Auf der Jagd nach dem Unsichtbaren

Eine fragmentarische Kritik des Post-Covid-Riot-Prime-Manifests

Ein Gespenst geht um in Europa … Nein, Spaß. Nicht in Europa. Auch geht es nur unter Linken um; und dort bloß unter jenen, die sich angesichts der autoritären Demaskierungen durch die pandemische Realitätsverschiebung als deren sympathischerer Teil herausgestellt haben. Es ist das Gespenst des Post-Covid-Riot-Prime-Manifests. Ein Manifest? Schreibt man soetwas heute überhaupt noch? Nun, so wie es aussieht … Aber es ist keines von dieser Sorte. Oder vielleicht doch? Letztlich macht es vielleicht mehr als alles andere den Bruch zwischen jenen Linken, die “das Ende der Welt bei ein paar kühlen Drinks” genießen werden und jenen, die sich für die Straße entscheiden werden klar. Aber warum sich damit als Anarchist*in auseinandersetzen? Immerhin genieße ich kühle Drinks seit Jahren schon auf der Straße, nach jedem Angriff auf die Herrschaft, während den linken Verteidigern des Bestehenden die ihren vor Schreck und Empörung aus der Hand gleiten. Aber dieses Manifest ist vielleicht weniger selbst das Gespenst, das da durch die Oberstübchen der abtrünnigen, Drinks-verschmähenden Linken geistert, vielmehr erweckt es einige alte Gespenster. Und so finde ich dieses Manifest – wie das mit Programmen eben so ist – insgesamt zwar sehr vorschlagsarm, während ich seiner grundsätzlichen Skizze einer Analyse sogar gar nicht allzu sehr widersprechen würde, aber ich störe mich als Feind*in jedes autoritären Denkens, als Purist*in sozusagen, doch an dem einen oder anderen Detail, in dem ich die mögliche Wiederbelebung eines gewissen autoritären, aufständischen Denkens zu erkennen glaube. Die folgenden Fragmente sollen das deutlich machen.

I

Die Linken, sie sind wahrlich keine Verbündeten, soweit so gut, aber brauchte es, um das zu erkennen, wirklich die “Corona-Ära”? Dass die Linke (und nicht nur die weiße, westliche Abart) nicht erst in der Corona-Ära “der Solidarität das Wort geredet” hat, während sie “einen faktischen Schulterschluss mit der Macht” vollzog und dazu aufrief “alle grundsätzlichen Klassenkämpfe, alle Manöver des sozialen Kriegs von unten einzustellen, ruhen zu lassen”, das ist ein offenes Geheimnis unter Anarchist*innen. Haben nicht diejenigen “Anarchist*innen”, die offenbar so wenig von ihren angeblichen Ideen hielten, dass sie sich zu einem Mitglied der Regierung wählen ließen, gemeinsam mit den Kommunisten in Spanien 1936 und den diversen, auch anarchosyndikalistischen Gewerkschaften dazu aufgerufen sich in der Arbeit unter (angeblicher) Selbstverwaltung weiter zu knechten? Haben nicht erst jüngst diverse linke Politiker rund um die Riots um die Ermordung von George Floyd nicht bloß zum Rückzug geblasen, sondern auch Anstrengungen unternommen, jene zu denunzieren und zu verleumden, die es zum anhaltenden Angriff auf die Herrschaft trieb? Oder was ist mit jenen, ganz speziellen linken Wichsern, die in der besetzten ZAD von Notre-Dame-des-Landes 2018 nicht nur Verhandlungen mit dem Staat eingingen, sondern auch über die Köpfe ihrer einstigen Gefährt*innen hinweg Bedingungen akzeptierten (keine Wohnwägen, Waldhütten, usw.) und anschließend auf deren Umsetzung drängten, ja diese sogar mit Gewalt und in Ausübung polizeilicher Funktion selbst umsetzten, die sich explizit gegen ihre Mitkämpfer*innen richteten?

Kurz gesagt: Bei den Linken handelt es sich eben um jenen (demokratischen bis kommunistischen) Flügel des politischen Spektrums, der um die Macht ringt, um eine Herrschaft rund um – und legitimiert durch – seine Subjekte, traditionellerweise den industriellen Proletarier, zu errichten. Dazu zählen freilich auch jene selbsternannten Anarchist*innen, deren ideelle Anleihen immer schon mehr diesen Spektren entsprangen, als einer Feindschaft gegen jede Form der Herrschaft. Die Linken, sie konnten also noch nie Verbündete im Kampf gegen jede Herrschaft gewesen sein und immer schon hat es Anarchist*innen gegeben, die dies erkannt hatten und sich danach verhielten.

Wenn es für manch eine*n die “Corona-Ära” gebraucht hat, um dies zu erkennen, schön. Besser spät als nie, könnte man sagen. Allerdings sollte man nicht den Fehler machen, diese Erkenntnis als etwas grundsätzlich Neues, etwas bisher nicht dagewesenes zu verklären, sonst verstellt man sich selbst den Blick auf die eigentlichen Ursachen und scheitert möglicherweise darin, sich selbst von jenem linken Ballast zu befreien, den man bisher vielleicht noch mit sich herumgetragen hat.

II

Unsere Aufstände? Was soll das denn sein? Wer ist dieses Wir? Eine Unsichtbare Partei? Oder bloß eines ihrer Komitees? Und wenn ja, warum wird es hier nicht klar als solches benannt? Wenn jene Aufstände “alle Ansinnen der Repräsentanz zurückweisen”, wie könnte man dann darauf kommen, sie als die seinigen zu bezeichnen? Und das – so dünkt mich –, ohne überhaupt an ihnen teilgenommen zu haben? Es stimmt: Kein*e Aufständische*r mag die Linken. Überhaupt mag keine*r der Ausgeschlossenen, deren explodierende Wut sich zu jenen Revolten ausweitete, die man in den letzten Jahren gebannt verfolgt haben mag, ein Interesse daran haben, dass sich diese linken Vampire zu den geistigen Anführer*innen ihrer Revolte aufspielen und sie alle sind besser beraten, Politiker, linke ebenso wie rechte, aber eben auch jene unsichtbaren Parteikader von Anfang an zu verjagen.

III

Und was soll dieser Mist von Geschichteschreiben? Wer im Namen eines Wir Geschichte aufschreibt, was unterscheidet ihn von jenen His-torikern, die das im Namen der Herrschaft tun? Und ja, ich habe darüber nachgedacht, ob ich hier nicht eine bloße Bezeichnung in den falschen Hals bekommen habe, und muss das entschieden verneinen. Der Beweis: Wenn sich unsere lieben unsichtbaren Geschichtsschreiberlingen in einem Anflug von Paternalismus über die randalierenden Jugendlichen in Stuttgart erheben: “Vielleicht fehlt ihnen noch ein bisschen die Erfahrung, wie man seine eigene Geschichte aufschreibt, aber zumindest scheinen sie nicht verlernt zu haben, wie man randaliert […]”. Nun, vielleicht fehlt vielmehr unseren unsichtbaren Geschichtsschreiberlingen noch ein bisschen die Erfahrung, wie man seine eigene Geschichte aufschreibt, etwa weil man es sich vor lauter Linkstümelei in den letzten Jahren angewöhnt hat, im Pluralis Majestatis zu sprechen und dies entsprechend Zustände geistiger Verwirrung angeregt hat, bei der man sich selbst als Geschichtsschreiberling mit jenen verwechselt, denen man mithilfe der Medien beim randalieren zusieht, oder auch weil, wenn man “wieder und wieder unsere Geschichte auf[schreibt]”, die Momente des eigenen Randalierens darüber ein wenig ins Hintertreffen geraten könnten und man vielmehr eine Karriere als (unbezahlter) Journalist oder vielmehr His-toriker einschlägt, für den die niedergeschriebene Materie nichts als der leblose Stoff ist, aus dem man am Leichentuch aller lebendigen revolutionären Aufbrüche webt, die man in sein Theoriegerüst integrieren will? Und ich gebe wirklich mein bestes, um nicht allzu sehr ins polemische abzugleiten und die Sache fair zu betrachten. Denn natürlich gibt es auch Versuche, die aufgeschriebenen Geschichten jener Revoltierender, die tatsächlich ihre eigenen Geschichten aufgeschrieben haben, zu übersetzen, zu verbreiten, in dem Versuch Inspiration daraus zu ziehen, die ich nicht so bösartig als der Totengräberei der His-toriker identisch anklagen würde, aber in diesem Fall fallen die Worte wir und unser im Zusammenhang mit Geschichten, die ganz offensichtlich nicht die des Autors/der Autor*innen sind, ein paar Mal zu oft!

