heißt Disziplin“, so oder so ähnlich lautet der Slogan einer der jüngsten Werbekampagnen der Bundesregierung, mit der die Nation zum „Durchhalten“ aufgefordert wird. Und Disziplin ist wahrhaft vonnöten, um als Soldat*in in diesem Krieg zu kämpfen. Der klassische Krieg kannte von Zeit zu Zeit wenigstens einen „Fronturlaub“, ebenso wie wenigstens ein Teil der Bevölkerung gar nicht in den Krieg zu ziehen brauchte, der moderne Virenkrieg dagegen rekrutiert die gesamte Bevölkerung und kennt höchstens eine „Lockerung der Maßnahmen“ und selbst dabei fragt sich die*der aufmerksame Beobachter*in, wie es kommt, dass eine immer weiter verschärfte Maßnahmensituation (Lockdown und Kontaktbeschränkungen sind eigentlich die ganze Zeit geblieben und zuletzt noch um Ausgangssperren erweitert worden) doch immer wieder als „Lockerung“ verkauft werden kann.

Und wer nun aufrichtig behaupten wird, die Kriegsrhetorik bisher nicht bemerkt zu haben und folglich der Ansicht sein mag, dass es sich hier überhaupt nicht um einen Krieg handele, die*der möge mir vielleicht erklären, wie es kommt, dass außgerechnet Rheinmetall und andere Rüstungskonzerne Corona-Schutzmasken produzieren.

Aber es ist freilich nicht bloß die Kriegsrhetorik, sozusagen zum guten Zweck (was auch immer das wäre), mit der wir es hier zu tun haben. Wem auch immer das entgangen sein mag, den*die erinnere ich gerne noch einmal daran, dass wir uns in einem globalen Ausnahmezustand befinden. Ein Ausnahmezustand, der nicht nur die zuvor bestehenden, nationalen Grenzen schloss, sondern der auch ganz neue Grenzregime errichtet hat. Ob globales Freiluftgefängnis (wobei „Freiluft“ mittlerweile als allzu optimistisch entlarvt wurde) oder das von einem philosophierenden Demokraten aufgestellte „Lager als Nomos der Moderne“, das heute gar nicht mehr besonders philosophisch zu sein scheint, die momentane Realität hat etwas von beidem. Auch wenn das Quarantäne-Gefängnis (meist) keine Fenstergitter und Stacheldrahtzäune mehr kennt, sondern hier und da mit elektronischen Fußfesseln auf modernere Instrumente der Einsperrung zurückgreift und anderswo in einem gigantischen Selbstversuch die noch modernere Form der Selbsteinsperrung testet, das Risikogebiet-Lager (oft – es gibt durchaus Ausnahmen) keine allzu festen Grenzen kennt, keine Einzäunung und Flüchtende meines Wissens nach zumindest in Deutschland – Vorfälle in direkten Nachbarstaaten und anderswo auf der Welt stellen das natürlich auch für hier in Aussicht – bisher nicht von Wärtern erschossen wurden, so muss einem die Corona-Maske doch gehörig die Sinne vernebelt haben, wenn man diese Analysen noch immer zurückweist. Dazu kommen jede Menge neuer Papiere, vom Passierschein in Form eines negativen Coronatests und einer Bescheinigung des Arbeitgebers bis hin zum internationalen Ausweisdokument eines elektronischen Impfpasses. Greencard wird das zuweilen unkritisch von der Kriegspropaganda genannt.

Aber während an all den neuen Grenzen wenigstens vorerst noch nicht allzu oft geschossen wird, Grenzübertritte je nach Person und Situation auch einmal geduldet werden und die Bullenschweine immerhin metaphorisch auf 1,5 Meter Abstand bleiben, hat sich die Situation an den Nationalstaatsgrenzen, sowie ganz besonders an den europäischen Außengrenzen noch einmal dramatisch verschärft. Die Situation in den noch viel realeren Lagern vor dem Festland, die weder des Stacheldrahts, noch den scharf schießenden Wachen entbehren, sie verschärft sich immer mehr. Und die ohnehin immer nur humanistische Hilfe der Linken… Sie befindet sich im Lockdown. Meist aus Überzeugung. Als im letzten Jahr die Bilder des brennenden Morias einen Funken Hoffnung aufkeimen ließen, da forderten die Linken ein neues, hygienischeres Lager. Aber was hat das mit dem Krieg zu tun? Leider eine ganze Menge, beweist es doch, dass es in Deutschland erstmals in der Geschichte eine spezifisch Linke Armee gibt. Jene, die früher den „Dienst an der Waffe“ ablehnten und im Zweifel lieber „Zivilidienst“ verrichteten, man hat sie auf ihrem ursprünglichen Metier rekrutiert: In den Krankenhäusern und Pflegeheimen, eben dort, wo man schon früher lieber Patienten den Hintern abwischte, anstatt sich die Waffe aushändigen zu lassen und zu desertieren. Und folglich ist es heute auch nicht das Sturmgewehr, mit dem die Corona-Avantgarde in die Schlacht zieht, sondern die – nur für die größten Idioten harmloser wirkende – Spritze. Das bevorzugte Werkzeug des „Todesengels“, möchte man da fast einwerfen.

Was bedeutet das also für ein anarchistisches Verständnis von Krieg? Fest steht: weniger moderne Formen des Kriegs sind mit diesem modernen Krieg ebensowenig ausgestorben, wie der Krieg gegen den Terrorismus die althergebrachten Staaten- und Bürgerkriege nicht obsolet gemacht hat. Der Virenkrieg, auch wenn einem eigentlich unmissverständlich seine Kriegspropaganda ins Auge springen muss, er wird von vielen gar nicht als Krieg wahrgenommen. In Tradition des Anti-Terror-Kampfes, des „Friedenseinsatzes“ von Blauhelmen und dem „diplomatischen Wert“ der Atombombe verspricht der Virenkrieg ebenfalls Frieden oder schlimmer noch, Gesundheit. Und er scheint dieses Narrativ dadurch sogar zu perfektionieren. Die militaristische Logik der Disziplin, die derzeit jeglichem sozialen Leben auferlegt wird, die irrationale und willkürliche Reglementierung aller sozialen Beziehungen außerhalb der bereits seit Ewigkeiten institutionalisierten Beziehungen der Familie, sie dienen der Rekrutierung einer Armee von Moralist*innen und Denunziant*innen, die fortan effizienter als jede Polizei Delinquent*innen disziplinieren und verfolgen soll.

Der moderne Krieg, er wird also nur noch in den Peripherien mit Waffengewalt ausgetragen, er gibt nur noch die „Unbelehrbaren“, die „Terrorist*innen“, die „Verbrecher*innen“, usw. der vernichtenden Gewalt von Armeen preis und zieht es selbst bei diesen vor, sie zu verhaften, einem Gericht vorzuführen und ins Gefängnis – oder in ein Lager – sperren zu lassen. Unterdessen jedoch kennt er zunehmend weniger eine Unterscheidung zwischen Territorien des Friedens und jenen des Krieges. Ist es die Polizei, die sich zunehmend die Strategien des Militärs aneignet oder ist es vielmehr das Militär, das selbst in den Gebieten des Krieges eine polizeiliche Logik verfolgt? Ich denke schon diese Frage offenbart einen gewaltigen Irrtum: Polizei und Militär sind in Wahrheit ein und das selbe; sind es möglicherweise immer schon gewesen. Die Propaganda des modernen Rechtsstaats mag hier naheliegenderweise ein anderes Bild zeichnen, aber ebenso wie der Krieg von manchen immer schon als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln betrachtet wurde und wieder andere zu dem Schluss kamen, dass umgekehrt, die Politik die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln sein müsse, unterscheidet sich die Polizei vom Militär ebenfalls höchstens in den angewandten Mitteln und selbst hier hat die Entwicklung moderner Kriegstechnologien und eine jüngere, militärische Aufrüstung der Polizei diese Unterschiede zunehmend verwischt.

Falsche Verbündete im Kampf gegen den Militarismus

Man muss nicht auf das Manifest der Sechzehn zurückgreifen – in welchem bekannte Anarchisten dazu aufriefen, sich dem Lager Frankreichs wegen seiner revolutionären Tradition anzuschließen und gegen den kaiserlichen Absolutismus Deutschlands zu kämpfen – um angesichts des Krieges Beispiele für den kompletten Verlust der Orientierung und des Gespürs für die involvierten Interessen seitens der Anarchisten zu finden. Der Großteil des heutigen „antifaschistischen“ Diskurses reproduziert im Miniaturformat die gleichen Fehler und spiegelt die Ideen des in den 70er Jahren weit verbreiteten „Antiimperialismus“ wieder: Demokraten vs. Faschisten hier, Staaten der Dritten Welt gegen Staaten des Westens dort. In jüngster Zeit akzeptieren die Unterstützer des Kampfes gegen „den Faschismus“ der Dschihadisten in Syrien sogar die Streitkräfte der US-Luftwaffe im eigenen Lager. Eine Position die bereits während jenes Krieges präsent war, welcher zum Zerfall des ehemaligen Jugoslawien in den 90er Jahren führte. In gleichem Maße verteidigen viele mit gerümpfter Nase die internationalen Interventionen, um die Grausamkeiten einzudämmen, die während der „Bürgerkriege“ in vielen afrikanischen Ländern begangen wurden (bevorzugt die Interventionen der Blauhelme, welche weniger Ablehnung provoziert als die der französischen Fremdenlegion oder die einer Koalition der NATO). Heutzutage hat es fast den Anschein, dass die westlichen Armeen eher freiwillige Rekruten einsetzen, anstatt einer Massenrekrutierung, um ihre Drecksarbeit durchzuführen. Sprich, der einzige Faktor der uns davor verschont zu sehen, wie Libertäre sich in die Armeen einreihen, um die „Bösen“ zu bekämpfen, die noch stärker konter-revolutionär sind, als die Anhänger der kommerziellen Demokratie.

Aus Die Reihen Durchbrechen. Gegen den Krieg, Gegen den Frieden, für die soziale Revolution.

Man sollte meinen, das erübrige sich zu bemerken, dass ein Staat niemals ein Verbündeter im Kampf gegen den Militarismus sein könne. Und doch scheinen vergangene und jüngere Parteinahmen von Antimilitarist*innen dringend einer solchen Klarstellung zu bedürfen. Und wenn ich in diesem Kontext Staat sage, so meine ich auch jede militaristische Bestrebung mit der Absicht, einen Staat zu gründen oder anderweitig staatliche Aufgaben zu übernehmen. Was aus einer antimilitaristischen Perspektive, so wie ich sie verstehe, mindestens unlogisch erscheint, lässt sich mit einer anarchistischen Perspektive dagegen überhaupt nicht vereinbaren. Was sich bereits früher in Solidaritätsbewegungen mit dem bolschewistischen Regime, der Fatah und Hamas oder in der Kuba-Solidaritätsbewegung beobachten ließ, findet seinen Ausdruck dieser Tage beispielsweise bei jenen, die buchstäblich die Fahnen von YPG und YPJ schwenken. Schöne Anarchist*innen und Antimilitarist*innen sind das, die da die Banner militärischer Verbände spazieren tragen, die Verhaftungen durchführen, Gefängnisse und Lager betreiben und von ihren Söldner*innen die militaristische Disziplin des Tötens auf Befehl einfordern.

Aber es ist weniger interessant, die Tatsache, dass dies so ist, festzuhalten, sondern weitaus spannender ist doch die Frage des Warum? Wie kommt es, dass unverhohlen militaristische und autoritäre Organisationen schließlich von ihren eigentlichen Gegner*innen verteidigt werden als „geringeres Übel“ – was noch die ehrlichste Betrachtungsweise ist – oder gar als „Notwendigkeit“ im Krieg gegen den imperialistischen Militarismus. Dass der Antimilitarismus hier als eine Mobilisierungsstrategie für den Militarismus dient, mag wie eine grausame Ironie erscheinen, ich unterstelle jedoch, dass hier vielmehr jene Rekuperationen des Antimilitarismus sichtbar werden, die die Abwesenheit von Krieg, die Ordnung des sozialen Friedens und die repressive Kontrolle über jegliche diese Ordnung störenden Tendenzen zum Ziel eines jeden Antimilitarimus umzudeuten versuchen. Dies mag vielleicht auch das Ziel eines humanistischen, kommunistischen oder demokratischen Antimilitarismus sein, als Ziel eines anarchistischen Antimilitarismus scheint es mir jedoch völlig unzureichend. Spannend finde ich am aktuellen Beispiel der Rojava-Solidarität, die auch unter Anarchist*innen, wenn sie nicht gar unkritisch übernommen wird, so doch weitestgehend unkommentiert bleibt, wie eine bestimmte Art und Weise der Argumentation reproduziert wird, die umgekehrt bei einer staatlichen, kapitalistischen oder nationalistischen Legitimation von und Propaganda für Militarismus zu Recht kritisiert wird. Es ist das Narrativ einer nationalen Verteidigung – auch wenn dieses nationale Motiv vielleicht verschleiert werden mag und sich teilweise hinter identitätspolitisch ansprechenderen Begriffen wie „Frauenrevolution“ (jaja, das Ziel 40% der Posten mit Frauen besetzen zu wollen und die gezielte Präsentation weiblicher Militärs durch die Propaganda scheint da heute bereits zu genügen) oder „ökologischer Revolution“ verbirgt – gegen einen im Anmarsch befindlichen Feind. Ein Narrativ, das sofortige „Lösungen“ verlangt, die oberste Priorität haben und denen folglich alles andere untergeordnet werden muss und wird. Dieses Narrativ dient nicht nur der Legitimation einer Miliz, sondern es soll auch all das Übrige rechtfertigen, was vielleicht durch die Propaganda der neuen Verwaltung anders versprochen wird, in der Praxis jedoch entsprechend autoritär daherkommt. „Noch keine Zeit gehabt, sich darum zu kümmern.“ Eben ganz die Propaganda, derer sich auch etablierte Staaten bedienen, wenn sie im Kriegszustand die Arbeiter*innenschaft zu persönlichem Verzicht zugunsten der Interessen der Nation aufrufen und zugleich die militärischen Operationen im In- und Ausland als dringlich, alternativlos, sowie als Grundvoraussetzung für eine Bearbeitung des entsprechenden Problems in der Zukunft darstellen.