IV

Wir müssen im aufständischen Prozess alles zerstören, was unvermittelten Beziehungen zwischen Individuen im Weg steht. Davor ist das Unsichtbare Komitee bereits 2007 zurückgeschreckt; vielleicht weil ein Komitee, ob es nun sichtbar oder unsichtbar ist, demzufolge ebenfalls zerstört werden müsste? Wenn die Linke in den Gedankenwelten des Sturms auf das Winterpalais gefangen sein mag – und ich wäre geneigt, dem zuzustimmen –, so gibt es auch jene, die in den Gedankenwelten der “Syrischen Revolution” gefangen sein mögen. Sie mögen zwar in der Lage sein, sich den gegenwärtigen Aufständen (aus der Ferne?) anzuschließen, weil sie ihren Wesensgehalt besser begreifen mögen, aber sie scheuen sich, wie es die Linke immer schon tat, davor, etwas anderes vorzuschlagen, als sich die Mittel anzueignen, mit denen Informationen übermittelt, unterdrückt und manipuliert werden können. Sie wollen damit angeblich eine Intensivierung des Austauschs unter den Aufständischen Fraktionen erreichen, in Wahrheit jedoch, wollen sie die Medien zu den propagandistischen Zielen der Gleichschaltung aller Aufständischen gebrauchen, dazu, wie sie das nennen, “eine gemeinsame Vorstellung davon, wie ‘der Himmel zu erstürmen sei’”, zu “entwickeln”. Denn die Medien, sie dienen vielem, aber gewiss nicht der Kommunikation und des Austauschs auf Augenhöhe, sondern vielmehr der Indoktrination. Und um es konkret zu machen: Gewiss haben Kommunikationsmittel wie soziale Medien (Facebook und Youtube), die sich von Akteur*innen in der Syrischen Revolution angeeignet wurden (ohne dass man die Kontrolle darüber hätte erringen können) um die Bilder von brutaler, tödlicher Gewalt gegen Demonstranten weltweit zu verbreiten, einen gewissen Zweck erfüllt, der Einschätzung von zwei Anarchisten aus Aleppo zufolge, die sie in “Revolutionäre Echos aus Syrien” darlegen, etwa dem Schutz vor noch brutalerer Repression, aber das sollte nicht damit verwechselt werden, dass zur Entwicklung gemeinsamer Perspektiven verschiedener aufständischer Individuen letztlich nichts anderes als Diskussionen taugen kann, außer es ist einem daran gelegen, die Massen mithilfe der Propagandamaschinerie der Medien zu einem bestimmten Verhalten zu manipulieren, d.h. sie ebenso wie die Herrschenden zu belügen und zu täuschen. Eine Dynamik, die neben anderen Einwänden auch sehr schnell kontraproduktiv wird: “Und was passierte, ist, dass Leute in Homs an einem gewissen Punkt begannen zu übertreiben, was sie taten, selbst bei Zahlen zu übertreiben, die Verlustzahlen von Leuten, die wirklich starben, um diese Rolle zu behalten, dass sie diejenigen sind, die sich selbst aufopfern, sie die Hauptstadt der Revolution sind, um mit diesem Titel mitzuhalten, der ihnen [von den Medien] verliehen wurde. Sie fabrizierten eigentlich viele Nachrichten und das kostete die Revolution viel Glaubwürdigkeit, sogar in den Augen anderer Syrer, die zögerten, sich der Revolution anzuschließen oder nicht. Denn sie sahen, wenn das Regime log, so logen auch diese Leute, also unterschieden sie sich nicht wirklich so von ihnen.” (Revolutionäre Echos aus Syrien)

Sicher, im Kampf um das Leben findet man seine Verbündeten weder in der Wissenschaft, jener Folterkammer des Lebens, noch in jenen, die mit ihr und folglich mit der Herrschaft paktieren. Wenn das Unsichtbare Komitee das 2007 gesagt hat, dann hat es diesen Gedanken mit Sicherheit bei jenen Anarchist*innen gestohlen, die dies – nur um hier auch ein früheres Datum in den Raum zu werfen – spätestens in den 80er Jahren, aber eigentlich schon immer, analysiert haben. Was diese Anarchist*innen jedoch auch gesagt haben:

“[…] Wenn wir in unserem sozialen Handeln bestrebt sind, die Logiken der institutionellen Integration umzukippen, müssen wir uns über die immer gegenwärtige Notwendigkeit des Angriffs in einer Situation von permanenter Konfliktualität gegenüber allen, ob grossen oder kleinen, Strukturen des Staates und des Kapitals, die auf dem Gebiet, worauf wir leben, verstreut sind, im Klaren sein.

Dieselbe Haltung muss gegenüber den Massenmedien eingenommen werden, ohne in die Falle ihrer Überzeugungsmacht zu geraten, und zwar, um nicht selber auch als Opfer des produzierten Spektakels zu enden.

Mit der Lust, zu kämpfen, muss eine zerstörerische und konstruktive Logik vereint werden, die die verschiedenen Ziele von Mal zu Mal abzuwägen weiss und jene ermittelt, die fähig sind, die Strukturen der Herrschaft zu erschüttern. Wir müssen also diese Ziele angreifen, während wir, gleichzeitig, unter den Gefährten und Proletariern dafür sorgen, jenes Gespür für eine verstreute und horizontale Projektualität zu entwickeln, das es nicht zulässt, dass sich auf dem Gebiet Führungszentren bilden. Das Ganze, während gleichzeitig die Prozeduren entkräftet werden, die bezwecken, in den Kämpfen parteiliche Merkmale zu reproduzieren, Kämpfe, die stets ihren selbstverwalterischen Charakter bewahren müssen. Zudem ist es wichtig, sich die unentbehrliche Information und Kenntnis anzueignen, um dafür zu sorgen, dass sich die subversive Kommunikation in einen Verbindungsmoment zwischen den verschiedenen Bruchstücken der antagonistischen Bewegung übersetzt, die einheitlich bestrebt ist, ihre revolutionäre Aktion einen qualitativen Sprung machen zu lassen. ” Pierleone Porcu in “Reise ins Auge des Sturms” (1987), Kursivierungen von mir.

Und warum sollte man den einen Gedanken übernehmen, aber den anderen nicht?

Übrigens: “ohne Bullen kein Staat,” das hängt freilich sehr stark vom Polizeibegriff ab. Die Bullen zur Hölle zu jagen, was wird es wohl bringen, wenn anschließend irgendwelche “Community Accountability”- Polizeien mehr oder weniger den gleichen Zweck erfüllen werden und die Subjekte vielleicht mit, vielleicht ohne rassistische Gewalt soweit unter Kontrolle hält, dass sie ihr Dasein als Sklav*innen weiterhin hinnehmen? Aber ich denke hier könnte sogar Einigkeit mit dem Verfasser des Post-Corona-Riot-Programms bestehen. Jedenfalls sollte bedacht werden, dass ein moderner Staat in der Regel verschiedene Polizeiapparate besitzt und er (auch lokal beschränkt) durchaus gelegentlich auf den so benannten, formell-repressiven verzichten kann.

V

Die Revolten zu begreifen, wie sie in der Peripherie – und ja, diese Peripherie wir finden sie nah und fern, in den Banlieues, den Vororten Brüssels, den “Kreisverkehren des vergessenen Frankreichs”, ebenso wie in den Vororten Khartoums, bei der indischen Landbevölkerung und den todbringenden Hightech-Rohstoffminen des vom Krieg zerklüfteten kongolesischen Territoriums, aber vor allem auch in den Mapuche-Gebieten Chiles, den Land(wieder)besetzungen auf dem Territorium des kanadischen Staates, in den französischen Kolonien und überall sonst, wo sich Indigene gegen die fortgesetzte Kolonisierung ihres Landes und den an ihnen verübten (kulturellen) Genozid zur Wehr setzen – in immer kürzeren Zyklen ausbrechen, es ist bloß die eine Seite der Gleichung. Ob durch die Abschottung der europäischen Außengrenzen mittels Drohnen, Stacheldraht und Pushbacks oder durch die Etablierung kybernetischer Sozialkreditsysteme nach dem Vorbild Chinas, die Checkpoints weit im Landesinneren errichten, die verhältnismäßige Stabilität in den Metropolen wird zunehmend unabhängig von der instabilen Peripherie. Würden Atombomben auf Städte geworfen, wenn es denn nur einen geeigneten Anlass gäbe? Vielleicht. Wahrscheinlicher ist jedoch, denke ich, dass wir es in Zukunft vermehrt mit außer Kontrolle geratenen, gesetzlosen und warlordistisch-geprägten Peripherien zu tun haben könnten, deren Bevölkerung nichtsdestotrotz weiter nach Rohstoffen schürft oder auch in den Fabriken schuftet[1], um das Resultat ihrer Arbeit gegen die Brotkrumen einzutauschen, die ihr aus den stabilen Metropolen unter Vorhalt von Waffen dafür hingeworfen werden.

Ausbrechende Revolten in der Peripherie, sie sind das eine, aber wer die Herrschaft, die versuchen wird, diese Revolten zu verwalten, treffen will, die*der muss sich früher oder später in die Metropolen begeben, muss die Nachschublieferungen an die Fronten unterbrechen und einen Weg finden, die hochgerüstete, übermächtige, technologische Kriegsmaschinerie zu sabotieren, die die Revolten von den vielen Zentren der Macht fernhält. Jenen, die sich heute bereits in den Zentren der Macht befinden, die sich (noch) in den Metropolen bewegen können, könnte dabei die Aufgabe zufallen, die Tore aufzustoßen und die Barbaren in die Stadt zu lassen. Konkret kann das bedeuten, die Logistik der Herrschaft anzugreifen und lahmzulegen. Die Erfahrung, dass im Zweifel schlicht Fassbomben über Städten abgeworfen werden, in denen der Herrschaft die Kontrolle entgleitet, sie erteilt uns eine Lektion in Sachen Solidarität mit den Aufständen in der Peripherie. Es gilt, dem übermächtigen Hightech-Kriegsapparat zuzusetzen, wo wir ihm nicht in einer Frontlinie gegenüberstehen, denn dort wird er uns gemeinsam mit den übrigen Aufständischen zermalmen. Solidarität mit den Aufständen in der Peripherie, sie besteht heute vielleicht insbesondere darin, die Nachschublieferungen an die (nicht bloß militärischen) Streitkräfte der Herrschenden zu unterbrechen und den Aufständischen so die nötige Luft zu verschaffen.

Damit nicht nur die Polizeireviere der Peripherie brennen, sondern mit ihnen das gesamte Imperium und seine todbringende Produktion!


[1] Wie es etwa während des gesamten syrischen Bürgerkriegs der Fall war und ist; und dabei sollte nicht vergessen werden, dass es etwa auch ein zentrales Anliegen (wirklich nur angeblich) revolutionärer Kräfte wie der PYD war, die Erdölförderung in einem De-facto-Bündnis mit dem Assad-Regime aufrechtzuerhalten, und die Kontrolle darüber zu wahren; 2014 wurden etwa unter Aufsicht der YPG in der Region al-Hasaka rund 40.000 Barrel pro Tag gefördert; in ganz Syrien arbeiteten die Arbeiter auf den Ölfeldern je nach jeweiliger Vormachtstellung wechselnd als syrische Staatsangestellte, als Angestellte der Nusra-Front oder auch vom IS bezahlt, beinahe ohne Unterbrechung.


In diesem Text wird sich auf das Post-Covid-Riot-Prime-Manifest bezogen, das in Sunzi Bingfa #27 veröffentlicht wurde. Online kann es hier nachgelesen werden: https://sunzibingfa.noblogs.org/post/2021/08/23/post-covid-riot-prime-manifest/

Zum besseren Verständnis dieser Kritik empfiehlt sich die vorherige oder parallele Lektüre allemal.

[Hambacher Forst] Engie geplättet

Hambacher Forst: 4 platte Reifen für ein Fahrzeug von Engie

Neben dem Hambacher Forst und der gigantischen Kohlemine, die diesen fast vollständig zerstört hat, wurden vier Reifen eines Engie-Fahrzeugs, einem französischen Großkonzern für Atom-, Gas- und Ölstrom, geplättet.

All diese fossilen Rohstoffe werden parallel zu „erneuerbaren“ Energien (Windkraft, Solarkraft) verwendet, die alles andere als erneuerbar sind, denn sie benutzen ebenfalls fossile Rohstoffe, um gebaut zu werden, und zerstören die Gebiete und deren Bevölkerungen, in denen sie abgebaut werden. Sie tragen nur zur steigenden Nachfrage dieser kranken und selbstzerstörerischen Welt nach Energie bei. Es ist möglich dort diese Absurdität zu sehen, bei diesem Kohleloch von mehreren Kilometern, Nachbar von Windrädern, Atomkraftwerken, Solarfarmen…

Es ist mehr als eilig die Bremse reinzuhauen. Wissend nichts zu tun bedeutet mitzumachen.

Ohne Illusion darüber, dass dieses Unternehmen diese kleine Sabotage locker wegstecken wird, ist das Ziel die Sabotagen zu vervielfachen, die Feinde sichtbar zu machen und die Praktiken des Angriffs und der Information zu verbreiten, ohne die sich nichts bewegen wird.

Solidarität ist notwendig um der Repression standzuhalten, knüpfen wir Netzwerke des Vertrauens, greifen wir an um Druck auszuüben.

Solidarität mit den Besetzer.innen des Osterholzes und mit den Anarchist.innen in Hamburg, die vom Staat angegriffen werden.

TOD DER ZIVILISATION, RWE, ENGIE, CIGEO (Atommüllendlagerprojekt in Bure) UND IHRESGLEICHEN


Übernommen von Sans Nom.

[Schweiz] Zwei Gefährt*innen in U-Haft

Zwei unserer FreundX und Gefährtx sitzen in der Schweiz in U-haft

Zwei unserer FreundX und Gefährtx, eine von ihnen Elany, die kürzlich mit „Schwarze Saat“ den ersten deutschsprachigen Sammelband zu schwarzen und indigenen Anarchismus veröffentlichte, sitzen in der Schweiz in U-haft. Elany ist ebenfalls teil des zusammenschlusses FERAL FIRE und publiziert dort Übersetzungen so wie eigene Texte.

Die Infos die wir haben sind bisher sehr mau, aber wir möchten sie euch nicht vorenthalten.

Ein Anwalt ist bereits an der Sache dran und kämpft zunächst darum, [eine der beiden Gefährt*innen] zu befreien.

Bei ihr bestehe medizinische Notwendigkeit aufgrund von Behinderungen/Erkrankungen und auch keine Fluchtgefahr.

Bei El selbst wird es allerdings schwieriger.

Wir wissen bisher nicht was den beiden vorgeworfen wird.
Wenn wir weitere infos haben werden wir diese weiter geben.

Wir sind in gedanken bei euch.

Ihr seit für uns drin, also sind wir für euch draußen.

Solidarität lebt auf der Straße.

Freundx und Gefährtx von den 2 Entführten.


Übernommen von de.indymedia.org, stellenweise verändert.

[Limoges, Frankreich] Nächtlicher Schlag gegen den Impfpass

In der Nacht von Montag, den 17. Januar auf Dienstag, den 18. Januar wurden drei Fahrzeuge von ARS (Regionale Gesundheitsbehörde) vor den Büroräumen der Regionalen Gesundheitsbehörde von Limoges angezündet. Laut Polizei gab es kein Bekenner*innenschreiben. Nun, hier ist eines:

Während das Krankenhaus stirbt, gibt es immer mehr Expert*innen und Verwalter*innen. Das ARS von Limoges wurde in der Nacht vom 17. Januar angegriffen, weil hier die Prioritäten des Gesundheitssystems gesetzt werden: Weniger Betten, weniger Personal, viele Notfallambulanzen wurden geschlossen und die Impfung kann nicht länger als eine einfache Vorsorge angeboten werden. Dies richtet sich gegen den Impfpass, nicht gegen die Impfung oder das Pflegepersonal. Es richtet sich gegen die wachsende soziale Misere und den Faschismus, der sich hier breit macht.


Via Dark Nights, Quelle: La Bogue

Brandstiftungen an Test- und Impfzentren

Warum zündet man ein Test- oder Impfzentrum an? Nun, wer sich diese Frage heute noch stellt, muss entweder kürzlich erst aus seinem Dornröschenschlaf erwacht sein, oder aber auf einer der falschen Seiten stehen. Dass Testzentren Teil jener Infrastruktur sind, die durch die Erfassung von Inzidenzen und die Ausstellung von positiven wie negativen Testzertifikaten nicht nur den Legitimationsrahmen und die konkrete Umsetzungshilfe für die staatlich verhängten Einschränkungen und Schikanen sind, ist schon seit Langem offensichtlich. Und Impfzentren? Nun, spätestens seitdem ein allgemeiner Impfzwang in Aussicht gestellt wurde, ist klar, dass auch diese Infrastruktur notwendig ist, um die Einschränkungen und Schikanen durchziehen zu können. Die Frage ist also weniger, warum man Testzentren und Impfzentren anzündet, sondern vielmehr, warum es bisher so wenige gewesen sind, die den Flammen zum Opfer fielen. Allerdings haben Angriffe auf Test- und Impfzentren auch einen gewissen Makel: Mittlerweile sind diese Infrastrukturen so dezentral und zugleich so mobil und immer besser geschützt, etwa durch Wachpersonal und mancherorts sogar Polizeischutz, dass diese Angriffe letztlich wohl nicht in der Lage sein werden, sie signifikant lahmzulegen.

Nichtsdestotrotz haben uns die im folgenden dokumentierten Brandstiftungen an Impf- und Testzentren ein Lächeln auf die Lippen gezaubert.

Innerhalb weniger Stunden haben in der Nacht auf Sonntag, den 21. Dezember 2021 ein Container einer Corona-Teststelle in Ahaus und ein Testzelt, samt Container einer Teststelle im nahe gelegenen Gronau gebrannt. Es entstand jeweils ein Sachschaden in Höhe von rund 10.000 Euro. Auf in der Presse veröffentlichten Bildern lassen sich zudem die in Gronau am ausgebrannten Container des dortigen Testzentrums hinterlassenen Schriftzüge „Stop oder Tod“, sowie „La Libertad“ (etwa „Freiheit“) erkennen. Beide Teststationen hatten zuvor schon einmal gebrannt. In Ahaus hatten Unbekannte sogar schon zweimal die zur Teststelle umfunktionierten Baucontainer und Zelte angezündet. Einmal am 07. August 2021, hatte ein Müllcontainer gebrannt, nachdem er mutmaßlich in Brand gesteckt worden war, und Container, sowie Testzelt beschädigt, am 25. September dann, brannte der Container richtig. Das Feuer vernichtet rund 1000 Tests. Dieses Mal war Presseinformationen zufolge ebenfalls der Schriftzug „Stop oder Tod“ hinterlassen worden.

In einer Sommernacht Anfang Juli 2021 hatten drei Männer in der Reutlinger Innenstadt einen für Corona-Tests genutzten Pavillon in Brand gesteckt und sich dabei gefilmt. Es entstand ein Sachschaden um die 1000 Euro. Leider wurden die drei von den Bullen erwischt und von einem übereifrigen Richter wegen gemeinschädlicher Sachbeschädigung verurteilt.

Es müssen ja auch nicht immer „politische“ Motive sein. Schon ein bisschen Langeweile machte schließlich die Meisten von uns schon des Öfteren zu Brandstiftern. Und warum auch nicht? Ist Langeweile nicht ein genausoguter Grund wie jeder andere? In Mannheim jedenfalls gaben eine Frau und ein Mann, nachdem sie am 26. Oktober 2021 von den Bullen aufgegriffen wurden, nachdem sie ein Testzentrum angezündet hatten, an aus Langeweile gehandelt zu haben. Ein kleines Feuer gegen die sterile Langeweile, man hat nicht gelebt, wenn man es nicht wenigstens einmal ausprobiert hat …

Am 22. November brannte es in Graz. Eine zur Teststation umfunktionierte Holzhütte neben einer Apotheke wurde aufgebrochen und darin ein Brand gelegt.

Ein Impfzentrum brannte am 14. September 2021 im sächsischen Treuen. Drei Unbekannte sollen Bierflaschen mit einer brennbaren Flüssigkeit auf das Gelände geworfen haben. Weil die Brandsätze nicht richtig gezündet hatten, hielt sich der Schaden in Grenzen. Ein auf dem Gelände eingesetzter Wachmann konnte diesen Angriff auch nicht verhindern. Die Angreifer warteten einfach ab, bis er sich auf die andere Seite des Geländes begab und schlugen dann zu.

Bereits im April, genauer gesagt, am Ostermontag, hatten Unbekannte wohl versucht, ein Testzentrum in Berlin-Tiergarten in Brand zu stecken. Weil das Feuer wohl von selbst wieder erlosch, konnten am nächsten Tag nur ein paar kleinere Schäden an Container und Zelt bestaunt werden.