Es mag vielleicht überraschen, dass gerade eine antimilitaristische Bewegung dieses Narrativ nicht als ein klassisches Stilmittel der Kriegspropaganda erkennt und man könnte sicher noch seitenlange Überlegungen niederschreiben, warum das so überraschend vielleicht gar nicht ist. Aber ich will stattdessen zum eigentlichen Thema dieses Textes zurückkommen: Wie könnte eine aufständische Perspektive aussehen, die nicht nur den Militarismus des türkischen Regimes, den der NATO und den des IS angreift, sondern die sich eben auch gegen den Militarismus von YPG und YPJ und ihrer sozialdemokratischen bis leninistischen Parteien, der PYD und der PKK, sowie überhaupt gegen jede Herrschaft, auch gegen die dessen, was Demokratischer Konförderalismus genannt wird und sowieso nur in den Augen eines Trotzkisten, der sich kurzerhand zum Anarchisten erklärt hat, als anarchistisch im Sinne des Begriffs gelten kann, richtet?

Fluchtpunkte einer antimilitaristischen Praxis des Angriffs

(i) Die Kriegsproduktion

Jüngere antimilitaristische Kampagnen, die im Burgfrieden dessen, was manchmal die „Festung Europa“ genannt wird, agierten, haben die Produktion von Waffen, Munition und sonstigem Kriegsgerät als ein Feld der Intervention für sich entdeckt. Wenn der aus dieser Produktion stammende Nachschub die Frontlinien des Krieges, die sich anderswo auf der Welt befinden, nicht mehr erreicht, so würde auch der Krieg zum Erliegen kommen. Und tatsächlich: Ohne eine ununterbrochene Kette an Nachschublieferungen wären die Kriege der Vergangenheit und Gegenwart unmöglich fortzusetzen (gewesen). Soweit jedenfalls die Theorie des Ganzen.

Gemessen an ihrer Praxis müssen diese Interventionen bislang jedoch als weitgehend gescheitert betrachtet werden. Blockaden vor Produktionsstandorten der Rüstungsidustrie, oft lange im Voraus angekündigt und somit in die Produktionspläne dieser Firmen einplanbar, hielten oft nur wenige Stunden an und lösten sich nicht selten nach einer gewissen Zeit von selbst wieder auf, als die Teilnehmer*innen der Blockade Hunger verspürten oder in die Annehmlichkeit ihrer Nachtlager zurückkehren wollten, oder an die Rückreise denken mussten, um am nächsten Tag wieder ihrer Arbeit nachzugehen. Ich will mit dieser Beurteilung überhaupt nicht klein reden, dass solche kollektiven Bemühungen des Protests nicht ihren eigenen Wert haben, aber wer glaubt, mit der Teilnahme an einer derart vorhersehbaren, einkalkulierbaren und im höchsten Maße symbolischen Blockade tatsächlich einen Beitrag dazu zu leisten, dass die Kriegsproduktion in dem Maße blockiert wird, dass das irgendeinen Effekt auf die Kriegsführung in den Kriegsgebieten hätte, die*der lügt sich schlicht selbst etwas vor. Aber es gab nicht nur diese Form massenhafter Blockaden: Sabotagen an Gleisen, Brandanschläge auf Firmenfahrzeuge von Rüstungskonzernen und ihren Zulieferern, sowie den Fahrzeugen von Logistikunternehmen, die deren Kriegsgerät verschickten, usw., sowie eine vielleicht noch größere Serie an Farbangriffen auf die Sitze dieser Unternehmen boten und bieten bis heute eine militante Perspektive der Intervention in die Kriegsproduktion.

Und doch: Mir wäre es neu, dass dabei jemals die Nachschublieferungen an die Fronten der Kriege zum Erliegen gekommen wären. Zu geringfügig war die Unterbrechung der Produktion, zu unbedeutend die Sabotage der Logistik. Nichts, was nicht durch eine zusätzliche Nachtschicht aufgeholt hätte werden können. Und der finanzielle Schaden? Nun ja, sagen wir die Geschäftsführungen der betroffenen Unternehmen rechnen in anderen Dimensionen.

Es ist keineswegs meine Absicht, diese Interventionsversuche klein zu reden, Leute zu entmutigen auch dann anzugreifen, wenn der Feind übermächtig zu sein scheint und der eigene Handlungsspielraum im Vergleich zu klein, der eigene Widerstand zu unbedeutend erscheint. All das ist für mich kein Grund, vom Angriff abzusehen. Vielmehr denke ich, dass es sich lohnt, etablierte Strategien von Zeit zu Zeit zu überdenken und gegebenfalls einer Überarbeitung zu unterziehen, wenn sich herausstellt, dass das eigene Handeln in ihnen weitestgehend wirkungslos verhallt oder kalkulierbar wird.

Die heutige Hightech-Produktion – und die Produktion von Kriegsgerät fällt definitiv in diese Kategorie – ist an sich eine äußerst labile Angelegenheit. Sie ist abhängig von zahlreichen teuren und schwer zu beschaffenden Ressourcen – ironischerweise jene Ressourcen um deren Sicherung sich der ein oder andere Krieg dreht – und besteht aus einer langen Produktionskette an Zwischenprodukten und deren Logistik an die Produktionsstandorte, an denen das Endprodukt, sei es nun ein Panzer, ein Militärjet, eine Drohne, ein Raketenwerfer oder irgendetwas anderes, aus tausenden oder Millionen von Einzelteilen zusammengesetzt wird. Die produzierenden Unternehmen durchschauen oft selbst nicht vollständig, wer die Zulieferer ihrer Zulieferer sind und noch weniger, wer deren Zulieferer wiederum beliefert. Das gilt, selbst wenn es in der Rüstungsindustrie – mehr noch, als irgendwo sonst – durchaus Bestrebungen gibt, diese Produktionsketten nachzuvollziehen und – sofern sie für den Produktionsprozess unverzichtbar sind – entsprechend abzusichern, zumindest teilweise auch für die Hersteller von Panzern, Flugzeugen, Drohnen und Co. Es soll in der Geschichte der Produktion von Hightech-Gütern – und auch in der der Rüstungsindustrie – jedenfalls schon das ein oder andere Mal vorgekommen sein, dass Produktionshallen tagelang still standen, weil eine bestimmte Mutter, die nicht ohne weiteres im Baumarkt nachgekauft werden konnte, nicht geliefert worden war oder weil ein Zulieferer Bankrott machte und erst einmal Ersatz für das von ihm gelieferte Bauteil aufgetrieben werden musste. Und als vor einigen Jahren einmal die Weltmarktpreise für seltene Erden explosionsartig in die Höhe schnellten, weil China seine Exporte senkte, da gab es bei den Zulieferern der Autoindustrie – und was man für Autos braucht, das braucht man in der einen oder anderen Form oft auch für gepanzerte Fahrzeuge – erhebliche Lieferengpässe.

Ich will hier aber gar nicht allzu konkret werden. Jedenfalls scheint mir die Möglichkeit interessant zu sein, dass jenseits der oft mit Militärtechnologie überwachten, direkten Produktionsstandorte der Rüstungsindustrie in meist ohnehin unsympathischen Gegenden die vernachlässigte industrielle Peripherie dieser Sparte manchmal entlegen in kleinen Käffern, manchmal am Rande irgendwelcher weitaus sympathischeren Industriegebiete der Großstädte schlummern mag und eine große Menge Potenzial für zündenden antimilitaristischen Ideenreichtum liefert.

Auf eine ähnliche Art und Weise ließe sich vielleicht auch im Bereich der Logistik strategisch nachbessern. Die oftmalige Güterschienennetzanbindung der Produktionsstandorte von Rüstungsunternehmen und die Namen der Logistikunternehmen der die Werkstore passierenden LKWs könnten hier Ansatzpunkte offenbaren, auch wenn ich denke, dass der qualitative Gewinn für eine antimilitaristische Praxis des Angriffs hier vor allem darin bestehen könnte, tatsächliche Frachten an die und von der Rüstungsindustrie auszumachen und zu blockieren/zerstören, wenn nicht gleich das gesamte logistische System, in dem diese verschifft, verladen, mit der Bahn oder dem LKW transportiert werden angegriffen und sabotiert wird, anstatt sich auf – in diesem Sinne eher symbolische – Angriffe auf diese Logistikunternehmen im Allgemeinen zu beschränken, die zwar sicherlich einen finanziellen Schaden anrichten, jedoch effektiv kaum Auswirkungen auf den reibungslosen Betrieb der Kriegsproduktion haben dürften.

Dabei bleibt zu bemerken, dass verschiedene aufständische Projekte der Vergangenheit vor allem dort Erfolge verzeichnen konnten, wo sie entsprechende Schwachstellen in Produktions- und Lieferketten identifizierten und ihre Angriffe auf diese konzentrierten.

(ii) Die Infrastruktur des Krieges

Armeen fürchten seit jeher Wälder, Berge und Wildnis, sprich jene Umgebungen, in die ihre Zivilisation bislang nur spärlich oder überhaupt nicht vorgedrungen ist und in der es ihnen an notwendiger Infrastruktur, sowie oft auch an geografischem Wissen und Erfahrung mangelt, um ihre Umgebung erfolgreich zu kontrollieren. Kein Wunder, dass eigentlich sämtliche Spezialabteilungen des Militärs ihre „Elitesoldaten“ auf – außerhalb einer militärischen Ausbildung Todesmärsche genannte – Expeditionen durch die raue Wildnis schicken, sie entgegen der üblichen militaristischen Logik darin üben, in gewisser Weise eigenverantwortlich zu agieren, eigene Entscheidungen zu treffen und unabhängig von den Bewegungen anderer Einheiten ihrer Armeen zu kämpfen. Diese Spezialabteilungen sind das militärische Instrument, um in Gebiete vorzudringen, die frei sind von einer für die übliche militärische Intervention notwendigen, minimalen Infrastruktur. Aber gewissermaßen handelt es sich bei diesen Einheiten um ein Relikt aus vergangenen Zeiten. Moderne Kriegstechnologie baut vor allem auf Drohnen, Satteliten, Aufklärungsflüge, (Infrarot-)Überwachungstechnologie, usw., um jederzeit selbst in die entlegensten Gebiete dieser Welt vordringen zu können. Und in den wenigen Fällen, in denen sich in der Vergangenheit die Wildnis als allzu undurchdringbar erwies, wusste man sich mit Pflanzengiften, Napalm und anderen biochemischen Waffen zu helfen. Die römischen Legionen rodeten Wälder, um das geeignete Schlachtfeld für ihre Truppen zu schaffen, die US-Army versprühte das Umweltgift „Agent Orange“, um ihre Feind*innen aus der Deckung zu locken. Das sind natürlich nur zwei der populärsten Beispiele dafür, wie sehr die totale Kontrolle über ihre Umgebung damals wie heute eine bedeutende Rolle für Militärs spielte. Auch wenn die strategische Zerstörung der Umwelt auch heute noch eine wichtige Rolle in diesem oder jenem militärischen Konflikt spielt, so lässt sich doch behaupten, dass die Kriegstechnologie zumindest nach Wegen sucht, Umweltzerstörungen eines solchen Ausmaßes (im Zuge ihres lokalen Einsatzes, denn natürlich zerstört alleine die Rohstoffproduktion für Militärgerät die Umwelt in gigantischem Ausmaß) nach Möglichkeit zu vermeiden und stattdessen mithilfe von HighTech in jeden bislang „toten Winkel“ vorzudringen.

Dabei spielen längst nicht nur die militärischen Technologien eine Rolle, mit denen bislang unbekanntes „Feindesland“ ad hoc während oder im Voraus einer militärischen Intervention erschlossen werden soll, sondern gerade dort, wo sich Kriege vornehmlich gegen einzelne Bevölkerungsgruppen in einem ansonsten erschlossenen Gebiet richten, seien es indigene Bevölkerungen, Rebell*innen, Invasor*innen, das was heute mit dem Begriff Terrorist*innen gemeint ist, oder schlicht verarmte Bevölkerungsteile, die nicht bereit sind, dem Bau einer Mine, einer Fabrik, einer Straße, usw. zu weichen, sind es vielmehr die „zivilen“ Technologien, die den Armeen und/oder der Polizei oder auch privaten Sicherheitskräften den Weg bereiten. Alles was dazu beiträgt, den Raum kontrollierbar zu machen, lässt sich selbstverständlich auch militärisch zu eben jenem Zwecke nutzen. Auf Straßen und Schienen kann das Militär schnell in jeden erschlossenen Winkel vordringen, Brücken helfen dabei, natürliche Hindernisse wie Flüsse, Schluchten und Täler zu überwinden und landwirtschaftlich genutzte Flächen ermöglichen es nicht nur, große Areale von einem einzigen Aussichtspunkt aus zu überblicken, sondern sie erleichtern vor allem auch das Vorrücken abseits der Straßen; soweit dürfte man das schon einmal mitbekommen haben. Tatsächlich sind dies jedoch nur die offensichtlichsten Infrastrukturen derer sich die Armeen bedienen. Für die Schiffahrt mithilfe von Schleusen und Talsperren begradigte und vertiefte Flussläufe ermöglichen einen verlässlichen Transport von Kriegsgerät bis weit ins Inland hinein, Häfen ermöglichen das schnelle Landen von Kriegsgerät, ebenso wie nicht nur Flughäfen militärisch genutzt werden können, sondern auch diverse schnurgerade Autobahnabschnitte als Start- und Landebahnen für Kampfflugzeuge dienen und teilweise auch als solche angelegt sind.