Ebenfalls beim Versuch blieb es am 15. Dezember 2021 in Landshut. Mithilfe eines auf das Gelände geworfenen Bengalos hatte wohl jemand versucht, ein dortiges Testzentrum abzufackeln. Der Bengalo erlosch jedoch, ohne dass es zum Brand kam.

Erfolgreich war dafür eine Brandstiftung in einem Testzentrum in Wiesbaden in der Nacht auf Donnerstag, den 02. Dezember 2021. Rund 30.000 Euro Sachschaden entstanden bei einem Brand in einer Teststelle von CoviMedical. Ein am Tatort hinterlassenes Communiqué erklärt die Antifaschistische Gesinnung der Brandstifter*innen:

Es fing nicht mit
Gaskammern an.
Es fing mit einer Politik an, die von
WIR
gegen DIE sprach.
Es fing mit Hetze
und Intoleranz an.
Es fing mit der
Aberkennung von Grundrechten an.
Es fing mit
Menschen an, die einfach
wegschauten.

Darunter findet sich ein durchgestrichenes Hakenkreuz.

Dass es nicht immer gleich den Griff zum Feuerzeug braucht, um ein Impfzentrum lahmzulegen, das bewies ein findiger Internetnutzer im Brandenburgischen Wandlitz. Er vereinbarte einfach rund 150 Termine und gab dabei nicht existente Personaldaten an. So war das Impfzentrum für einen Tag ausgebucht. Das Personal wartete, aber keine*r kam. So leicht das Ganze auch scheinen mag und so harmlos es klingen mag: Dass die Bullen wenige Tage nach dieser Sabotage einen Tatverdächtigen festnahmen und irgendeinen Strafparagraf aus dem Hut zauberten, sollte eventuelle Nachahmer*innen dazu ermahnen, Anonymisierungsdienste wie beispielsweise Tor zu nutzen und das Ganze nicht vom eigenen Computer aus zu machen. Vielleicht kann man ja mancherorts auch per Anruf aus Telefonzellen Termine mit Fake-Daten vereinbaren.

Und als eine Art allgemeine Erinnerung: Nicht bloß Test- und Impfzentren können angegriffen werden. Nachdem im Herbst 2020 bereits das Robert-Koch Institut in Berlin sein Fett weg, bzw. Molotow-Cocktails abbekam, traf es Ende Dezember 2021 das Bremerhavener Gesundheitsamt. Auf in den Medien veröffentlichten Bildern ist ein teilweise zerborstenes Fenster zu sehen, an dem die Rußspuren von Brandsätzen zu erkennen sind. Ein größerer Schaden blieb jedoch leider aus.

Alles in bester Ordnung

Das zügellose Ich – und das sind wir ursprünglich und in unserem geheimen Inneren bleiben Wir’s stets – ist der nie aufhörende Verbrecher im Staate. Der Mensch, den seine Kühnheit, sein Wille, seine Rücksichtslosigkeit und Furchtlosigkeit leitet, der wird vom Staate, vom Volke mit Spionen umstellt. Ich sage, vom Volke! Das Volk – Ihr gutherzigen Leute, denkt Wunder, was Ihr an ihm habt – das Volk steckt durch und durch voll Polizeigesinnung. – Nur wer sein Ich verleugnet, wer „Selbstverleugnung“ übt, ist dem Volke angenehm.

Polizeigewalt

Als am 25. Mai 2020 der schwarze George Floyd bei einer Polizeikontrolle von den Cops getötet wird, wird in den etablierten wie weniger etablierten Medien eine vermeintlich ungewöhnlich radikale Frage diskutiert: Sollte man die Polizei nicht besser abschaffen oder zumindest radikal abbauen? „Defund the Police“, „Kürzt der Polizei die Mittel“, diese Forderung geistert durch die Medien, und Minneapolis, die Stadt, in der George Floyd getötet wurde, kündigt an ihre Polizeistruktur grundlegend umzubauen. Damit wird eine Forderung populär, die von diversen schwarzen linken Organisationen in den USA wie „Black lives matter“ oder der Initiative „A World without Police“ sowie anderen Vertreter:innen der abolitionistischen Bewegung [1] bereits seit Jahren propagiert wird. Polizei und Gefängnisse müssten erst „abgeschafft“ werden, ehe sie reformiert werden könnten, meint beispielsweise Mariame Kaba, abolitionistische Aktivistin, unter anderem Direktorin des Project NIA, einer Organisation zur Beendigung von Jugendinhaftierungen. Mehr Geld für Sozialarbeit und psychologische Krisenhilfe fordern demokratische Reformisten wie letztens auch die Grüne Jugend. Die Polizei habe zu viele Zuständigkeiten, die sich durch andere Institutionen und Ansätze besser lösen ließen, wie etwa wenn es um den Umgang mit Drogen, Obdachlosigkeit und psychischen Erkrankungen geht.
Radikalere Abolitionist:innen wie etwa A World without Police – die gleichnamige Broschüre aus dieser Initiative wird beispielsweise von ABC Wien verbreitet [2]– haben da eine größere Vision:

Die einzige Möglichkeit, Polizeigewalt zu beenden, ist die Polizei als Ganzes abzuschaffen – als Teil einer revolutionären Veränderung der Gesellschaft, die den vorhandenen Wohlstand und Ressourcen auf alle verteilt.

Die Abschaffung der Polizei und des Knastes wird dabei nicht isoliert betrachtet, sondern formuliert die Sehnsucht nach einer befreiten Gesellschaft, in der die Abschaffung der Polizei nur ein Teilaspekt eines radikal anderen Miteinanders sein soll. Teil dieser Utopie ist dabei immer die Suche nach „Alternativen“ zu Polizei und Knast, um die „Sicherheit“ und den „Schutz“ der Menschen zu gewährleisten. Ob Grüne Jugend oder A World without Police, die etwa die Polizeikräfte „durch Systeme gemeinschaftlicher Sicherheit und Konfliktlösung“ ersetzen wollen, konkreter beispielsweise durch „basisdemokratisch aufgestellte Sicherheitsteams, in denen diejenigen das Sagen haben, die auf Schutz angewiesen sind“, es braucht einen Ersatz für das, was die Polizei aktuell leistet oder leisten soll.

Doch was bedeutet das, wenn ich nach „Alternativen“ zur Polizei suche? Was ist es, was ich erhalten will? Was ist „die Polizei“ überhaupt? Wo kommt sie her, was sind die Ideen und Vorstellungen, die dahinter stehen? Gibt es da wirklich etwas, das erhaltenswert ist? Oder muss die Polizei in ihrer Gesamtheit zerstört werden? Aber was bedeutet das? Ich möchte im Folgenden versuchen, diese Fragen zu erkunden. Dabei geht es mir nicht nur darum, den propagierten Reformismus der abolitionistischen Bewegung zu kritisieren, sondern ich möchte versuchen tiefer zu gehen, der Essenz der Idee der „Polizei“ nachzuspüren und mir die Frage stellen, worauf wir uns eigentlich beziehen, wenn wir über die „Polizei“ reden, und zu entlarven, dass die „Polizei“ – nicht nur als der berühmte Bulle im Kopf – unsere Vorstellungen eines menschlichen Miteinanders so tief durchdrungen hat, dass auch eine Welt ohne Polizei in den allermeisten Fällen eine polizierte Welt sein wird.

Dabei möchte ich keine einheitliche Geschichte der Polizei erzählen, keinen Entwicklungsstrang, keine Erzählung irgendeines „Fortschritts“ oder „Antifortschritts“, sondern eher Fragmente sammeln, Diskurse und Ideen wie auch Geschichten über die Polizei und das Polizieren.

Polizeigeschichten

Der Begriff der „police“ oder „Policey“ taucht erstmals im 15. und 16. Jahrhundert im Heiligen Römischen Reich, Frankreich und England auf. Er leitete sich vom Altgriechischen ab, vom Begriff „politeia“ und ist damit mit der griechischen „polis“, den antiken Stadtstaaten, verbunden und mit dem Begriff der „Politik“ eng verwandt. „Polis“ heißt übersetzt einfach „Stadt“ oder „Staat“, was im antiken Griechenland identisch war. „Politik“ bezeichnete in den antiken Stadtstaaten all diejenigen Tätigkeiten und Fragestellungen, die das Gemeinwesen – also die Polis – betrafen. Interessant ist hier das berühmteste Werk des griechischen Philosophen Plato, die Politeia, zu betrachten. In der Politeia diskutiert Plato darüber, inwiefern Gerechtigkeit in einem idealen Staat hergestellt werden kann. In Platos idealem Staat soll die Bevölkerung aus drei Ständen bestehen: den Bauern und Handwerkern, den Kriegern oder Wächtern und den „Philosophenherrschern“. Dabei sind die Wächter diejenigen, die den Staat bewachen sollen. Sie sollen den Staat nach außen wie nach innen verteidigen – nach heutigen Begriffen sollen die Wächter also militärische wie polizeiliche Aufgaben erfüllen –, wenn auch darauf zu achten sei, dass die Wächter nicht zu unterdrückerisch gegen die eigene Bevölkerung vorgehen dürften. Den Staat zu verteidigen bedeutet bei Plato auch, eine optimierte Stabilität dieses Staates herzustellen – was etwa beinhaltet dafür zu sorgen, dass die Bürger immer in einer optimalen Anzahl an Menschen für den Staat vorhanden sind, aber auch dass kulturelle „schädliche Neuerungen“ von den Bürgern ferngehalten werden müssten, also in die Fortpflanzung der Bürger im Sinne des Staates einzugreifen und alles, das die Menschen von ihrer Subjektivierung als Bürger entfernt, von diesen fernzuhalten.

Die „Policey“ des 15. und 16. Jahrhunderts – wenn auch noch nicht allgemein definiert und teilweise unterschiedlich verwendet – umfasste meist – angelehnt an die „Politik“ der Polis – einen Zustand der guten, allgemeinen Ordnung eines Gemeinwesens sowie einer allgemeinen „Wohlfahrt“ und „Sittenaufsicht“. So wurde 1530 in Augsburg eine „Reichspolizeiordnung“ beschlossen, die neben dem, was wir auch heute noch in Strafgesetzbüchern finden, auch Dinge wie Gotteslästerung, Fluchen und Schwören, Trinken, die ständische Kleiderordnung, Trompeter und Spielleute, Betteln und Müßiggang oder den Verkauf unterschiedlicher Waren wie etwa Ingwer regelte und für die Nichtbefolgung konkrete Strafen festlegte. Dabei gab es aber noch keine Institution der „Polizei“, die dafür sorgte, dass diese Regeln eingehalten werden, sondern es gab eine Fülle an unterschiedlichen Umsetzungen und Zuständigkeiten. So hatten die Zünfte in den Städten etwa häufig eigene, konkurrierende „Polizeien“, die dann mit den städtischen Wachen in Konflikt gerieten. Vielerorts übernahmen Söldner – häufig ehemalige Soldaten – die oftmals sehr niedrig angesehene Aufgabe, andere Menschen zu drangsalieren, oft waren es auch feudale Garden und Wachen, die über die Einhaltung solcher „Ordnungen“ wachten.

Die Verteidigung des Eigentums insbesondere reisender Kaufleute und der Adligen war ein wichtiger Bestandteil früher Polizeiarbeit, der Kampf gegen „Müßiggang“ und „Bettelei“ ein anderer. In der Schweiz – wenn auch nicht nur da – spielte der Kampf gegen nicht sesshafte, umherwandernde Menschen – da deutlich schwerer kontrollierbar und eine Gefahr für Eigentum und Leben insbesondere der reichen Kaufleute und Adligen –, wie „Zigeuner“, Räuberbanden, Vaganten, Fahrende und Bettler eine wichtige Rolle für die Entwicklung der frühen Polizei. Ehemalige Soldaten sollten als sogenannte „Landjäger“ das „Gesindel“ vertreiben. Im 17. Jahrhundert übernahmen im Heiligen Römischen Reich „Vogte“, niedere Adlige, die Etablierung einer „guten Ordnung“. Wachleute und Nachtwächter übernahmen dann die Aufgaben, etwa zu kontrollieren, ob sich jemand im Wirtshaus nicht an die Tischmanieren hielt oder sich nicht seines Standes gemäß kleidete. In den USA waren die Vorläufer der modernen Polizei ab circa 1700 sogenannte „slave patrols“, Sklavenpatrouillen, die Sklavenrevolten niederschlagen und geflohene Sklav·innen wieder einfangen sollten.

Das moderne Konzept der Polizei als vom Staat bezahlte und geförderte Beamte wurde von deutschsprachigen und französischen Juristen und Beamten im 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts entwickelt. Einflussreich war Nicolas Delamares Traité de la Police von 1705, ebenso wie die von Philipp von Hörnigk entwickelte Polizeiwissenschaft. Einer der bedeutendsten Theoretisierer der Polizei ist Johann Heinrich Gottlob von Justi, der 1756 die „Grundsätze der Policey-Wissenschaft“ folgendermaßen definiert:

“In weitläuftigem Verstande begreifet man unter der Policey alle Maaßregeln in innerlichen Landesangelegenheiten, wodurch das allgemeine Vermögen des Staats dauerhaftiger gegründet und vermehret, die Kräfte des Staats besser gebrauchet und überhaupt die Glückseligkeit des gemeinen Wesens befördet werden kann.”

Aufgabe des Staates sei, dass er das größtmögliche „Glück“ für die größtmögliche Anzahl seiner Bürger ermögliche. „Polizei“ bzw. ius politiae (Polizeigewalt) erwuchs zum wichtigsten Bestandteil der einheitlichen absoluten Staatsgewalt. Die Polizei sei wichtigstes Instrument zur Gewährleistung der „Herrlichkeit“ des Staates. Sie vergrößere die Stärke des Staates, während sie diesen in guter Ordnung halte. Gleichzeitig solle sie das „Glück“ aller Staatsbürger fördern. Sie solle sich nicht nur um die Durchsetzung von Gesetzen kümmern, sondern sei auch für die öffentliche Gesundheit, die Stadtplanung und die Überwachung von Preisen zuständig – ganz im Sinne von Platos Politeia. Alle möglichen Aspekte im Leben eines Untertans wurden immer umfassender reguliert. Resultat dieser Ideen war der absolutistische „Wohlfahrtsstaat“ des 17. und 18. Jahrhunderts, heute besser bekannt und verrufen als „Polizeistaat“.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts kam Kritik am Polizeistaat auf. Der Bürger dürfe „nicht zu seinem Glück gezwungen werden“. Die Aufgabe der Polizei liege ausschließlich in der sogenannten „Gefahrenabwehr“ und der Verhinderung von Straftaten. Wohlfahrtspolizeiliche Ziele müssten dabei aber nicht etwa aufgegeben, sondern lediglich eingeschränkt bzw. an andere Institutionen ausgelagert oder anders realisiert werden. Die französische Revolution organisierte die Polizei in diesem Sinne vollkommen neu und lieferte die Basis für das bis heute bestehende Verständnis und die Organisation von Polizeiarbeit:

„Die Polizei wird eingesetzt, um die öffentliche Ordnung, die Freiheit, das Eigentum, die individuelle Sicherheit aufrechtzuerhalten. Ihre Haupteigenschaft ist die Wachsamkeit. Die Gesellschaft betrachtet als Masse ist Objekt ihrer Fürsorge.“

Umgesetzt wurde diese Beschränkung allerdings noch lange nicht, weder in Frankreich noch in deutschsprachigen Gegenden. Erst mit der Weimarer Republik wurde dies im deutschsprachigen Raum mehr oder weniger umgesetzt. Im NS erweiterten sich die Befugnisse der Polizei massiv und eine neue Form des absolutistischen Polizeistaats, der totalitäre Polizeistaat, zum „Schutz der deutschen Volksgemeinschaft“ erschaffen. Nach der Niederlage 1945 erstand die Polizei in der Bundesrepublik in der heute bekannten Form wieder auf (übrigens mit weitreichenden personellen Überschneidungen, ebenso wie es bereits beim Übergang der Weimarer Schutzpolizei zur nationalsozialistischen Polizei der Fall gewesen ist. Aber das nur am Rande). In der DDR hingegen war die Polizei nun für den „Schutz der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung“ zuständig, mit den allseits bekannten polizeistaatlichen Konsequenzen.

Polizeivorstellungen

Was können wir aus diesen Geschichten und Fragmenten herausdestillieren? Was macht die Polizei aus? Auch wenn die Polizeiidee einer Entwicklung und einem Wandel unterworfen war, denke ich, dass sich gewisse Grundvorstellungen bereits herauskristallisieren.

So gehört zur „Polizei“ grundlegend die Vorstellung eines „Gemeinwesens“ oder einer „Gesellschaft“, die Vorstellung von etwas Kollektivem also, das über dem einzelnen Individuum steht, das die an einem Ort befindlichen Menschen gänzlich und unfreiwillig umfasst und eine abstrakte Gesamtheit bildet, die durch „schädliches“ Verhalten Einzelner innerhalb oder außerhalb dieses kollektiven Gebildes Schaden nehmen könnte, was wiederum zum Schaden aller gereichen würde. Deshalb muss das einzelne Individuum diesem übergeordneten Kollektiv untergeordnet werden und eine formelle Struktur gebildet werden, etwa einen Staat, um dieses „Gemeinwesen“ zu schützen. Die Verteidigung dieser Struktur gegenüber äußeren wie inneren Feinden, die „dauerhafte Gründung und Vermehrung des Vermögens des Staates“, die Herstellung einer Stabilität dieser Struktur ist dabei ein, vielleicht auch erstes Ziel der Polizeiarbeit. Das bedeutet, dass kollektives wie individuelles Verhalten, das diese Struktur gefährden könnte, bekämpft werden muss. Das Individuum spielt dabei keine Rolle, nur die „Masse“ wird dirigiert, als entindividualisierte Zellen des „Gemeinwesens“, die verwaltet und wie Schachfiguren an die richtige Stelle platziert werden müssen. Wir können das Bild dieses „Gemeinwesens“ durchaus organisch betrachten. In Leviathan, einem äußerst einflussreichen staatstheoretischen Werk der Aufklärung, beschreibt Hobbes den Staat als einen riesigen, einheitlich handelnden Körper, zusammengesetzt aus zahlreichen Menschen, die diesen Riesen mit ihren Handlungen zum Leben erwecken. Betrachten wir den Staat als ein solches Ungetüm – und der moderne Staat ist auf jeden Fall damit halbwegs treffend beschrieben –, dann muss dafür gesorgt werden, dass seine Bestandteile, oder in der modernen Variante der Körpervorstellung seine „Zellen“ ihre Aufgaben erfüllen, die diesen Riesen zum Leben erwecken, d. h. sie können nicht die Freiheit haben zu tun und zu lassen, was sie wollen. Um seine „Zellen“ zu einer für den Leviathan notwendigen Disziplin zu bewegen, braucht es eine Identifizierung der Staatssubjekte mit ihrem Staat. Unterschiedliche Methoden können dabei angewandt werden. Eine ist die Diffamierung individueller Freiheit, des ungezügelten Ichs, als „Egoismus“ und die Propagierung der Aufgabe dieser individuellen Eigenheit zum Wohle einer abstrakten und damit beliebig mit Inhalt befüllbaren „Gemeinschaft“ – genannt „Altruismus“. Eine andere ist den dem Staat unterworfenen „Zellen“ einen Nutzen durch die Teilhabe zu versprechen.