Jenseits einer solchen logistischen Infastruktur benötigt ein modernes Heer natürlich auch eine stabile und verlässliche Kommunikationsinfrastruktur. Eigens militärisch genutzte Sattelitenkommunikation, deren Bodenstationen sich auf Militärbasen überall auf der Welt befinden und vom Militär mobil aufgespannte Ad-Hoc-Funknetzwerke, über die verschiedene Einheiten untereinander und mit ihrem Kommandostab kommunizieren können sind ebenso zu nennen, wie bereits etablierte und durch diverse Funkmasten aufgespannte Behördenfunk- und Mobilfunknetze, die sich selbstverständlich auch zu militärischen Zwecken anzapfen lassen (der Behördenfunk ermöglicht es der Polizei immerhin bereits von beinahe überall nach Verstärkung zu funken). Insbesondere Drohnen und jede andere Form von unbemanntem Vehikel benötigt derartige Funknetze, um Informationen zu übermitteln, sowie Kommandos zu empfangen. Auch das vorrangig für das Internet verlegte Glasfasernetz lässt sich zu militärischer Kommunikation nutzen und ein funktionierendes Stromnetz, das so gut wie überall eine beinahe unbeschränkte Menge an Energie zu liefern vermag erleichtert jede militärische Operation. Nicht zu vernachlässigen ist dabei vor allem auch die in Städten überhand nehmende Beleuchtung, die es selbst Nachts ermöglicht, hunderte Meter weit in Straßenschluchten, Parks, Hinterhöfe, usw. hineinzublicken und aus der Nähe beinahe in jede dunkle Ecke blicken zu können. Und die ebenfalls überhand nehmende Videoüberwachung ermöglich schon jetzt ein immer engmaschigeres Netz polizeilicher Kontrolle.

Wir leben in einer vermessenen und kartographierten Welt, die solange ihre Infrastruktur intakt ist, militärisch leichter zu kontrollieren ist, als dies den Anschein macht, wenn man sich die Berichte über militärisch schwer kontrollierbare Guerilla-Widerstandskämpfer in anderen Teilen der Welt verinnerlicht. Dazu ist es jedoch erforderlich, sich in dieser Welt jenseits der kontrollierten Pfade bewegen zu lernen, eine Fähigkeit die nicht einfach über Nacht erlernt werden kann, ebenso wie es erforderlich ist, die neuralgischen Punkte ausfindig zu machen, die die kritischen Infrastrukturen zum kollabieren bringen. Und diese – selbst wenn im Detail – nur zu kennen genügt vielleicht nicht, wie in dem Text „Fahrtenbuch“ (Die Reihen durchbrechen) argumentiert wird, es bedarf auch des spezifischen Wissens, wie diese erfolgreich sabotiert werden können, von der Herstellung der dafür erforderlichen „Betriebsmittel“, bis zu deren fachgemäßen bzw. unfachgemäßen Gebrauch.

Ich denke, dass gerade dieser Aspekt des Wissens in Ländern, in denen gerade kein offener Krieg gegen die eigene Bevölkerung geführt wird, oft unterschätzt wird. Umso bedeutender wird dieses Wissen in dem Szenario eines Aufstandes, auf den wir schließlich nicht nur alle gespannt warten, sondern auf den wir uns auch vorbereiten. In einer solchen Situation zu wissen, wie die Infrastruktur des Krieges unschädlich gemacht werden kann, das könnte sich womöglich als entscheidend erweisen.

(iii) Die Kriegspropaganda

Für das Funktionieren des Militarismus und insbesondere für die Mobilisierung nicht nur der Soldat*innen im Kriege, sondern auch jener Teile der Bevölkerung, die einen Krieg immer mittragen, ist in der heutigen Epoche die Propaganda von entscheidender Bedeutung. Vielleicht vergleichbar mit der Weltkriegspropaganda erweist sich heute die Virenkriegspropaganda, die wir seit über einem Jahr erleben. Längst sind alle Medien, von den Zeitungen, übers Radio und Fernsehen bis hin zu den sogenannten sozialen Medien auf eine Art und Weise gleichgeschaltet, die ich persönlich vorher nicht für möglich gehalten hätte. Und alle machen sie mit, vom wirtschaftsliberalen Tagesblatt bis zur linken Monatszeitschrift, vom Staatsrundfunk bis hin zu Techgiganten wie Google und Facebook, die auf ihren Internetplattformen die staatliche Sicht der Pandemie prominent bewerben und kritische Stimmen entweder algorithmisch abwerten und somit verstecken oder unverhohlen zensieren. Wer hätte das gedacht, dass die Unternehmen, die einst (natürlich zu Unrecht) von sich behauptet hatten, den Arabischen Frühling möglich gemacht zu haben, nun, wo es die westlichen Staaten sind, die (Internet)zensur vorantreiben, sich so bereitwillig als Vollstrecker andienen. Achso, ja, eigentlich stand das zu erwarten.

Die gesamte Kommunikationstechnologie, von der Zeitung über den Rundfunk bis hin zum Cybernetz, sie war schon immer das Mittel der Wahl propagandistischer Indoktrination. Wie sonst könnte man auch die Massen erreichen. Die heute vielfach behauptete Medienvielfalt, sie existiert ebensowenig wie das Internet ein Instrument der Meinungsfreiheit ist. All diese Technologien erweisen sich im Kriegszustand mehr als jemals zuvor als Werkzeuge der Propaganda.

Auch wenn man sicherlich so einiges darüber sagen könnte, mit welchen Strategien die Herrschenden es erreichen, bei einem Großteil der Bevölkerung nicht nur die notwendige Angst vor dem Virus zu schüren, sondern sie auch gleich noch auf die Notwendigkeit des längst tobenden Virenkrieges einzustimmen, so wäre diese Analyse im Endeffekt doch unnötig, würde vielleicht sogar nur den Herrschenden etwas bringen, die ihre Mechanismen dadurch verfeinern könnten. Aus der notwendigen Distanz betrachtet, muss man meines Erachtens nach zu dem Resultat kommen, dass es die schiere Existenz von Massenmedien ist, die diese Kriegspropaganda ermöglicht und folglich eine effektive Bekämpfung dieser nur auf die Zerstörung dieser Massenmedien hinauslaufen kann.


Übernommen von Zündlumpen #083.

Geduld

Meiner Meinung nach basieren viele der falschen Vorstellungen bezüglich demokratischer Verwaltung auf der Zweideutigkeit des Konzepts von (sozialem) Konsens. Die folgenden Absätze geben eine Argumentationslinie wieder, wie sie heute von vielen Anarchist*innen verfochten wird.

Als die sichtbare Grundlage der Herrschaft der gewaltvolle Zwang war, war den Ausgebeuteten die Notwedigkeit zu rebellieren nur allzu bewusst. Wenn sie dennoch nicht rebellierten, so lag das an der Erpressung, die Polizei und Hunger ihnen auferlegten, damit sie in Resignation und Elend verharrten. Folglich war es notwendig mit Entschlossenheit gegen diese Erpressung vorzugehen. Heute jedoch profitieren die Institutionen des Staates von der Beteiligung der Massen, die durch ein mit Nachdruck verfolgtes Unterfangen der Konditionierung zu ihrer Einwilligung (Konsens) bewogen wurden. Aus diesem Grund sollte die Revolte auf die Ebene der Delegitimierung verlagert werden, mit dem Ziel des graduellen und sich ausbreitenden Zerfalls des sozialen Konsenses. Folglich müssen wir mit unserem Projekt der sozialen Transformation ausgehend von jenen kleinen Zonen beginnen, in denen die Autorität ihre Legitimation bereits verloren hat, sie sozusagen eingeklammert wurde. Andernfalls wird die Rebellion bestenfalls zu einem Selbstzweck, einer nutzlosen und missverstandenen Geste und im schlechtesten Fall zu einem Beitrag zur Repression und einer gefährlichen Abweichung von den eigentlichen Bedürfnissen der Ausgebeuteten. Mir scheint, dass dies der Kern einer immer widerkehrenden Debatte in unterschiedlichen Gewändern ist.

Tatsächlich basiert diese gesamte Argumentationslinie auf einer falschen Vorannahme, und zwar auf der Unterscheidung zwischen (sozialem) Konsens und Repression. Es ist offensichtlich, dass der Staat diese beiden Kontrollinstrumente benötigt und meiner Meinung nach erliegt keiner dem fatalen Fehler das zu leugnen. Aber zu erkennen, dass die Macht nicht alleine mit der Polizei oder alleine mit dem Fernsehen bestehen kann, genügt nicht. Es ist wichtig zu verstehen, wie die Polizei und das Fernsehen zusammenspielen.

Legitimation und Zwang erscheinen nur dann als unterschiedliche Zustände, wenn man (sozialen) Konsens als eine Form von immateriellem Apparat betrachtet, der die Materialität von Befehlen formt; in anderen Worten: Wenn man annimmt, dass die Produktion eines bestimmten psychologischen Verhaltens – das der Akzeptanz – irgendwo anders liegt, als in den Strukturen der Ausbeutung und Unterdrückung, die auf einer solchen Einstellung basieren. Von diesem Standpunkt aus betrachtet ist es irrelevant ob eine solche Produktion früher (zur Vorbereitung) oder später (als Rechtfertigung) stattfindet. Von Interesse ist nur, dass es nicht zur gleichen Zeit passiert. Und genau hier findet sich die Trennung von der ich gesprochen habe, wieder.

In der Realität existiert die Trennung zwischen der inneren Sphäre des Bewusstseins und der praktischen Sphäre des Handelns nur in den Köpfen – und Projekten – von Priester*innen aller Coleur. Aber schließlich sind selbst sie gezwungen ihren himmlischen Phantasien eine irdische Basis zu verleihen. So wie Descartes die Pinealdrüse zu dem Ort machte, an dem sich die Seele befindet, so wie die Bourgeoisie das Privateigentum zur Festung ihrer dürftigen Heiligtümer auserkor. Auf eine ähnliche Art und Weise muss der moderne Demokrat, der nicht weiß, wo er den (sozialen) Konsens hernehmen soll, auf Wahlen und Meinungsumfragen zurückgreifen. Als Letzter verortet der zeitgemäße Libertäre die Delegitimierungspraxis in einer “nicht-staatlichen, öffentlichen Sphäre” mit mysteriösen Grenzen.

(Sozialer) Konsens ist ebenso eine Ware, wie ein Hamburger oder das Bedürfnis nach einem Gefängnis. Wenn die totalitärste Gesellschaft diejenige ist, die weiß wie man den Ketten die Farbe der Freiheit verleiht, dann ist er tatsächlich zur Ware par excellence geworden. Wenn die effektivste Repression von der Sorte ist, die die bloße Sehnsucht nach Rebellion auslöscht, dann ist (sozialer) Konsens präventive Repression, die Polizierung von Ideen und Entscheidungen. Seine Produktion ist materiell, wie die der Kassernen oder der Supermärkte. Zeitungen, Fernsehen und Werbung sind Machtinstrumente, die Banken und Armeen ebenbürtig sind.

Wenn man das Problem auf diese Art und Weise formuliert, wir klar, dass die sogenannte Legitimation nichts anderes ist als ein Befehl. (Sozialer) Konsens ist Zwang und seine Auferlegung wird durch bestimmte Strukturen ausgeübt. Das bedeutet – und das ist die Schlussfolgerung, die niemand ziehen will – dass er angegriffen werden kann. Andernfalls würde man mit einem Phantom ringen, das, sobald es sichtbar wird, bereits gewonnen hat. Unsere Fähigkeit zu handeln wäre gleichbedeutend mit unserer Impotenz. Ich könnte die Umsetzung der Macht sicherlich angreifen, aber ihre Legitimation würde immer – und keiner wüsste woher – zurückkehren, sowohl vor, als auch nach meinem Angriff, und dessen Bedeutung annulieren.

Wie man sehen kann, beeinträchtigt mein Verständnis von der Realität der Herrschaft meine Fähigkeit die Revolte zu begreifen. Und umgekehrt.

Die Beteiligung an den Projekten der Macht hat sich ausgedehnt und der Alltag wird zunehmend davon kolonisiert. Stadtplanung macht polizeiliche Kontrolle teilweise überflüssig und virtuelle Realität zerstört jeden Dialog. All das erhöht die Notwendigkeit eines Aufstands (sicherlich eliminiert es ihn nicht). Wenn wir darauf warten würden, dass alle Anarchist*innen würden, bevor wir Revolution machen, sagte Malatesta, dann hätten wir ein Problem. Wenn wir auf die Delegimierung von Macht warten, bevor wir sie angreifen, dann haben wir ein Problem. Aber glücklicherweise ist zu Warten keines der Risiken der Unersättlichen. Die einzige Sache, die wir zu verlieren haben, ist unsere Geduld.

 


Übersetzung aus dem Englischen. Massimo Passamani. Patience in Freedom’s Disorder – A Collection of Texts by Massimo Passamani, erschienen bei Roofdruk Edities.

Einem Feind der Polemik ins Glas spucken …

Nein Danke, es bedarf keiner paternalistischen Vulgarisierung der kompromisslosen Feindschaft gegenüber jeder Herrschaft durch dahergelaufene “Schreibtisch-Täter”

Ein bisschen hängengeblieben ist es ja schon, immer wieder den selben Schwachsinn von sich zu geben und natürlich könnte man die Meinung vertreten es wäre ebenso schwachsinnig, wenn immer wieder darauf geantwortet wird. Aber bei aller Kritik an den Herausgeber*innen des Zündlumpens, die sich immerhin erst durch die Aufgabe ihres Projekts als verweichlichte Idioten herausgestellt haben, ist es bei einem Unterfangen wie dem diesen, nämlich der Übernahme einer Zeitung, wohl auch notwendig, gleich all die falschen Kritiker*innen von Bord zu stoßen. Denn wenn wir gegen alle Waschlappen sind, auch gegen jene, die sich für Zündlumpen halten mögen, so sind wir natürlich auch und vor allem gegen alle Waschlappen, die nicht einmal auf die Idee kämen, sich für Zündlumpen zu halten.