So ist Teil der Polizei-Vorstellung auch, dass der Staat oder eine andere Struktur in der Lage seien, dieses „Gemeinwesen“ zu verbessern, indem dieser die Beziehungen von Menschen und anderen Lebewesen auf eine „gute“ Art und Weise „ordnet“ und so das „Glück“ der meisten befördern würde, der „Wohlfahrt“ dienen würde. Was „Glück“ oder „Wohlfahrt“ dabei sein soll, bestimmen natürlich jene, die in diesem Konstrukt das Sagen oder Einfluss haben, ebenso wie sie bestimmen, wer genau davon wie „profitieren“ solle und wie diese „Ordnung“ auszusehen hat. Diese „Ordnung“ wird in dieser Erzählung einem furchterregenden „Chaos“ gegenübergestellt. Hobbes etwa stellt seinen Staat einem staatenlosen „Naturzustand“ entgegen, der, gemäß seiner Vorstellung, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf sei, als einzige Schlachterei unter den Menschen beschrieben wird – ein erstaunlicher Vergleich, schließlich wäre es zumindest mir neu, dass Wölfe ein solches Verhalten an den Tag legen würden. Nur ein Staat könne mithilfe der Errichtung eines Gewaltmonopols und durch Zwang auferlegte. für alle verbindliche Regeln, sogenannte Gesetze, diesen „Urdrang“ des Menschen bändigen. Nur durch die auferlegte Herrschaft des Leviathan, vor der sich jeder fürchte, könne jeder ohne Furcht vor seinem Nächsten leben und so erst zu Freiheit und Autonomie gelangen. Diese Verdrehung, die ich nicht anders als mit dem berühmten und überstrapazierten Satz aus Orwells 1984 , „Freiheit ist Sklaverei“ zusammenzufassen vermag, setzt sich in der beständigen Panikmache vor diversesten „Gefahren“ fort, etwa altbekannt die vor Mördern, Vergewaltigern und Kinderschändern, aber auch die vor Terroristen, Islamisten oder neuerdings die vor einem Virus. Gleichzeitig werden die Menschen davon entwöhnt, ja es wird ihnen sogar verboten, ihre Konflikte und sonstige Widrigkeiten direkt und selbst zu klären oder auszutragen. Das führt sogar so weit, dass – zumindest in Deutschland – Menschen die Cops rufen, wenn ihre Nachbarn zu laut sind, anstatt dass sie einfach selbst hingehen, um den Konflikt direkt mit diesen auszutragen. Durch diese bewusst herbeigeführte „Hilflosigkeit“ der Menschen und dem geschürten, manchmal trotzdem nicht einmal real vorhandenen „Sicherheitsbedürfnis“, das dann wiederum nur der Staat befriedigen und nur er für Schutz sorgen könne, wird dann die Unterwerfung der Individuen gerechtfertigt und sogar als Freiheit verkauft.

Polizeimethoden

Irgendwo sind alle diese Ideen einfach nur Blabla, um die Herrschaft derjenigen, die mithilfe der geschaffenen Struktur gefestigt und aufrechterhalten werden soll, zu legitimieren und die eigenen Vorstellungen, wie Menschen zu leben haben, durchzusetzen, sowie die Handlungen der dieser Herrschaft unterworfenen Menschen so zu beeinflussen oder zu bestimmen, dass sie der eigenen Machterhaltung und dem eigenen Profit dienen. Das bedeutet nicht, dass diejenigen, die die Gestaltung dieser „Ordnung“ mitbestimmen oder grundlegend setzen, nicht tatsächlich daran glauben, eine für alle „gute Ordnung“ zu entwerfen. Doch egal ob aus reiner Machtgeilheit oder aus Philanthropie, beide eint, dass sie andere Menschen in eine „Ordnung“ bringen wollen, die ihren Zielen entgegenkommt, dass also auf die Menschen Einfluss genommen werden müsse, etwa bei Plato Geburten kontrolliert und Zensur betrieben werden müsse, damit die Menschen auf eine die Ordnung aufrechterhaltende und dieser Ordnung entsprechenden Art und Weise handeln. Viele Kritiker des kapitalistischen demokratischen Nationalstaates werfen dieser Ordnung vor, das Versprechen darauf das größtmögliche Wohl für alle herzustellen, nicht zu erfüllen, und stellen ihm ihre eigene Utopie einer Ordnung entgegen, von der angeblich tatsächlich alle profitieren würden und die die größtmögliche Freiheit für alle etablieren würde.

Womit wir es bei dieser Art der Kritik also zu tun haben, ist eine Kritik an den Methoden und der Form, jedoch keine grundsätzliche Verwerfung von (An-)Ordnungsvorstellungen. Da sind sie nicht die einzigen, denn es gab immer viel Diskussion hinsichtlich der Methoden und Mittel zur Durchsetzung oben genannter Ziele und wieviel (physischer) Zwang und Strafe dabei eingesetzt werden sollte oder dürfe. Bereits Plato wollte nicht, dass die „eigene Bevölkerung“ zu sehr von den Wächtern unterdrückt werde, aber ein bisschen dann doch, kaschiert als das angeblich dialektische Verhältnis zwischen „Freiheit“ und „Sicherheit“, zwischen denen man eine optimale Balance finden müsse.

Während etwa in feudalen Zeiten „polizeiliche“ Institutionen ebenso wie Gerichte und Strafen auf die sichtbare und öffentlich zelebrierte körperliche Bestrafung verbotenen Verhaltens, auf das Schauspiel der Zerstörung des Körpers des Delinquenten setzte und die „Ordnung“ häufig mithilfe von offener physischer Gewalt durchgesetzt wurde, setzte mit der Aufklärung eine „Humanisierung“ und Subtilisierung dieser Kontrollinstrumente ein, die sich zukünftig nach wissenschaftlichen, „vernünftigen“ und demokratischen Prinzipien organisieren sollten. „Willkürliche“ Herrschaft und Strafen, die härter waren als das, was die Person verübt hatte, passte den protestantischen Aufklärern nicht. Mit der Absetzung der Aristokratie als die herrschende Klasse und der Emanzipation des Bürgers, der Bourgeoisie, als neue herrschende Klasse musste ein anderes Herrschaftsverhältnis her, eines, das vermeintlich auf Vernunft basierte. Die auch heute noch auf den Grundsätzen der Aufklärung basierenden polizeilichen Institutionen erheben den Anspruch, ihre Tätigkeit an gewissermaßen „objektiven“ Kriterien zu orientieren, die philosophisch und demokratisch entwickelt wurden, um ein Zusammenleben zu sichern, das im Sinne zumindest der Mehrheit bzw. der meistmöglichen Anzahl an Menschen sei.

Der Staat solle dabei das Instrument zur Durchsetzung dieser Vernunft sein. Dabei wird scheinbar jeder gleich machtlos angesichts verschriftlichter Vorschriften und Gesetze. Ein Cop hält sich nur an die Vorschriften, ein Richter ans Gesetz. Ein jeder orientiert sich an einer leblosen Sache, die weil sie leblos ist, als höhere Sache gilt, der man sich ja auch nur unterwirft. Ein jeder nur ein Rädchen in einem System, das vorgeblich dem Wohl aller dient. Ganz im Sinne von Hobbes‘ Leviathan. Gott – herrschaftliche Legitimationsstrategie vor der Aufklärung – heißt nun Vernunft und Wissenschaft.

Außerdem verschiebt sich der Fokus auf die „Prävention“ unerwünschten Verhaltens anstatt der altbewährten Bestrafung – „es ist besser zu verhindern, dass Verbrechen überhaupt stattfinden anstatt sie zu bestrafen“, proklamierte etwa der utilitaristische Philosoph Jeremy Bentham – ebenso wie auf die „Resozialisierung“ aka Umerziehung von Menschen, die trotzdem gegen Regeln verstoßen, unter anderem mithilfe von nicht körperlich sichtbaren Bestrafungen, die je nach „Besserungsgrad“ minimiert werden können. „Die Strafe soll, wenn ich so sagen darf, eher die Seele treffen als den Körper“, bemerkte der Aufklärer de Mably 1789.

Im 19. Jahrhundert wird in Großbritannien die Strategie des „policing by consent“ entwickelt. Angesichts von Arbeiterstreiks und -aufständen, die teilweise dadurch verschärft wurden, dass die Cops zahlreiche Protestierende niederschossen, musste eine neue Strategie her. Der Begründer der Londoner Metropolitan Police Force, ein Politiker namens Peel, entwickelte 1829 das „policing by consent“, das zustimmungsbasierte Polizieren. Diese Idee sollte revolutionäre Bewegungen in reformistische verwandeln, die in der Polizei ihren Partner und nicht ihren Gegner sehen. Die Idee dabei war, dass je mehr die Leute sich selbst polizieren, umso weniger brutale Gewalt zur Durchsetzung der Staatsordnung aufgewendet werden muss.

„Die Polizei muss die willige Kooperation der Öffentlichkeit bei der freiwilligen Befolgung des Gesetzes sicherstellen, um in der Lage zu sein den Respekt der Öffentlichkeit zu sichern und aufrechtzuerhalten… Der Kooperationsgrad der Öffentlichkeit, der gesichert werden kann, senkt proportional die Notwendigkeit offene brutale physische Staatsgewalt anzuwenden.“

So beschreibt Peel seine Idee. Die Polizei darf also nicht als von außen aufgedrückte Unterdrückungs-, Überwachungs- und Kontrollstruktur wahrgenommen werden, sondern muss als Ausdruck des Gemeinwillens, als „Bürger im Dienste des Bürgers“ angesehen werden, an Gesetze gebunden wie alle und nur gegen diejenigen vorgehend, die sich nicht an Gesetze halten. In diesem Sinne steht auch das 1926 in der Weimarer Republik geprägte – und von Heinrich Himmler begeistert wieder aufgenommene und bis heute verbreitete – Motto „Die Polizei – dein Freund und Helfer“. Peel prägte auch den Satz: „Die Polizei ist die Öffentlichkeit und die Öffentlichkeit ist die Polizei“, denn die erfolgreichste Polizei ist diejenige, die die Gesellschaft so durchsetzt hat, dass sie eins mit ihr geworden ist, wo sich die Leute von selbst an die Regeln halten, ohne darüber nachzudenken, diese als selbstverständlich betrachten und andere daran hindern, diese Regeln zu brechen.