Ja, geneigte Leser*innen des Zündlumpens mögen es ahnen, die Rede ist hier von keinem geringeren als Jonathan – “Antifaschistische Schutztruppen”, Waschlappen – Eibisch, jenem berüchtigten “Schreibtisch Täter”, der von Zeit zu Zeit “den Insurrektionalist*innen” ein bisschen über den Kopf streichelt, sie für ihre Technologiekritik lobt und für ihre Kohärenz tadelt. Und manchmal wird er eben bei diesem Versuch gebissen, weil eben wirklich keine*r das herablassende Geseier eines Möchtegern-Intellektuellen braucht. Vielleicht sollte der liebe Jonathan Eibisch ja auch endlich mal die Disziplin wechseln. Er scheint ja ohnehin mehr damit beschäftigt zu sein, irgendwelche halbgaren, den armen Narziss verunglimpfenden, Theorien über “selbsthassende Narzisst*innen” aufzustellen, als irgendeinen relevanten Beitrag zu “anarchistischer Theorie” zu leisten. Warum sich dann nicht gleich als Psychiater verdingen, immerhin stehen die Chancen dort gar nicht so schlecht, dass seine neu erfundene Persönlichkeitsstörung, an einem eingewiesenen Subjekt diagnostiziert, dazu dient, gefährliche Anarchisten Zeit ihres Lebens wegzusperren. Und uns würdest du gewissermaßen auch einen Gefallen damit tun, Jonathan, dann hätten wir endlich einen Grund, dich einfach abzuknallen, Haha.

Naja, wir wollen dir mal abnehmen, dass dies zumindest nicht deine Absicht ist, Jonathan, deshalb stecken wir die Waffe wieder weg und bedienen uns lieber der Worte. Und es wäre ja auch schade, wenn wir (und ich würde das w ja gerne so seltsam schreiben wie du, damit sich da jede*r nach eigenem Gutdünken mit mir assoziieren kann, aber ich weiß nicht wie das geht …) unseren Liebslingsintellektuellen mit gewissen Sympathien für Anarchist*innen verlieren würden, mit wem würden wir (ja, auch hier füge man die Eibischsche Eigenart des assoziativen w’s ein) uns sonst den lieben langen Tag so zanken?

Also fangen wir an, sehen wir doch zunächst einmal, was du dem lieben Narziss so alles anlasten willst. Ein bisschen befremdlich finde ich es ja schon, von einem, der aus seinem Anarchist-sein soetwas wie eine (extra)wissenschaftliche Karriere macht, den Vorwurf zu vernehmen, bei jenen, die sich nicht überall damit brüsten müssen, ihren Long-John-Silver unter ihre Texte zu setzen, würde es sich um Narzissten handeln. Und um selbsthassende noch dazu. Nun, ok, “es handelt sich sozusagen um den Schrei der bedrängten Kreatur”, schreibst du, das mag ja von mir aus noch stimmen und ist soweit ja sympathisch, auch wenn du es letztlich vielleicht eher hysterisch finden magst. “Egoismus als Ausgangspunkt und Verfallserscheinung des Anarchismus”? Ach weißt du, mit solchen rhetorischen Spielchen habe ich nicht so viel am Hut. Es ist ja wohl klar, dass wer Anarchist ist, auch Egoist sein muss, sonst wird da nicht viel draus werden, aber sicher ist das für dich “verwirrter Dogmatismus”; Es wäre ja auch ein wenig mühselig über solche Differenzen zu streiten und mich deucht ohnehin, dass du eigentlich sehr gut verstehst, was ich meine und es nur eben nicht so gerne einräumen willst. Sei’s drum. Aber was hast du nur mit diesem Narzisstischer Selbsthass-Vorwurf? Sicher wirst du dich nicht auf die klinisch-psychiatrische Kategorisierung nicht (ganz) erfolgreich domestizierter Menschen berufen, aber worauf dann? Auf die Sage, wie sie etwa Ovid wiedergibt, in der Narziss von allen möglichen Leuten angebaggert wird, aber selbst kein Interesse an seinen Verehrer*innen hat, dann von der Nymphe Echo belästigt wird, und schließlich verflucht wird, sich in sein eigenes Spiegelbild zu verlieben? Ich verstehe nicht ganz. Willst du den Insurrektionalist*innen deine Liebe gestehen? Aber was ist dann mit diesem Selbsthass? Oder denkst du, als Insurrektionalist*in, wie du uns vielleicht nennen magst, würde man sich an seinem eigenen, “dunklen” Spiegelbild abarbeiten, wie man das mit sehr sehr viel Wohlwollen vielleicht als wenigstens einmal von deinem geheimen Freund Jens Störfried theoretisiert – wenngleich auch mit erbärmlicher Argumentation und in fortwährender Ignoranz der ihm entgegen gehaltenen Einwände und Widerlegungen – in der Behauptung, Insurrektionalist*innen würden letztlich in ihrer Rebellion nach reiner “bürgerlicher Selbstverwirklichung” streben, durchgehen lassen könnte. Aber vielleicht interpretiere ich da ja auch zu viel hinein und du willst einfach nur irgendeine Beleidigung aussprechen, die möglichst klug klingt. Aber warum? Weil niemand so recht mit dir diskutieren will, wie du kritisierst? Ich meine: Du musst schon verstehen, dass es wenig Interesse gibt, mit Leuten zu diskutieren, die bloß irgendetwas theoretisieren wollen, dabei sogar noch akademische Anwandlungen haben, und kein Interesse daran zu haben scheinen, ihre Anarchie auch in die Tat umzusetzen. Ebenso wurde beispielsweise im Zündlumpen eben auch eine Trennlinie zu Bullen jeder Coleur, sowie zu allen anderen Verteidigern des Bestehenden, etwa zu Linken und Wissenschaftsgläubigen gezogen. Und jenseits dieser Trennlinie, das kannst du als jenseits dieser Trennlinie stehender natürlich kaum bemerkt haben, wurde sehr fleißig diskutiert und sehr wohl eine gemeinsame Debatte entwickelt, manchmal ja sogar mit linken Aktivist*innen und hat sich nicht sogar eine Ausgabe größtenteils dir altem Akademiker gewidmet? Was ich im Übrigen bis heute eine Papierverschwendung finde.

Aber man nimmt die Dinge halt auch manchmal so wahr, wie man sie eben wahrnehmen will …

Aber weißt du, was ich eine ziemliche Frechheit von dir finde? Offenbar hast du ja das Statement gelesen, in dem die Opfer vom Zündlumpen die Einstellung ihres Blattes verkünden. Und ob das von deiner Lebensrealität nun vor allem deshalb zu weit entfernt ist, weil du dich zu einem Schreibtisch-Täter entwickelt hast, oder nicht, so steht in dieser Erklärung eindeutig, dass die Herausgeber*innen sich mit einer Situation der Denunziation konfrontiert sehen und sie das Blatt deshalb einstellen, es ist also völlig an der Sache vorbei zu behaupten, der Zündlumpen wäre an “Selbsthass erstickt”, außer man will in irgendeiner Form Denunziation gutheißen oder verteidigen. Und wir sind hier nur einer Meinung, dass man deshalb nicht derart rumzuopfern braucht, wenn auch du der Meinung bist, dass man Snitches vielleicht lieber mal einen kleinen Hausbesuch abstatten sollte, Journalist*innen in ihrem Wohnzimmer aufsuchen und spekulierende denunziationsfreudige Linke beim nächsten Gang zum Impfzentrum auflauern sollte. Und irgendwie bezweifle ich, dass wir hier das gleiche meinen, denn nichts davon klingt nach der Waschlappen-Haltung eines Schreibtisch-Täters.

Und eines noch: Keine*n interessiert es, ob aus “dieser Ecke” inhaltliche Punkte aufgemacht werden, von denen du gut findest, dass es sie gibt. Der Anarchismus brauchte noch nie irgendwelche Akademiker, die ihn vulgarisierten und in verträgliche Häppchen zurechtschnitten, um sie der Bevölkerung im Rahmen einer Befriedungsstrategie Stück für Stück anzubieten. Und sicher braucht er das auch heute nicht.


Dieser Text beschäftigt sich mit Jonathan Eibischs Nachruf auf den Zündlumpen mit dem Titel „Polemik am Selbsthass erstickt„.

Anarchie in der Spiegelwelt?

Warum das Internet als ein “Ort” für die anarchistische Debatte für den Zündlappen nur von mäßigem Interesse ist und worauf wir unseren Fokus richten, wenn wir an den dort stattfindenden Debatten dennoch teilnehmen

In unterschiedlichem Maße und von unterschiedlichen Standpunkten aus haben wir uns in den vergangenen Jahren an anarchistischen Diskussionen, die im Internet stattfanden, beteiligt, diese beobachtet und uns über unsere Erfahrungen mit dieser Art von Diskussion ausgetauscht. Dabei stellte sich für uns immer wieder die Sinnfrage, denn entgegen den oft viel fruchtbareren Diskussionen, die wir von Angesicht zu Angesicht führen, lässt sich von einem Austausch im Internet, wie er derzeit stattfindet, kaum erwarten, dass daraus Spannungen entstehen, aus denen Affinitäten, ebenso wie Feindschaften – wobei letztere vielleicht in einer sehr absonderlichen Social-Media-Gossip-Form schon – entstünden, dass eine*n diese Diskussionen irgendwie in der eigenen Analyse weiter brächten oder dass diese wenigstens Spaß machen würden. Und obwohl man dem Internet ja nachsagt, Menschen von überall auf der ganzen weiten Welt miteinander in Austausch zu bringen, so fällt doch – und wen überrascht das wirklich? – vielmehr auf, dass jene wenigen Beziehungen, die letztlich in einer durch das Internet vermittelten Annäherung ihren Anfang gefunden haben, ebensogut sich hätten in der realen Welt anbahnen können, weil man ihnen hier und dort – ohne es zu wissen – eh schon über den Weg gelaufen war.

Zugleich lässt sich jedoch auch beobachten, dass in den Tiefen des Internets, oft in jenen Tiefen, in die keine*r von uns je vorgedrungen ist, dann doch die eine oder andere auch für uns weniger fortschrittliche, der Technologie grundsätzlich feindlich gegenüberstehenden Spießer*innen spannende Diskussion abzulaufen scheint, die sich um die gleichen oder sehr ähnliche Themen dreht, die auch uns beschäftigen. Interessant dabei ist, dass diese Diskussionen oft in völliger Unkenntnis voneinander stattfinden. Teilweise entstehen im Internet Übersetzungen von Texten, die schon vor Jahren oder Jahrzehnten übersetzt wurden, die jedoch außer in den sehr realen anarchistischen Archiven kaum wo zu finden sind, teilweise entstehen sogar Übersetzungen von Texten, die in Print auch heute noch aktiv distributiert werden. Aber auch wenn die hier skizzierte Tendenz, dass nämlich das Internet und die darin stattfindenden Diskussionen vor allem diejenigen sind, die in Unkenntnis der Diskussionen eines Außerhalb stattfinden, mir durchaus dominant zu sein scheint, so gibt es umgekehrt schon auch eine Unkenntnis dessen, was da den lieben langen Tag so im Internet veröffentlicht und diskutiert wird und was bis auf die vereinzelten Ausdrucke derjenigen Weirdos, die zwar das Internet konsultieren, aber nicht am Bildschirm lesen, niemals die Druckpressen erreichen wird. Kurz gesagt: Es sind zwei Welten. Eine, in der sich von Angesicht zu Angesicht begegnet wird, in der Zeitungen, Broschüren und Bücher von Hand zu Hand gehen, in der Plakate geklebt und Graffiti gemalt werden, in der sich beleidigt wird, und in der man – und man sollte diesen Aspekt nicht unterschätzen – seinem Gegenüber in die Augen blicken muss, ebenso wie man sich statt der Worte oder ergänzend zu ihnen, eben auch anderer Mittel der Kommunikation bedienen kann. Und eine, in der Texte, Bilder und Videos vorrangig algorithmisch zu ihren Leser*innen und Betrachter*innen gelangen, in der immer potentiell alles zugleich verfügbar ist und daher schnell der Eindruck entsteht, eben auch alles zu kennen, eine in der vieles auf Memes und Slogans gebracht wird, in der es Taten nur in Form ihres videographischen Abbildes gibt, in der es zwar Beleidigungen gibt, aber man einander weder hinterher noch in die Augen sehen muss, noch die Möglichkeit hat, seinen Emotionen mit handfesteren Argumenten Ausdruck zu verleihen. Eine Welt, die einmal ein Spiegel der anderen gewesen sein mag, die nun jedoch ein Eigenleben entwickelt hat, sich von ihrem materiellen Ballast vielfach getrennt hat und in der dennoch rege auch über anarchistische Positionen diskutiert wird. Obwohl es viele Versuche gegeben hat, die Grenzen, die die eine Welt von der anderen trennen, zu verwischen und manche Projekte darin sicherlich auch gewisse Erfolge verzeichnen konnten, bleiben Diskussionen zunehmend in ihren jeweiligen Sphären. Sei es aus Bequemlichkeit – oder weil einen eben doch mehr trennt, als es manchmal vielleicht den Anschein hat. Ob es von einer Debatte im Internet ausgehend, nicht vielleicht auch Aufbruchmomente gegeben haben mag, gibt oder geben wird, die zu etwas Realem führen, das lässt sich aus unserer Sicht sicherlich nicht abschließend beurteilen, wir haben daran jedoch erhebliche Zweifel.