Polizeigesellschaft

Humanismus: die Kunst einem Monster Lippenstift aufzutragen und es dazu zu bringen ganz süß zu gucken, während man ihm weiche mitleidsgefärbte Kleider anzieht; die Kunst die eigene Verteidigung einer solchen Unmenschlichkeit menschlich erscheinen zu lassen.
Good cop bad cop

Seit dem 18. Jahrhundert, also eigentlich seit Beginn der Institutionalisierung der Polizei, wird darüber nachgedacht, auf welche Art und Weise die Anwendung physischer Gewalt minimiert werden kann, ohne dabei die Kontrolle über die Bevölkerung zu verlieren, um so die Akzeptanz der bestehenden Herrschaftsstrukturen und ihrer Regeln zu steigern. Die meisten Kritiken am Polizeistaat – damals wie übrigens auch heute – beschränkten sich darauf, dass es nicht Sache einer physische Gewalt anwendenden Institution sei, gewisse Dinge zu regeln, dass das „unmenschlich“ sei, sondern dass es andere Institutionen oder Ansätze gebe, die besser für die Regelung dieser Dinge geeignet seien. Welcher Dinge? Handlungen, Beziehungen und Situationen, die die „Ordnung“ stören könnten, etwa dadurch, dass die Befriedung der Bevölkerung nicht mehr funktioniert, es also Potenzial für Revolten gibt, oder dass die Mitglieder dieser Ordnung ihre Aufgaben nicht (mehr) erfüllen (können). So ist beispielsweise der „Kampf“ gegen Armut, Drogenmissbrauch oder Obdachlosigkeit – Beispiele derjenigen, die etwa mehr Sozialarbeiter für diese Angelegenheiten anstelle von Cops fordern – Versuche das Versagen des Glücksversprechens des Staates zu kaschieren oder aufzufangen, ebenso wie Revolten aufgrund von existenzieller Not zu verhindern und andererseits mithilfe von „Resozialisierungs“programmen etwa von Obdachlosen oder Drogenabhängigen diese in den Körper des Leviathan als nützliche Zellen zu reintegrieren.

„Polizei“ als Etablierung und Aufrechterhaltung einer „Ordnung“ umfasst die Einfügung der Subjekte des Leviathans in seinen Körper. Doch was bedeutet das konkret? Ein altes Synonym zur „Policey“ ist „Mannszucht“. Heute kennen wir noch das „Zuchthaus“, die „Züchtigung“ oder „züchtig“ zu sein. Dabei sind die „Züchtigung“ oder das „Züchtigsein“ Dinge, das wir meist mit vielleicht etwas veraltet wirkenden Erziehungsmethoden assoziieren. Ob veraltet oder nicht, können wir allerdings sagen, dass Erziehung eine ganze Menge mit der Polizei zu tun hat.

part. policiert, in gute bürgerliche ordnung (polizei) gebracht, wol eingerichtet; gebildet, gesittet, civilisiert
„Polizieren“, Grimms Wörterbuch

Wer poliziert ist, ist laut Grimmschen Wörterbuch „gebildet, gesittet, civilisiert“. Jemand Unpoliziertes ist also ungebildet, unzivilisiert, ungesittet. Wer eine „schlechte Erziehung“ genossen hat – oder, in moderneren Worten ausgedrückt, „einen niedrigen Bildungsstandard hat“ –, der läuft Gefahr eher „straffällig“ zu werden, sprich ordnungsgefährdendes Verhalten an den Tag zu legen. Eine gute Bildung und Erziehung ist ein wichtiges Anliegen für den Staat. Die „Erziehung“ ist auch begrifflich eng mit der „Zucht“ verwandt. Das mittelhochdeutsche zühter und das althochdeutsche zuhtari bedeuten ursprünglich „Lehrer“ oder „Erzieher“. Die „Policey“ als „Mannszucht“ dient als lebenslange Erziehungsinstanz. Wer schon einmal in einem Gerichtsprozess saß, kennt den erzieherischen Charakter der ganzen Veranstaltung. Erziehung ist nichts anderes als die Einschränkung der Handlungen des freien, ungezügelten Individuums auf die erwünschten, die in unserer Gesellschaft die des arbeitenden Bürgers sind. Polizei ist auch Schule, Erziehen ist Polizieren.

Doch kehren wir zur „Zucht“ zurück. In Victor Hugos Roman Les Misérables – Geschichte eines Brotdiebes, der nach neunzehn Jahren Zwangsarbeit versucht ein moralisch „besserer“ Mensch zu werden, dabei einen Industriestandort gründet und Bürgermeister wird, dessen Versuche sich zu „rehabilitieren“ aber immer dann scheitern, sobald die Menschen von seiner Vergangenheit erfahren – begegnen wir einem Bischof – der Seelsorger des Protagonisten, der durch seine Freundlichkeit diesen zur Moral bekehrt –, der beim Anblick von Bauern, die Brennesseln aus dem Feld herausreißen und daneben in der Sonne verdorren lassen, murmelt:

Meine Freunde, behaltet dies, es gibt weder schlechtes Kraut noch schlechte Menschen. Es gibt nur schlechte Gärtner.

Der Bischof weiß, wie nützlich Brennesseln sind und was man alles damit machen könnte und ist betrübt über die Dummheit der Bauern. Ebenso ist der Protagonist mithilfe von Fürsorge „bekehrbar“ und kann zu einem nützlichen Mitglied der Gesellschaft werden, was aber durch sein Stigma als ehemaliger Strafgefangener immer wieder von der Gesellschaft zunichte gemacht wird. Ich finde das ganze Buch sehr bezeichnend für die Idee, die hinter der Polizei steht sowie für gängige Polizeikritiken, und speziell die Brennesselszene in diesem Kontext äußerst interessant. Die Moral von der Geschicht‘: der Protagonist, die „Brennessel“ könnte und ist ein so nützliches Mitglied der Gesellschaft, doch dadurch, dass ihm die Vergangenheit nicht verziehen wird, kann er dieses Potenzial nicht ausleben. Auf andere „liberale“ oder „emanzipatorische“ Kritiken übertragen, ist das Argument, dass jeder Mensch Fähigkeiten habe, die für die Gesellschaft nutzbar gemacht werden könnten, und die Methoden der Institution der Polizei und der Strafjustiz seien dafür häufig nicht geeignet, teilweise schüfen diese auch erst die Probleme, die sie vorgeben zu lösen. Die Polizei sei häufig „ein schlechter Gärtner“, doch durch eine Umstellung der Methoden, etwa durch Güte, könnte der Garten Gesellschaft viel mehr erblühen und seine Elemente maximal nützlich verwertet werden. Vieles von dem, was als „Unkraut“ entfernt wird, könnte sehr wertvoll für die Gesellschaft sein.

Der Garten im Gegensatz zum wilden Wald oder zur wilden Ebene ist das passende Pendant zur Gesellschaft im Gegensatz zur Freiheit, zum wilden, ungezähmten, freien „Naturzustand“, den Hobbes so verteufelt. Der Garten ist die geordnete, kontrollierte Umgebung, in dem jede Pflanze, jedes Tier danach sortiert wird, ob es für den Zweck des Gartens nützlich ist oder bekämpft werden muss. Und auch hier kann der Gärtner sich irren, Nützliches zerstören und Schaden anrichten und ihm werden andere widersprechen und andere Theorien haben, wie der Garten in seiner ganzen Pracht erblühen kann, doch der Garten selbst bleibt unangetastet. So wie der Gärtner seine Blumen und Nutzpflanzen zieht, Regenwürmer ansiedelt, einen Kompost anlegt und die Schnecken vergiftet, so wird der neugeborene Mensch ge- – pardon erzogen und kultiviert, einer guten „Zucht“ bzw. „Erziehung“ unterworfen, er wird zivilisiert und domestiziert, er wird poliziert.

So gibt es viele Institutionen, „Fachbereiche“, Vereine und akademische Fakultäten, die sich mit der optimalen „Zucht“ der Menschen beschäftigen und sich darum streiten, welcher Dünger die besten Resultate bringt. Was ist die effektivste Methode, um unerwünschtes Verhalten zu eliminieren und erwünschtes zu produzieren? Wie lege ich den Garten am besten an, um das beste Resultat zu erzielen, wie erschaffe ich den Raum, indem am besten das gewünschte Resultat zutage tritt? Die Psychologie, die Pädagogik, die Verhaltensforschung und die Sozialwissenschaft, die soziale Arbeit, die Architektur – etwa durch das Entwerfen „sicherer“ Wohnviertel – haben erstaunliche Arbeit geleistet, um die Produktion erwünschten Verhaltens zu steigern. „Sanftere“ Methoden als der Knüppel verringern bei vielen den Widerstand spürbar. Die Forschungen in diesem Bereich mögen die Erkenntnis geliefert haben, dass das Polizieren mithilfe physischer Gewalt nicht immer das geeignete Mittel zur Verhaltenskontrolle ist, sondern mehr als „Mittel letzter Wahl“ gebraucht bzw. zumindest der Anschein dessen vermittelt werden sollte. Eine Trennung der „Unverbesserlichen“, derjenigen also, bei denen subtilere Methoden der Verhaltenskontrolle nicht funktionieren, von denen, die für andere Mittel anfällig sind, isoliert diese „aufständischen“/kriminellen Elemente und macht sie so leichter kontrollierbar.