Zugleich bestätigte sich in der jüngeren Vergangenheit zweifellos das, was irgendwo immer schon gewiss war: Das Internet zu nutzen, um seine Ideen zu verbreiten eröffnet den diversen Formen der Repression viele neue Einfalls-Möglichkeiten. Weil unterschiedslos jede*r, nicht zuletzt auch unabhängig vom eigenen Standort, an das dort veröffentlichte gelangen kann, von der Anarchistin bis zur Bullin, vom linken bis zum rechten Feind, vom Journalist bis zur Hobby-Detektivin, von der Geheimagentin bis zum sozialen Gerechtigkeitskrieger, und all das ohne auch nur den Mut aufbringen zu müssen, den Fuß über die Schwelle eines jener Räume zu setzen, in denen man waschechten Anarchist*innen begegnet, lassen sich die im Internet veröffentlichten Texte eben auch sehr viel leichter auf alle erdenklichen Arten und Weisen analysieren, einordnen, bewerten und im Anschluss diffamieren, verfolgen, (scheinbar) distinkten Millieus und Personen zuordnen, usw., während zugleich auch die Hemmschwellen zu sinken scheinen, haltlose Anschuldigungen vorzubringen oder gar Denunziation in Form von (nur scheinbar informierten) Spekulationen oder auch den aus dem im Internet noch zunehmenden Gossip bestimmter Subkulturen gewonnenen Informationen zu betreiben, bzw. diese Hemmschwellen sowieso niemals bei allen erreichten Personen existiert haben. Aber auch wenn jene eindeutig negativen Aspekte einer Verlagerung der anarchistischen Diskussion ins Netz sicherlich eine Rolle dabei spielen, wenn wir das Interesse daran verloren haben, so sollen diese Überlegungen hier nicht weiter verfolgt werden. Wer sich für dieses Thema interessiert, wird vielleicht im ebenfalls hier veröffentlichten Artikel Snitch-Technologie fündig.

Wir jedenfalls haben erhebliche Zweifel daran, dass sich das kybernetische Netz für unsere Ziele, nämlich den Kampf gegen die Herrschaft zu intensivieren und dabei Beziehungen zu knüpfen, die uns darin bestärken, uns Kraft geben und einander auffangen lassen, in jenen Momenten, in denen uns die eigene Kraft verlässt, nutzen lässt. Ja selbst zu einer Entwicklung unserer Analysen haben die Diskussionen des Internets in all den Jahren nur wenig beigetragen. Es ist nicht unsere Welt, die da durch die Glasfaserleitungen flimmert und wir haben deshalb nur wenig Interesse, unsere Ideen selbst zu einem matten Flackern am Ende der Leitung verkommen zu lassen.

Und doch: Die Realität ist … digital? Kybernetisch? Nein, noch nicht. Noch begegnen wir realen Menschen und nicht bloß Robortern und Drohnen, wenn wir unsere Ideen als Zeitungen und Flyer auf den Straßen in den Städten verteilen, noch blickt die eine oder andere von ihrem Smartphone auf, wenn wir Plakate kleistern, hält für einen Moment inne, um zu lesen, was da steht, noch führen wir Diskussionen nicht ausschließlich im Kreis der wenigen verbliebenen Technologieverweigerer. Aber wenn man realistisch bleiben will, so ist es auch Teil der Realität, dass viele potentielle Gefährt*innen das was jenseits des kybernetischen Netzes stattfindet, gar nicht mehr mitbekommen, während wir selbst – nicht dass wir daran etwas ändern wollen würden – deren Diskussionen dort immer nur aus den Erzählungen derer erfahren, die das Internet auf der (verzweifelten) Suche nach anderen Anarchist*innen enthusiastisch durchforsten.

Wenn wir also heute, wie in Zukunft das Internet nicht mit letzter Konsequenz meiden werden, so nur deshalb, weil wir darauf hoffen, in diesem technologischen Minenfeld doch noch die eine oder andere Gefährt*in zu finden oder von ihr*ihm gefunden zu werden. Wobei für uns unmissverständlich klar ist: Anarchie bleibt etwas Reales, Anarchie lässt sich nicht digitalisieren und schon gar nicht virtualisieren.

Deshalb gibt es den Zündlappen mit Ausnahme dieser Ausgabe auch ausschließlich gedruckt. Weitergegeben von Hand zu Hand, von Gefährt*in zu Gefährt*in und manchmal vielleicht auch über den Umweg durch die Hand des Postboten. Allerdings werden wir einzelne Artikel, von denen wir denken, dass sie zu jenen Diskussionen passen, die wir in den Untiefen des kybernetischen Netzes aufspüren, auch auf einem Blog veröffentlichen. Denn wer weiß, manchmal entspringen doch einige der größten Spannungen hin zur Revolte aus dem Unerwarteten …

So nicht!

Editorial zur Nullnummer des Zündlappens

Zuerst überrascht, dann mehr und mehr verärgert haben wir jüngst den Abgesang der Zündlumpen-Redaktion zur Kenntnis genommen. 85 Ausgaben lang haben diese Opfer ausgeteilt, um dann nicht einmal ein bisschen Gehetze irgendwelcher dahergelaufenen linken Wirrköpfe auszuhalten und unfähig jenen Leuten, die sich als Snitches hervortun, die passende Ansage zu machen? Wir hätten mehr erwartet!

Aber wenn sich auch die einstige Redaktion des Zündlumpens nachhaltig als untauglich erwiesen hat, so stimmen wir mit ihr doch darin überein, dass 85 Ausgaben Zündlumpen noch nicht genug sind, dass es noch das eine oder andere zu sagen gibt, bevor dieses Projekt den Rubikon endgültig überschritten haben wird. Und nur weil die Schiffscrew beschlossen hat, sich kopfüber vom Schiff zu stürzen, so wäre es doch gelacht, wenn wir deshalb nicht damit fortfahren würden, den Schiffsrumpf zu zerstören. Reißt vom Kadaver los, was ihr könnt, so sagt man doch. Also übernimmt jetzt die Chaoscrew! Und weil sich nach diesem Abgang kein vernünftiger Mensch jemals wieder wird positiv auf den Zündlumpen beziehen können, taufen wir unsere Reise eben auf den Namen Zündlappen. Da müssen wir immerhin nur zwei neue Buchstaben malen.

Verändern wird sich aber so einiges. Ihr werdet schon sehen. Nachdem die Feiglinge über Bord gegangen sind, wird hier nun ein rauerer Wind wehen. Und wir fangen gleich damit an, klarzustellen, was die Redaktion des Zündlumpens hätte besser gleich tun sollen: Wer auch immer meint jenseits des Kreises vertrauter Gefährt*innen – und es ist das Resultat dieses Vertrauens, an dem ihr euch messen lassen müsst, jaja, haha –, Spekulationen darüber anstellen zu müssen, wer den Zündlappen herausgebe, der ist ein*e Snitch [1] und wird von uns als solche*r behandelt werden! Und auch wenn man meinen sollte, man müsste es nicht erwähnen, sei hier gleich klargestellt, dass das auch für alle gilt, die sich in dieser Sache dem kybernetischen Netz anvertrauen, sei es in den „sozialen“ Netzwerken oder anderswo. Und wer in Anlehnung an das, was einst dem Zündlumpen vorgeworfen wurde, nun auch den Zündlappen als „sozialdarwinistisch“ und „nazi“ diffamieren zu gedenkt, die*der denke sich besser vorher ein gutes Argument dafür aus. Denn entweder hat man triftige Argumente für derlei Behauptungen oder es gibt bei der erstbesten Gelegenheit und ohne weitere Ankündigung/Vorwarnung eins mitten in die Fresse rein [2].

Ach ja. Es ist im übrigen nicht unser Anliegen, mit dem Zündlappen ein Blatt um seiner selbst willen, also der Nostalgie wegen, über seinen Zenit hinaus fortzuführen. Wir werden das mit dem Zündlumpen begonnene Projekt nur zu seinem unausweichlichen Ende bringen, danach treten wir ab oder es ist an euch zu meutern!

Aber bevor wir nun Kurs nehmen auf dieses unausweichliche Ende – und wir legen uns da jetzt nicht fest, wo wir selbiges vermuten –, da wollen wir einen Blick zurück werfen. Um zu sehen, wo wir stehen, drucken wir in dieser Nullnummer des Zündlappens neben einigen Übersetzungen vor allem jene Artikel aus den 85 Ausgaben Zündlumpen ab, von denen aus wir unsere Fahrt in Richtung Abgrund beginnen werden. Manchmal mit, manchmal ohne Kommentar.


[1] Nun, dieser Aspekt wurde von manch eine*m für unklar befunden und wir machen uns selbstverständlich gerne die Mühe das weiter auszuführen und eventuelle Unklarheiten auszuräumen: Gemeint sind hier selbstverständlich alle Spekulationen darüber, die darauf abzielen, eine*n andere*n persönlich in die Herausgabe des Zündlappens involvierte Person zu benennen, als unsere ehrenwerte, „presserechtlich verantwortliche“ B. Anke Nraub. Spekulationen darüber ob es olle Egoisten seien, die den Zündlappen machen oder „die Insus“ sind uns einerlei, soetwas finden wir je nach Stimmungslage entweder gähnend langweilig oder aber ziemlich amüsant; es ist uns vielmehr daran gelegen, die Anonymität der Herausgeber*innen zu wahren, bzw. eben selbst zu entscheiden, wem wir uns möglicherweise offenbaren und wem nicht. Und ganz gewiss geht es etwa Linke nichts an, wer wir sein könnten, so wie wir mal annehmen, dass auch ohne jede Willensbekundung unsererseits ein gewisser Konsens darüber herrschen würde, dass man Rechten und Bullen nicht an seinen Spekulationen und seinem (möglichen) Wissen über die Urheber*innenschaft anarchistischer Zeitungen teilhaben ließe. Und bei dieser Gelegenheit lohnt es sich vielleicht auch, daran zu erinnern, dass es für die Repression oft einerlei ist, ob etwas ein gesichertes Faktum ist, oder aber ob irgendjemand, dem man eine gewisse „Szenekundigkeit“ unterstellt (und sei es auch nur, weil es eben praktisch ist), etwas vermutet. Und dank abgehörten Räumen, Telefonen, etc. ist es oft auch gar nicht unbedingt notwendig, dass eine solche Unterstellung direkt an die Repression herangetragen wird. Ja wollt ihr uns nun das tratschen verbieten, oder was? Ja und Nein. Verbote provozieren dazu, gebrochen zu werden, das weiß jedes Kind und außerdem wollen wir kein Klima der Angst schaffen, in dem keine*r mehr weiß was sie*er sagen darf und was nicht und deshalb keine*r mehr etwas sagt. Es ist ja wohl klar, dass man hier und dort ein bisschen neugierig ist und auch wenn es vielleicht ein Unding ist, dass Klatsch und Tratsch zuweilen zur Tugend geworden zu sein scheinen, können wir sehr wohl zwischen jenen unterscheiden, die im Wesentlichen wissen, mit wem sie da tratschen und jenen, die sich einfach aus Ignoranz („Ist mir doch scheiß egal, ob Leute wegen meinem Gelaber in den Knast kommen, ist ja deren Problem und Sache“, „Ich rede worüber ich will, mit wem ich will“) oder sogar in der Absicht Repression zu begünstigen  das Maul zerreißen. Und eben letztere nennen wir Snitches und wenn wir von euch erfahren, werden wir alles daran setzen, euch das Handwerk zu legen!

[2] Von wem? Nun, von allen, die Lust haben, die Ehre  des Zündlappens zu verteidigen, möchte man meinen …

 

Journalistenpack

Jaja, unsere lieben Tagebuchschmierfinken, was kann man nicht alles über sie sagen? Würden sie, wie jeder wenigstens halbwegs auf dem Boden gebliebene Mensch ihr Tagebuch für sich alleine führen, so wäre das mitunter vielleicht noch immer ein gewisses Problem und man würde sie in jenen kriminellen Kreisen, in denen sie sich so gerne bewegen würden, aus naheliegenden Gründen noch immer nicht dulden können; Aber den allzu eitlen und aufmerksamkeitsheischenden Journalist*innen genügt das einsame Tagebuchschreiben ja nicht. Von der Langeweile des eigenen Lebens angeödet, suchen sie das Abenteuer im Leben anderer, eilen von einem Ereignis oder auch Spektakel zum Nächsten und, vielleicht um für sich selbst – vielleicht aber auch um auf andere – wenigstens ein klein wenig interessant zu erscheinen, ertragen sie es nicht, nur ein*e Teilnehmer*in oder – was in ihrem Fall vielleicht treffender ist – Beobachter*in zu sein. Nein, sie müssen das, was sie sehen, jedoch niemals begreifen werden, nichtsdestotrotz abstrahieren, einordnen, bewerten, kommentieren oder zumindest dokumentieren und sie drängt es danach, ihre Sicht der Dinge als die objektive, die einzig Richtige nicht nur auf die Seiten ihrer Tagebücher zu bannen, sondern sie auch, immer gemäß der technologischen Möglichkeiten, mithilfe von Boten, Druckpressen, Mattscheiben, Radiowellen und Glasfaserleitungen hinauszuplärren in die Welt, einzig und alleine in dem Bestreben, dass ihre Schilderung, ihre Bewertung des Spektakels, das Geschehene selbst verdrängt. Dabei stehen sie – und zwar ausnahmslos – mindestens durch ihren Gebrauch, dessen, was sie selbst Medien nennen, im Dienste der Herrschaft, stilisieren sich stolz selbst zu einer “Vierten Staatsgewalt” und können daher niemals als etwas anderes als unsere Feind*innen begriffen werden.

Doch was eigentlich so einfach und offensichtlich ist, das ist nicht zuletzt dadurch, dass diverse selbsternannte Anarchist*innen sich selbst als Journalist*innen bezeichne(te)n, dass angeblich anarchistische Publikationen die Form von Medien annehmen und ihre Herausgeber*innen und Redakteur*innen Journalist*innen sind, dass Anarchist*innen von Zeit zu Zeit Journalist*innen Einblicke in ihr Leben und ihre Kämpfe und dabei auch gleich das/die von anderen Anarchist*innen gewähren und diese (Zeitungs-) Spitzel dabei gar als Verbündete begreifen, ein wenig in Vergessenheit geraten und wird heute ohne weitere Erläuterungen kaum allgemeinen Zuspruch selbst innerhalb authentischer anarchistischer Kreise finden. Es bedarf also möglicherweise einer erneuten Analyse eines insgesamt sehr verwirrenden Geflechts, um heute wieder klar zu sehen, was einst offensichtlich gewesen sein mag.

Aber was ist eigentlich ein*e Journalist*in? In diesem Artikel werden darunter all jene verstanden, die sich (beruflich oder aus Idealismus) an der Verbreitung von Informationen, Meinungen und Unterhaltungen in Medien beteiligen, wobei unter Medien alle Kommunikationsmittel verstanden werden, die als Instrumente dienen, die Massen zu erreichen mit dem letztlichen Ziel einen bestimmten sozialen Konsens herzustellen. Freilich lässt sich dabei hervorragend darüber streiten, welche (auch anarchistischen) Zeitungen, Magazine und Co. nun als Medien und ihre Autor*innen somit als Journalist*innen gelten müssen. Im Zweifel wäre ich geneigt, mich hier an das entsprechende Selbstverständnis dieser Veröffentlichungen zu halten. In jedem Fall müssen jedoch kommerzielle Publikationen als Medien gelten, denn die Entscheidung, finanzielle Absichten zumindest zu einem Entscheidungskriterium für die publizierten Inhalte zu machen, erfordert es, im Großen und Ganzen dem Unterfangen verschrieben zu sein, einen sozialen Konsens herzustellen und diesen im eigenen Medium auch zu reproduzieren.

Es mag stimmen, dass es sogenannte “harmlose” Journalist*innen gibt, die einst die Gelegenheit beim Schopfe ergriffen haben, Geld mit dem zu verdienen, was sie sonst so in ihr Tagebuch geschrieben hätten. Möglicherweise können Journalist*innen, die Tag für Tag der Frage nachgehen, welche Farbe ihr eigener Stuhlgang hat, oder meinetwegen auch jene, die Tag um Tag ihr Essen fotografieren und damit die Zeitungsseiten zuscheißen, sprich jene, die Fragen erörtern, die nicht nur völlig belanglos, sondern zugleich auch unter keinen Umständen interessant genug sind, um Leser*innen für das Medium zu gewinnen, in dem sie publizieren, als solche gelten. Diese Art von Journalist*innen will ich im folgenden außen vor lassen. Ich glaube auch kaum, dass diese die Bezeichnung Journalist*in mit Stolz vor sich hertragen und wenn doch, so vielleicht nur, um diesen Berufsstand nachhaltiger zu verhöhnen, als es von außen vielleicht möglich wäre.

Und was ist mit jenen Journalist*innen, die in den Medien die Sache der Anarchist*innen positiv diskutieren?, mag man mich nun fragen. Ich bin der Meinung, dass genau diese zu den Schlimmsten von allen gehören. Abgesehen davon, dass ich persönlich noch nie gelesen hätte, wie ein Journalist in einer Zeitung, einem Magazin, Radio, Fernsehen oder auch nur auf einem Blog für die totale Zerstörung jeder Herrschaft plädiert hätte, dafür die Politiker*innen, Bull*innen und Richter*innen, sowie seinen eigenen Berufsstand abzuknallen und fortan ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Ein solches Plädoyer habe ich von einem Journalisten noch nie gelesen. Aber wie dem auch sei, was ist von jenen zu halten, die das vielleicht nicht in dieser (notwendigen?) Radikalität tun, aber die dennoch immer wieder aufs Neue ihre Sympathien für Anarchist*innen ausdrücken. Ich denke die Frage lautet, und die Antwort ist in ihr möglicherweise vorweggenommen: Kann die Anarchie neben der Herrschaft existieren? Kann wenn in dem selben Medium diese oder jene Reform der Herrschaft begrüßt, andere gefordert und wieder andere als rückschrittlich kritisiert werden, die Anarchie als das was sie ist überhaupt begriffen werden, oder ist es nicht vielmehr der Versuch, die Anarchie in einem liberalen, demokratischen Meinungsfreiheitskonzept einzufangen, bei der die Frage nach der Herrschaft zur Meinungssache wird, während die realen Verhältnisse unangetastet bleiben?

Aber es scheint mir ohnehin ein Phantom zu sein, dem wir hier nachjagen. Sicher, ob Kropotkin oder Erich Mühsam, ja sogar der Bombenbauanleitungs-Verleger Johann Most (eigentlich ja ohnehin Sozialdemokrat) und die Ikone der (anarchistischen) Feminist*innen, Emma Goldman, über die meisten bekannteren Anarchist*innen der Vergangenheit liest man heute Reportagen in den Feuilletons, selbst auf Galleani darf sich bezogen werden, zumindest wenn es um die liberale Unschuldskampagne von Sacco und Vanzetti geht. Aber hat man in der Presse jemals etwas Positives über Luigi Lucheni gelesen, oder über Sholem Schwarzbard, ja selbst über Fanny Kaplan schweigt sich die bürgerliche Presse lieber aus, denn wer eine Kaiserin, einen Politiker oder einen kommunistischen Despoten zu ermorden trachtet, die*der könnte ja auch auf die Idee kommen … Und das ist es eben. Keinesfalls werden in den Medien jemals antiautoritäre Ideen verfochten werden, ohne dass diese dabei in einen Herrschaftsdiskurs eingeebnet werden, weil eben das Projekt der Medien selbst ein propagandistisches ist, ein Projekt das dazu dient, die Herrschaft zu verteidigen und zu legitimieren. Und ehrlich gesagt: Es wäre auch ein so eklatanter Widerspruch, den Menschen Anarchie mithilfe von Medien anerziehen zu wollen, dass ich dazu wohl kaum ein Wort zu verlieren brauche. Nein, ich will nicht anklagen, dass die Taten von Anarchist*innen, wo sie sich kompromisslos gegen die Herrschaft wenden, von Journalist*innen nicht rezipiert werden. Es mag die Zeit kommen, wo die Propaganda Wege gefunden haben wird, selbst diese Taten zu integrieren, dank irgendwelcher pseudo-anarchistischen Journalist*innen, denen dazu irgendein “ja aber heute ist das ja ganz anders”-Gelaber einfällt, aber ich könnte nichts weniger wollen, als mir diesen Tag herbeizusehnen. Und doch jagen wir hier heute ein Phantom, denn der Journalist, der das versucht, den müsste man mir erst noch vorstellen. Vielmehr hat man es heute eher mit “sympathisierenden” Journalist*innen zu tun, die versuchen, die Anarchie zur (Basis-)Demokratie, also zur Archie (Herrschaft), zu erklären und damit versuchen, sie zahn- (und sinn-)los zu machen und in den demokratischen Diskurs zu integrieren [1].

Die meisten Journalist*innen jedoch, sie dürften der Ideologie ihrer “Neutralität”, sprich ihrer Kompliz*innenschaft mit der Herrschaft, verbunden sein und folglich, wenn sie sich dem Thema der Anarchie annähern, vor allem auf die angeblichen “Problematiken” von unkontrollierten Menschen, die tun und lassen was ihnen gefällt, verweisen, wenn sie nicht gleich vom Terrorismus der Anarchist*innen sprechen. Recht so, irgendetwas hätte man schließlich falsch gemacht, wenn eine*n die Verteidiger*innen des Bestehenden nicht als Bedrohung betrachten würden. Und doch gibt es immer wieder jene selbsternannten Anarchist*innen, deren beste Freunde Journalist*innen sind und die sich wohl deshalb eher so verhalten, als hätten sie eine gründliche Gehirnwäsche bekommen. Sie streben danach, den Medien das freundliche Gesicht des Anarchismus zu präsentieren, indem sie Interviews geben, in denen sie sich als karitative Köch*innen, idealistische Träumer*innen und reformistische Politiker*innen präsentieren, während sie ganz nebenbei die hässliche Fratze des Anarchismus, also die aufständischen Projekte derer, die sich zu Recht als Anarchist*innen bezeichnen durch den Dreck ziehen und verharmlosen. Den Journalist*innen tun sie damit freilich einen Riesengefallen. Sie helfen aktiv dabei mit, Anarchist*innen entweder gemeinhin als naive Idioten (deren Vertreter*innen sie zweifelslos sind) zu portraitieren, oder aber den guten Anarchisten von der schlechten Anarchistin abzugrenzen. Und es passiert gar nicht so selten, da geben diese Idioten sogar jenen Journalistenschnüfflern Interviews (oder auch nur Tipps), denen es weniger um diese ideologische Trennung geht, als um das konkrete Profiling jener Anarchist*innen, die eben als die schlechten gelten, in dem Bestreben Repression vorzubereiten und zu legitimieren.

Zuweilen gibt es sogar Journalist*innen, die für eine “Anarchistische Presse” (wie die Graswurzelrevolution) arbeiten, die sich dieser schmutzigen Aufgabe annehmen. Manchmal sogar ohne dafür bezahlt zu werden – zumindest nicht von den Profiteur*innen ihres Mediums. Die meiner Meinung nach absurdeste Ausprägung einer Verflechtung von angeblich anarchistischen Millieus mit Journalist*innen firmiert unter der Bezeichnung “Demofotografie”. The Revolution will not be televised. Aber was, wenn einem irgendwelche Journalist*innen selbiges versprechen? Was wenn Journalist*innen dich bei (illegalen) Handlungen filmen und fotografieren und diese Bilder dann an die Medien verkaufen? Nun, es verwundert doch sehr, dass es heute zum guten Ton gehört, diese Journalist*innen zu hofieren, anstatt sie zusammenzuschlagen und ihr Equipment zu zerstören. Während (schlecht) verpixelte Bilder von Personen, die irgendetwas Strafbares tun, von diesen rücksichtslosen Arschlöchern anderen (möchtegern) Anarchist*innen das Spektakel vor dem Bildschirm erfahrbar machen und entsprechend sogar wertgeschätzt werden, riskieren sie die spätere Verurteilung der Täter*innen aufgrund genau dieser Bilder. Dabei sind es nicht einmal nur die veröffentlichten Bilder. Auch unveröffentlichte Bilder können von Bullen beschlagnahmt werden und es kommt zuweilen auch vor, dass man als Täter*in später in irgendwelchen Akten liest, dass irgendein*e ach so solidarische Fotograf*in sich freiwillig bei den Bullen eingefunden hatte und mit diesen lang und breit über ihre Arbeit und die Objekte der eigenen Fotografie geplaudert hatte. Aber warum? Warum ist es gerade diese Snitch-Praxis von aufmerksamkeitsheischenden und rücksichtslosen Fotograf*innen, die die wohl größte Wertschätzung unter Anarchist*innen genießt? Eine Praxis, die niemandem irgendetwas nützt, außer Bullen und den Konsumenten von Riot-Porn. “Solidarische Journalisten” werden diese Snitches genannt, aber was ist solidarisch daran, Denunziation zu betreiben? Und dieser Doppelsprech ist nebenbei bemerkt prä-pandemischen Ursprungs.

Aber bedarf es wirklich so viel Entwirrung, um das Spiel aufzudecken, das Journalist*innen immer schon trieben? Genügt es nicht zu wissen, dass Journalist*innen sich stolz als die sogenannte “vierte Gewalt” des Staates wähnen, um zu wissen, was von ihnen zu halten ist?

“Zweifellos werden die Medien den AnarchistInnen weiterhin hinterher jagen, solange die Anarchie ein vermarktbares Ding ist. Daher ist es notwendig, dass wir als AnarchistInnen erkennen, dass die Medien ebenso Teil der Machtstruktur sind wie Staat, Kapital, Religion, Justiz… In anderen Worten: Die Medien sind unser Feind und wir sollten sie entsprechend behandeln. In diesem Licht betrachtet ist die Aktion von drei italienischen AnarchistInnen – Arturo, Luca und Drew – beispielhaft. Als ein Journalist auf der Suche nach einem saftigen Happen Neuigkeit bei der Bestattung ihres Genossen aufkreuzt, schlagen sie zu.”


[1] Natürlich mag das auch die irrende Ansicht irgendwelcher selbsternannter “Anarchist*innen” sein, aber nur weil auch jene die gleichen Methoden der Aufstandsbekämpfung praktizieren, wie ihre Journalistenfreund*innen, ändert das freilich nichts an dem Unterfangen selbst.

Wo sind sie nur hin, die Nazis?

Eine Spurensuche.

Nazis, gibt es solche Idioten heute überhaupt noch? Und kann man sie als eine gesellschaftlich relevante Kraft beschreiben? Schwerlich. Ganz gewiss stehen wir nicht kurz vor einer Machtübernahme durch faschistische Kräfte und auch wenn der mordend durch die Lande ziehende NSU und noch modernere rechte Kräfte, die sich der Strategie des Terrors verschrieben haben, selbst dem Letzten vor Augen geführt haben dürften, dass man nicht den Fehler begehen sollte, organisierte Nazis ausschließlich als glatzköpfige, fettwanstige Hohlbirnen zu unterschätzen, so sind diese Nazi-Terroristen doch allenfalls ein erbärmlicher Abklatsch der präfaschistischen Prügeltruppen der SA. Die Nazi-Kader von heute, sie besetzen ganz bestimmte Positionen innerhalb des demokratischen Systems, vom Verfassungsschutz bis zur Justiz und zuweilen fragt man sich, ob die faschistische Bewegung von heute nicht vielleicht so sehr mit dem demokratischen Staat verwachsen ist, dass sie sich selbst kaum noch vorstellen kann, diese Allianz irgendwann einmal aufzukündigen. Wozu auch? Immerhin lebt es sich als Angestellter des Staates doch eigentlich ganz gut und wem es noch nicht genügt, bei FRONTEX, Polizei und Bundeswehr nach den Regeln dieser Institutionen Untermenschen abzumurgsen, der kann sich ja immer noch unter dem Protektorat des Verfassungsschutzes verdingen und als mordender Rechtsterrorist in die Analen der Bundesrepublik Deutschland eingehen.

Nein, was ist der Faschismus in Deutschland nicht lächerlich im Vergleich zur Effizienz der Todesmaschinerie des technoindustriellen Systems unter demokratischer Herrschaft. Jeden Tag, was sage ich, jede Stunde, möglicherweise sogar jede Minute, verrecken an den Grenzen der Festung Europa jene, die nicht länger Untermenschen genannt werden, aber nichtsdestotrotz als solche behandelt. Und es mag vielleicht neben anderen Charakteren, einen gewissen faschistischen Typus anziehen, die Posten an der Front dieser Todesmaschinerie zu beziehen, doch es ist gewiss kein faschistisches Unterfangen, mit dem wir es hier zu tun haben. Und auch wenn es in den vergangenen Jahren rechtspopulistischen Parteien mit bisweilen faschistischen Flügeln immer wieder gelungen ist, in die Parlamente Europas einzuziehen und bestimmte Diskurse einer Übervölkerung oder Umvolkung europäischer Territorien zu lancieren, so ist es den demokratischen Parteien doch immer wieder gelungen, diese rechts zu überholen und mithilfe einer mörderischen Praxis, die seit jeher in ein humanistisches Vokabular der Vielfalt und Gleichheit eingekleidet ist, die Wähler*innenstimmen für sich selbst zu beanspruchen. Nein, wenn man einmal hinter die Kulissen der deutschen Politik – und das gleiche gilt auch für die meisten anderen europäischen Staaten – blickt, wird schnell klar, dass etwa ein Winfried Kretschmann oder ein Bodo Rammelow für mehr rassistische Morde verantwortlich zeichnen, als ein Uwe Mundlos oder ein Uwe Böhnhardt. Und wenn etwa ein Horst Seehofer zu seinem 69. Geburtstag die Deportation einer mit seinem Alter korrelierenden Anzahl von Menschen veranlasst, dann wird klar, dass es in einem postfaschistischen Land keinerlei Nazis bedarf, um die Institutionen des Faschismus am Leben zu erhalten.

Gewissermaßen sehen wir das auch heute, drei Jahre später, wo die durch Corona legitimierte, totale Grenzschließung das angestammte Terrain faschistischer Mobilisierung von einem Tag auf den nächsten hinweggefegt hat, ja es vielmehr allem Anschein nach in ein linkes, antifaschistisches Terrain verwandelt hat. Man braucht gar nicht allzu viel über die nationalsozialistische Vergangenheit des zentral in den Holocaust involvierten Robert Koch Instituts wissen, braucht nicht notwendigerweise zu verstehen, dass die Genetik die wissenschaftliche Disziplin ist, in die sich die Rassenhygieniker, Eugeniker und Rassentheoretiker geflüchtet haben, nachdem ihre ursprünglichen Disziplinen mit dem Bannfluch der Pseudowissenschaft belegt wurden, um zu erkennen, dass es eine faschistische Dynamik ist, die da von all den demokratischen Parteien, der Wissenschaft und anderen Akteur*innen vom Zaun gebrochen wurde. Eine faschistische Dynamik wohlgemerkt, die sogar den Nazis Angst zu machen scheint, während die deutsche Antifa in ihrer neuen Rolle als Blockwart der Gesellschaft geradezu aufzublühen scheint.

Und so kommt es, dass man die letzten verstreuten Nazis zuweilen unter jenen wiederfindet, die ihren Unmut über das, was man vorsichtig vielleicht den neuen Faschismus nennen könnte, auf die Straßen tragen. So wie den Faschist*innen immer schon das Treiben der ihrer eigenen Bewegung gar nicht so unähnlichen, kommunistischen Terrorherrschaft, spinnefeind war, scheinen sie nun auch im von der Technokratenklasse vom Zaun gebrochenen Faschismus – oder meinetwegen, um ein historisch weniger gefärbtes Wort zu verwenden, Totalitarismus – einen Feind zu erblicken. Verwunderlich ist das freilich bloß auf den ersten Blick, handelt es sich bei den Faschist*innen um nichts anderes als eine bestimmte politische Fraktion, die eben vor allem um die Macht ringt und der dabei jeder andere Machtblock, und sei er ihnen in Methoden, Zielen und Idealen auch noch so ähnlich, Todfeind ist.

Man muss dabei verstehen, warum, mit welchen Zielen und Absichten die Nazis sich den ursprünglich und in ihrem Grundsatz noch immer demokratisch geprägten (und nur um Missverständnisse zu vermeiden, aus anarchistischer Sicht ist das Wort demokratisch alles andere als eine Sympathiebekundung) Demonstrationen angenähert haben, will man ihre Rolle darin verstehen und die von ihnen ausgehende Bedrohung analysieren. Als nach einer kurzen Phase der Ohnmacht jene demokratischen Kräfte, die nicht auf Anhieb der Kriegspropaganda der Medien anheim fielen, beschlossen, ihre Uneinverstandenheit auf die Straße zu tragen, da konnte man mancherorts beobachten, wie sich die organisierten Nazis wie man selbst vielleicht auch, an den Rändern dieser Demonstrationen tummelten, in dem Versuch diese besser zu verstehen und womöglich auch, um Strategien zu entwickeln, diese für sich zu nutzen. Neben den demokratischen Organisator*innen der Demonstrationen, gab es vielerorts eine kurze Phase, in der die Richtung in die sich diese Bewegung entwickeln würde, gänzlich offen war, zu vielfältig waren die Menschen, die dort zusammengekommen waren, nicht weil sie eine bestimmte politische Identität verkörpert hätten, sondern weil sie eine gemeinsame Erfahrung einer ihnen zuvor unbekannten Form von Herrschaft dorthin trieb. Und mancherorts lässt sich gewiss bis heute von einer solchen Art von Bewegung sprechen, einer Bewegung, die sich über ein einziges Anliegen mobilisiert und die ansonsten uneinheitlicher kaum sein könnte. Nun, die organisierten Nazis jedenfalls, sie kamen anfangs oft in zivil, ohne jedes erkenntliche Abzeichen, zu erkennen nur von jenen, die sie bereits kannten, und ich selbst habe gesehen, wie diverse “Antifas” am Rande dieser Demonstrationen standen und irgendwelche lächerlichen Masken- und Abstandsbefehle in Richtung der Demonstranten brüllten, während unmittelbar neben ihnen organisierte Nazis von ihnen unerkannt das Treiben beobachteten. Spätestens als die Medien begannen, die Proteste als von Rechten ausgehend zu framen, ergriffen die Nazis die Gelegenheit beim Schopfe. Sie begaben sich in die Reihen der Demonstranten, wo sie als authentische Gleichgesinnte – denn letztlich demonstrieren selbst organisierte Faschisten bis heute für nichts anderes als die Wiederherstellung der demokratischen Ordnung, paradox, nicht? – das Vertrauen der Menschen gewannen, nicht zuletzt auch, weil die Teilnehmer*innen dieser Demonstrationen von den Medien selbst zu Nazis stilisiert wurden.

Heute lässt sich die Präsenz der Nazis in der Bewegung, die ich hier einmal, weil sie ohnehin als solche bekannt ist, trotz der unpassenden Benamung “Coronaleugner” nennen will, vermutlich als ein politischer Flügel dieser Bewegung analysieren. Während (gewissermaßen sogar linke) Demokraten eine Art Gegenflügel ausmachen. Und auch wenn die Bewegung der Coronaleugner auch von Ort zu Ort verschieden ist, teilweise sogar von Demonstration zu Demonstration, so tummeln sich in ihr ohne jeden Zweifel eben auch Nazis, die wohl darauf hoffen, neue Anhänger*innen um sich zu scharen. Nun, Faschisten gehören sabotiert, wo man ihnen nur begegnet, aber wo eine*n als Anarchist*in wohl sonst nichts zu diesen Demonstrationen treiben würde, lohnt es sich da, dort nur wegen der Faschist*innen aufzukreuzen? Dort, wo sich die Faschist*innen bis heute sichtlich schwer tun, gänzlich Fuß zu fassen und wo es ansonsten vor allem vor Demokrat*innen nur so wimmelt?

Der aktuelle Versuch der antifaschistischen Verteidiger des Bestehenden, die gesamte Bewegung von Coronaleugner*innen als faschistisch zu bezeichnen erscheint mir dagegen ebenso peinlich, wie kontraproduktiv zu sein: Wo klare demokratische Forderungen einer Rückkehr zum präpandemischen Status quo bestimmend sind, lässt sich einer Bewegung nun einmal vieles unterstellen, aber doch gewiss nicht, per se faschistisch zu sein. Wer dies dennoch tut, der macht sich nicht nur selbst lächerlich, sondern trägt auch dazu bei, dass Faschist*innen gerade wegen der daraus resultierenden, völligen Beliebigkeit dieses Begriffs als Bündnispartner*innen Fuß zu fassen vermögen. Zugleich beobachtet man innerhalb der Bewegung von Coronaleugner*innen viel eher, dass Faschist*innen für demokratische Forderungen demonstrieren. Das weißt wohl nicht darauf hin, dass diese sich den Demokraten annähern würden, sonst würden sie sich nicht gleichzeitig faschistisch organisieren, sondern wohl eher darauf, dass sich die Faschist*innen etwas davon versprechen mögen, Fuß in der Bewegung der Coronaleugner*innen zu fassen. Vielleicht spekulieren sie darauf, dass diese Bewegung zu einer Bedrohung für das herrschende System heranwächst und hoffen, durch ihre Beziehungen zu ihr das Ganze im richtigen Moment in eine faschistische Richtung lenken zu können? Ganz abwegig fände ich es nicht, auch wenn ich jenen Leuten, die sich entscheiden auf Demonstrationen für irgendwelche Grundrechte zu gehen, nicht gerade zutraue irgendwann reale – und nicht bloß inszenierte, zudem vor allem von den Medien, wie etwa die “Stürmung des Reichstags” – Aufstände zuwege zu bringen. Ich würde hier vielmehr auf jene Menschen setzen, die sich von derlei Schauläufen fern halten und trotzdem etwas einzuwenden haben, gegen all die Maßnahmen. Jene Leute, die sich einfach weiter treffen, auf der Straße, bei illegalen Parties, im Park und die sich nicht selten auch gegen sie auseinandertreibende Bullen zur Wehr zu setzen wissen, ihnen traue ich das schon viel eher zu. Oder jenen, die sich ein bisschen Benzin und ein Feuerzeug greifen und die kurzerhand ein Test- oder Impfzentrum, einen Funkmast oder andere Infrastruktur anzünden, wie das auch in Deutschland zunehmend häufiger vorkommt.

Die Bewegung der Coronaleugner, ich finde nicht, dass sie den Faschismus bedrohlicher macht, als er vorher gewesen wäre. Sicher lohnt es sich, im Auge zu behalten, was die in der Bewegung mitschwimmenden Faschist*innen so treiben, ebenso wie ich auch im Auge behalten würde, was der dominante, demokratische Flügel dieser Bewegung vielleicht so anstellen mag, denn bei ihm handelt es sich immerhin um genau jene Art von Politikern, die im Falle von Aufständen als erste bereit stehen, diese zu befrieden. Letztlich jedoch bin ich der Meinung, dass sich die Nazis mit dem Verlust ihres Haupt-Agitationsfeldes (Migration) vor allem in ihre Löcher verkrochen haben und unschlüssig sind, ob und wie sie die verlorenen Fäden ihrer Kämpfe wiederaufnehmen können. Das kann man natürlich auch als eine Gelegenheit begreifen, der faschistischen Bewegung den Todesstoß zu verpassen. Aber wenn, dann sicherlich eher indem man sie in ihren Löchern ausräuchert, so wie das in jüngerer Zeit vor allem in der Thüringer-Naziszene passiert ist, anstatt dass man ihnen den Gefallen tut, sie der Bewegung der Coronaleugner als taugliche Bündnispartner*innen anzudienen, indem man den Faschismusbegriff bis zur Unkenntlichkeit verwischt.

Wer schreibt denn da?

Ein kleiner Überblick über Methoden der modernen Forensischen Linguistik zur Autorschaftsbestimmung

Der folgende Artikel versucht aus einer nicht fachlichen Perspektive einen Überblick zu geben und eine entsprechende Einordnung vorzunehmen. Es gibt einige wissenschaftliche Publikationen zu diesem Thema, die für eine bessere Einschätzung ausgewertet werden könnten. Es geht mir hier aber vor allem darum, das Thema einmal aufzuwerfen und nicht darum, eine fundierte und abschließende Betrachtung zu liefern. Wenn du also irgendetwas besser weißt, dann immer her mit den Informationen!

Spuren vermeiden, die einer später einmal – vielleicht noch nach Jahren und Jahrzehnten – zum Verhängnis werden könnten, das dürfte wohl für die Meisten von Interesse sein, die ab und an zur Tat schreiten und dabei in Konflikt mit dem Gesetz geraten. Fingerabdrücke vermeiden, DNA-Hinterlassenschaften vermeiden, Schuhabdrücke und Textilfaser-Spuren vermeiden oder zumindest getragene Kleidung im Anschluss entsorgen, Videoaufnahmen vermeiden, Werkzeugspuren vermeiden, Aufzeichnungen jeder Art vermeiden, Observationen erkennen usw., all das dürfte dabei zumindest mehr oder weniger jeder, die des öfteren Verbrechen begeht und sich dabei vor Identifizierung schützen will, ein Anliegen sein. Aber wie steht es mit jenen Spuren, die oft erst im Nachhinein eines Verbrechens aus dem Drang heraus, die eigene Tat wenigstens anonym oder auch unter Verwendung eines wiederkehrenden Pseudomyms zu erklären, entstehen? Beim Verfassen und Publizieren eines Communiqués oder eines Bekenner*innenschreibens?

Mein Eindruck ist, dass diesen Spuren trotz einer rasanten technologischen Entwicklung der Analysekapazitäten in vielen Fällen keine besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. Das kann Absicht sein, Nachlässigkeit oder auch ein Kompromiss aus miteinander konkurrierenden Bedürfnissen. Ohne hier einen allgemeinen Vorschlag zum Umgang mit diesen Spuren unterbreiten zu wollen – das muss schließlich jede für sich wissen –, möchte ich vor allem skizzieren, mit welchen Methoden die Ermittlungsbehörden in Deutschland und anderswo derzeit (wahrscheinlich) arbeiten, was grundsätzlich möglich scheint und was in Zukunft möglich werden könnte.

Vielleicht sollte ich vorab noch bemerken, dass freilich alles oder zumindest das allermeiste, was ich hier vorstelle wissenschaftlich ebenso wie juristisch umstritten ist. Ich bin auch weniger an der juristischen Verwertbarkeit von Sprachanalysen interessiert – und an der wissenschaftlichen sowieso nicht –, als daran, ob es plausibel erscheint, dass diese Ermittler*innen einer auf die Spur bringen, denn selbst wenn eine Spur gerichtlich nicht verwertbar ist, so kann es dennoch dazu führen, dass diese zur Ermittlung einer anderen, verwertbaren Spur führt.

Autorenerkennung beim BKA

Das Bundeskriminalamt unterhält eigenen Angaben zufolge eine Abteilung, die sich der Ermittlung der Autor*innenschaft bei Texten widmet. Im Fokus stehen dabei Texte mit einem Bezug zu Straftaten wie Bekenner*innenschreiben, aber auch „Positionspapiere“ unter anderem aus dem „linksextremistischen Spektrum“. Alle gesammelten Texte werden aufbereitet durch sprachwissenschaftliche Untersuchungen in einer sogenannten Tatschreibensammlung erfasst und sind mit dem Kriminaltechnischen Informationssystem Texte (KISTE) vergleich- und durchsuchbar. Den Angaben des BKA zufolge werden die Texte unter anderem klassifiziert nach den folgenden biografischen Merkmalen ihrer (vermeintlichen) Autor*innen: Herkunft, Alter, Bildung und Tätigkeit.

Alle eingehenden Texte werden zudem mit bereits erfassten Texten verglichen, um zu bestimmen, ob mehrere Texte möglicherweise von der gleichen Autor*in verfasst wurden.

Im Rahmen fallspezifischer Ermittlungen können die gespeicherten Texte zudem mit Texten, deren Autor*innenschaft bekannt ist verglichen werden, um zu bestimmen, ob diese von der gleichen Autor*in verfasst wurden, oder ob dies ausgeschlossen werden kann.

Soweit die offiziellen Angaben des BKA zu dieser Abteilung. Was bedeutet das in der Praxis?

Ich denke, dass man davon ausgehen kann, dass zumindest alle Bekenner*innenschreiben in dieser Datenbank erfasst werden und daraufhin analysiert werden, ob von der/den gleichen Autor*in(en) noch weitere Bekenner*innenschreiben vorhanden sind. Aber die Feststellung, dass auch „Positionspapiere“ erfasst werden, lässt noch weitere Schlüsse zu: Zumindest erscheint es möglich, dass neben Texten mit strafrechtlicher Relevanz auch andere Texte eingespeichert werden, die einer bestimmten Szene zugeordnet werden. Beispielsweise Texte aus entsprechenden Zeitungen, Erklärungen von politischen Gruppen/Organisationen, Aufrufe, Blogbeiträge, usw. Im schlimmsten Fall würde ich also davon ausgehen, dass alle publizierten Texte auf bekannten „linksextremistischen“ Webseiten (da ist es schließlich recht einfach, an diese ranzukommen), sowie den Ermittlungsbehörden interessant erscheinende Texte aus Printpublikationen in diese Datenbank eingespeist werden.

Das würde bedeuten, dass dem BKA zu jedem Bekenner*innenschreiben ein Cluster aus Texten mit vermeintlich gleicher Autor*innenschaft vorliegt. Diese können dabei aus anderen Bekenner*innenschreiben bestehen sowie eben auch aus jenen Texten, die sonst noch so in die Datenbank eingespeist wurden. Neben Tatserien können so also auch weitere Hinweise auf Täter*innen gewonnen werden, etwa Pseudonyme, Gruppenbezeichnungen – oder schlimmstenfalls Namen – unter denen eine Verfasser*in eines Bekenntnisses andere womöglich andere Texte verfasst hat, aber je nach Text auch alle möglichen anderen Informationen, die dieser liefert, darunter häufig Hinweise auf Wohn- und Wirkungsort einer Person, thematische Schwerpunkte, biografische Charakteristika, Bildungsweg, usw. Allesamt Informationen, die mindestens dazu genutzt werden können, um den Kreis der Verdächtigen einzuschließen.

Was bei all dem noch unklar bleibt ist, welche weiteren Vergleichsproben das BKA möglicherweise vorhält. Von den meisten Personen gibt es sicher eine ganze Reihe Texte, auf die Ermittlungsbehörden Zugriff haben (könnten) und die im Falle eines Verdachts oder möglicherweise zum Teil auch vorsorglich – wenn eine Person etwa mit einem Eintrag wie „Gewalttäter linksextrem“, etc. bekannt ist – in die Datenbank eingespeist werden könnten. Das kann alles sein, wo dein Name drunter steht, vom Schreiben an eine Behörde bis hin zu einem Leserbrief in der Zeitung unter deinem Namen. Ich will hier absichtlich nur die offensichtlichsten Quellen nennen, um nicht versehentlich den Ermittlungsbehörden die entscheidende Inspiration zu verschaffen, aber ich bin sicher du kannst für dich selbst beantworten, welche Texte von dir zugänglich sein könnten. Gelingt es den Profilern des BKA erst einmal den Verdächtigenkreis auf ein spezifisches Charakteristikum einzugrenzen, das den Abgleich mit massenhaft vorhandenen Textproben ermöglicht (Wenn beispielsweise davon ausgegangen wird, dass ein*e Wissenschaftler*in einer bestimmten Disziplin für ein Schreiben verantwortlich ist, könnten alle Publikationen in diesem Fachbereich als Vergleichsproben herhalten. Das wäre zum Beispiel eine mögliche (Teil-)Erklärung dafür, wie das mit Andrej Holm im Verfahren gegen die militante Gruppe gelaufen sein könnte, zumindest wenn man unterstellt, dass das BKA nicht nur nach „Gentrifizierung“ gegooglet hat), so halte ich es durchaus für möglich, dass solche Analysen auch durchgeführt werden.

Methoden der Autorenerkennung und des Autoren-Profilings

All das betrachtet aber nur, was das BKA von sich behauptet zu können und führt diese Überlegungen weiter. Aber wie funktioniert denn nun eigentlich die Autorenerkennung, bzw. das Autorenprofiling?

Wer kennt sie nicht, die Angst davor, dass eine*n vielleicht der*die Deutschlehrer*in enttarnen wird, nachdem auf der Toilette eine Spottdichtung über eine*n Lehrer*in aufgetaucht ist und sich die ganze Schule darüber lustig macht, wie man nur „Leerer“ statt „Lehrer“ schreiben könne. Aber glücklicherweise ist dann doch das gesamte Deutschkollegium darauf hereingefallen, das Narrativ vom Fehler zu übernehmen und die Augen vor einem nur allzu treffenden Wortspiel zu verschließen. Die Forensische Linguistik scheint doch ein wenig Übung oder zumindest eine kriminalistische Motivation zu erfordern, wer weiß. Jedenfalls war die Fehleranalyse, von der wohl die meisten schon einmal gehört haben dürften, zusammen mit der Stilanalyse einem Werbeartikel der Sprachbullin Christa Baldauf zufolge um 2002 herum eines der wichtigsten Analyseinstrumente des BKA. Rechtschreibfehler, Grammatikfehler, Interpunktion, aber auch Tippfehler, Neue oder Alte Rechtschreibung, Hinweise auf Tastatureigenheiten, usw., all das dient den Sprachbullen dazu, Hinweise auf den*die Autor*in zu sammlen. Wenn ich beispielsweise „muß“ statt „muss“ schreibe, könnte das ein Hinweis darauf sein, dass ich zu Schulzeiten einige der jüngeren Rechtschreibreformen nicht mehr mitbekommen habe. Wenn ich dagegen Begriffe, die man der Rechtschreibung zufolge mit „ß“ schreibt, ständig mit „ss“ schreibe, könnte das bedeuten, dass auf meiner Tastatur kein „ß“ vorhanden ist. Wenn ich zum Beispiel von „dem Butter“ spreche, könnte das ein Hinweis darauf sein, dass ich in Bayern aufgewachsen bin, usw. Ich könnte all diese Dinge aber auch nur vortäuschen, um die Sprachbullen in die Irre zu führen. Auch das, also die Plausibilität meines Fehlerprofils, ist Teil einer solchen Analyse. Ähnlich untersucht auch die Stilanalyse Eigenheiten meines Schreibstils. Was für Begriffe verwende ich, weist mein Satzbau spezifische Muster auf, gibt es wiederholt auftretende Begriffskonstellationen, die vielleicht sogar in verschiedenen Texten auftauchen, usw. Ich denke jede*r, die*der sich seine*ihre Texte genauer ansieht, wird einige eigene stilistische Charakteristika erkennen.

Solche qualitativen Analysen dienen vor allem dem Profiling der Verfasser*innen. Zwar können auf diese Art und Weise sicher auch unterschiedliche Texte einander zugeordnet werden, aber der eigentliche Wert solcher Analysen liegt darin, Dinge wie, Alter, „Bildungsgrad“, „Szenezugehörigkeit“, regionale Herkunft, ja manchmal vielleicht sogar Hinweise auf Berufstätigkeiten/Ausbildung, usw. bestimmen zu können. Auch Versuche, Dinge wie Geschlecht zu bestimmen, sind bekannt, scheinen aber in der Regel nicht ganz so einfach zu sein.

Demgegenüber gibt es auch eher quantitative und statistische Analysen, die von Worthäufigkeiten über Wortkonstellationen bis hin zur syntaktischen Satzstruktur alle quantitativ messbaren Sprachcharakteristika untersuchen. Diese unter dem Begriff Stilometrie geführten Verfahren sind teilweise sehr umstritten, weil nicht genau gesagt werden kann, was mit ihnen eigentlich gemessen wird/werden soll, liefern gerade in Kombination mit Ansätzen des Machine Learnings aber zum Teil erstaunliche Ergebnisse. Ich denke, dass diese Ansätze daher vor allem dazu genutzt werden dürften, verschiedene Texte nach ihren Ähnlichkeiten zu clustern.

Der klare Vorteil solcher quantitativen Analysen ist, dass diese massenhaft durchgeführt werden können. Sämtliche digital verfügbaren oder digitalisierbaren Texte lassen sich so analysieren. Vom Posting in sozialen Medien bis hin zum Buch können mit diesen Verfahren Texte erfasst werden. Zwar ist der Erfolg dieser Verfahren derzeit noch relativ bescheiden und vielfach hat sich herausgestellt, dass angeblich ähnliche Texte sich häufig mehr in ihrer Gattung geähnelt haben, als in ihrer Autor*innenschaft, aber wenn man davon ausgeht, dass individuelle Schreibstile durchaus quantitative Muster hinterlassen könnten, so heißt das im Umkehrschluss, dass wenn diese Muster erst einmal bekannt sind, eine massenhafte Zuordnung von Texten zu Autor*innen möglich sein wird.

Und was nun?

Es gab und gibt natürlich verschiedene Lösungsansätze mit diesem Wissen umzugehen und vermutlich kann man von keinem sagen, er sei besser oder schlechter als ein anderer. Wer ohnehin keine Communiqués verfasst, die*der geht diesem Problem großteils aus dem Weg, ist aber insoweit trotzdem von dem Problem betroffen, dass Beteiligungen an Publikationen und Urheberschaften von anderen Texten auf gleiche Art und Weise ermittelt werden können. Wer Texte vor Veröffentlichung verfremdet, etwa indem mehrere Personen nacheinander Passagen daraus neu- und umformulieren, etc. läuft Gefahr, bei wiederholt ähnlichen Konstellationen ebenfalls verwertbare sprachliche und stilistische Charakteristika herauszubilden oder auch daran zu scheitern, Charakteristika erfolgreich zu verschleiern. Wer meint, er*sie könne auf das Ganze scheißen, weil ohnehin keine Textproben von einer*m vorliegen oder auch, weil er*sie überzeugt ist, dass die juristische Beweiskraft der Autorenerkennung zu wacklig ist, die*der riskiert, dass in Zukunft doch irgendwie Textproben von einer*einem verfügbar sein könnten (etwa weil sie*er erfolgreich einer Autor*innenschaft überführt wird) oder sich die juristische Würdigung des Verfahrens ändert. Wer darauf vertraut, dass die Technologie (noch) nicht gut genug ist, kann durch zukünftige Entwicklungen überrascht werden. Wer technische Lösungen nutzt, um seine*ihre Autor*innenschaft zu verfremden läuft Gefahr, dabei neue Charakteristika und Spuren zu hinterlassen und zudem schlecht geschriebene Communiqués zu produzieren, die ohnehin keine*r lesen will. Wer sowieso nie irgendwelche Texte schreibt, die*der schreibt eben keine Texte.

Also tue, was immer dir am meisten zusagt, nur tue es ab nun – sofern du das nicht ohnehin schon tatest – eben mit dem Wissen um diese Spuren und dem mulmigen Gefühl im Bauch, das schon so manch eine*n im richtigen Moment davor bewahrt haben soll, einen leichtfertigen Fehler zu begehen.

Übernommen von Zündlumpen #076.