In einem Verständnis der Polizei als Kriegsführung gegen das ungezähmte Individuum zur Herstellung des Bürgers und des Arbeiters muss auch die moderne Unterscheidung von Militär und Polizei infragegestellt werden. In anderen Ländern als Deutschland mag diese Unterscheidung eh lächerlich erscheinen, in denen das Militär immer dann zum Einsatz kommt, wenn die klassische Polizei und die anderen Institutionen nicht mehr in der Lage sind, das Verhalten ihrer Bürger zu kontrollieren – eine Intervention, die sicherlich trotz aller „antifaschistischen“ Lippenbekenntnisse auch in Deutschland bei einem Aufstand zu erwarten wäre. Moderne Militärstrategiepapiere sehen in der zunehmend globalisierten Welt mit zunehmend gefestigten Nationen ohnehin in der Aufstandsbekämpfung das militärische Aufgabenfeld des 21. Jahrhunderts, Polizei- und Militärstrategien und -technologien befruchten sich gegenseitig, greifen ergänzend ineinander. Das Militär kommt dann zum Tragen, wenn eine neue Ordnung etabliert werden soll, etwa durch eine militärische Besatzung, oder um eine spürbar ins Wanken geratene Ordnung wieder zu stabilisieren, also quasi um die ursprüngliche Besatzung zu wiederholen. Doch eine Ordnung kann sich besser festigen, wenn die Besatzung nicht mehr als solche empfunden wird. Die militärische Besatzung eines Gebietes wird von den meisten als Freiheitseinschränkung betrachtet werden und entsprechenden Widerstand hervorrufen. Aufgabe einer Polizei ist es, eine solche ursprüngliche Besatzung so weit zu subtilisieren und zu etablieren, dass sie als von den Bewohner·innen eines Gebietes als erwünscht und als Garantin ihrer Freiheit wahrgenommen wird. Während das Militär zumindest in bisherigen Konflikten häufig den Krieg zwischen Staaten oder sonstigen Machtgefügen geführt hat und Gebiete neu besetzt, führt die Polizei in einem dann bereits gefestigten Staatsgefüge einen sozialen Krieg gegen die immer potenziell widerständischen Menschen innerhalb dieser Staaten.

Polizeianarchie?

da jeder nur für sich will leben,
nichts zum gemeinen nutz hingeben,
da geht zu grund all policei.
Georg Rollenhagen (1542-1609), froschmevseler.

Wenn wir Polizei als das Herstellen einer guten Ordnung betrachten, und wir davon ausgehen, dass eine Ordnung nur durch die Kontrolle über die Handlungen der in diese Ordnung eingegliederten Menschen (und anderen Lebewesen) hergestellt werden kann, dann ist natürlich auch klar, dass jeglicher Versuch, eine Ordnung jedweder Art herzustellen, beinhalten muss, das Verhalten der Menschen der erwünschten Ordnung anzupassen, es anzuordnen, also zu polizieren. Dass die Errichtung eines Gemeinwesens, einer Gesellschaft die Einrichtung einer Polizei, egal wie diese genannt werden wird, zur Folge haben wird. Dass alle Versuche und Vorschläge der Reformierung wie auch der Abschaffung der Polizei neue Polizeien errichten.

In gewissen anarchistischen Kreisen werden viele identitätsbasierte Befreiungskämpfe positiv rezipiert, die das Aufstellen „eigener Sicherheitskräfte“ als die Lösung bzw. die Alternative zur Polizei propagieren. Schillerndstes aktuelles Beispiel ist da die „Asayish“, die Institution zur Etablierung der öffentlichen Sicherheit in Rojava, die gerne als ein solches gelungenes Beispiel der „eigenen“ Sicherheitskultur beworben wird. So erklärte der Verwalter der Rojava-Asayish Ciwan İbrahim 2016, die Asayish sei eine „Sicherheitsinstitution, die sich nicht über, sondern innerhalb der Gesellschaft verorte“. Man könnte meinen Ciwan İbrahim hätte Peel gelesen, den Erfinder der britischen „Bobbies“, aber auch wenn dem nicht so ist, fällt es mir schwer irgendeinen Unterschied zum peelschen „Die Polizei ist die Öffentlichkeit und die Öffentlichkeit ist die Polizei“ oder dem deutschen „Die Polizei – dein Freund und Helfer“ zu sehen. Doch sie unterschieden sich schon von den Sicherheitskräften der Staaten, beteuert Ciwan İbrahim, denn:

Zuallerst basiert unsere Sicht auf gesellschaftlichen Problemen, nicht auf „Verbrechen und Strafe“. Was wir im Allgemeinen erreichen wollen ist nicht nur ein Individuum in einem Strafgericht zu bestrafen und so eine temporäre Lösung anzuwenden. Unser tatsächliches Ziel ist es die Ursache dieses Problems herauszufinden und sie umzudrehen, um sie ineffektiv zu machen und es zu verunmöglichen sie in ein Verbrechen umzuwandeln. Zum Beispiel wenn es ein Diebstahls- oder Schmuggeldelikt gibt, dann finden wir die Organisatoren und zerschlagen das Netzwerk.

Revolutionär neu, behauptet Ciwan İbrahim. Ich muss sagen, dass mir speziell bei diesem genannten Beispiel kein bisschen klar wird, inwiefern diese Methode sich von „kapitalistisch-demokratischen“ Polizeitaktiken unterscheidet, schließlich wäre mir neu, dass beispielsweise Interpol und jede sich mit Organisierter Kriminalität beschäftigende Polizeieinheit nicht versuchen würde, die Organisatoren ausfindig zu machen und die Netzwerke zu zerschlagen. Doch auch wenn man über dieses genannte Beispiel hinwegsieht, so ist das Ziel der Asayish, „nicht nur“ zu bestrafen, sondern auch die Grundbedingungen zur Begehung von Straftaten zu beseitigen, absolut identisch mit den Theorien zum präventiven Polizieren aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Die Behauptung Ciwan İbrahims in den kapitalistischen Demokratien gehe es um nur um das Bestrafen von „Verbrechen“, ist einfach falsch, und wie wir gesehen haben geht es im modernen Polizeiverständnis ganz viel auch darum die Bedingungen zur Begehung von Straftaten zu eliminieren.

Zur Frauen-Asayish, die als das besondere Element der Asayish propagiert wird und die sicherlich auch denen gefällt, die sich wünschen, dass „Sicherheitsteams“ von denjenigen gestellt werden, die „auf Schutz angewiesen sind“ – wie es etwa die vom ABC Wien beworbene Broschüre „Eine Welt ohne Polizei“ vorschlägt –, möchte ich gerne mal ganz ketzerisch die Geschichte von der Weiblichen Kriminalpolizei (WKP) in Deutschland erzählen: Nachdem in Deutschland bereits seit 1903 von Frauenrechtsvereinen durchgesetzte sogenannte Polizeifürsorgerinnen Prostituierte und minderjährige Straftäter betreuten, Heimeinweisungen erließen, Sozialprognosen für Straffällige erstellten und sonstige mit dem Strafvollzug zusammenhängende Sozialarbeit verrichteten – begründet mit der besseren Eignung von Frauen zum Umgang mit diesen Gruppen (Jugendliche und erwachsene Frauen) aufgrund spezifisch „weiblicher“ Eigenschaften wie Fürsorglichkeit und Mütterlichkeit und der Kritik an einem spezifisch „männlichen Blick“ auf „sittlich gefährdete“ Mädchen und Frauen –, wurde ebenfalls auf Betreiben von Feministinnen hin 1926/27 die Weibliche Kriminalpolizei eingerichtet, die – ähnlich zu der Frauen-Asayish in Rojava – überwiegend für „sittenpolizeiliche“ Aufgaben – etwa der Umgang mit Opfern sexualisierter Gewalt, Prostituierten und minderjährigen Straftätern – zuständig war. Dass Frauen keine „besseren“ Cops sind oder sonstwie die Zugehörigkeit zu einer solchen Gruppe nicht dazu führt, dass die Polizei auf einmal eine ganz andere Institution wird, wie teilweise die Forderungen danach, dass Betroffene von Diskriminierung o. ä. Polizeiaufgaben übernehmen sollen, suggerieren, zeigt nichts eindrucksvoller – auch wenn ich es eigentlich müßig finde, mir überhaupt die Mühe zu machen auf eine solch absurde Behauptung einzugehen – als die Rolle der WKP im Nationalsozialismus. Die WKP übernahm im nationalsozialistischen Deutschland rassepolitische Aufgaben, beteiligte sich an der sogenannten Bereitstellung von Judentransporten wie auch an der Errichtung nationalsozialistischer Jugendheime in überfallenen Gebieten. Die lesbische Kriminaldirektorin Friederike Wieking – in den 20er Jahren in der Berliner Frauenbewegung aktiv und ranghöchste Polizeibeamtin im Dritten Reich – trug dabei etwa ab 1941 die Verantwortung für das Jugendschutzlager Moringen und ab 1942 für das Mädchenlager Uckermark – beides KZs für Jugendliche und junge Erwachsene. Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb die WKP als Institution erhalten – Einstellungsvoraussetzung war vorher einen sozialen Beruf erlernt zu haben – und wurde in den 70er Jahren aufgelöst und in die Kriminalpolizei integriert. Beispiele wie die Asayish oder andere Sicherheitsinstitutionen solcher „revolutionärer und emanzipatorischer Befreiungsbewegungen“, die als ein völlig neues Konzept und eine reale bessere Alternative zur Polizei beworben werden, erinnern mich einfach nur daran, wie die Sowjetunion das Gulag als einen wertvollen Schritt propagierte, um dem Ziel näherzukommen Gefängnisse abzuschaffen und die Menschen durch Arbeit zum Sozialismus zu führen.

Auch gewisse Konzepte der abolitionistischen Bewegung, wie etwa Community Accountability oder Transformative Justice, werden als Alternativen zur Polizei diskutiert. Besonders im Trend liegt dabei die deutsche Variante der Community Accountability, die sogenannten „Awareness-Teams“. Auf vielen anarchistischen Veranstaltungen ist man auf einmal mit ihnen konfrontiert, während sie teilweise sogar uniformiert, etwa in rosa Hemdchen, Warnwesten oder mit lila oder sonstwie kennzeichnender Armbinde – mmh, vielleicht waren es auch Buttons gewesen – über das Gelände patrouillieren. Die Kritik, dass sie polizieren würden, wird meist damit abgeschmettert, dass ein Awareness-Team nicht genauso organisiert und strukturiert sei wie eine Polizei. Eine solche Betrachtungsweise ist allerdings oberflächlich und ignoriert die Ideen, die zur Einrichtung einer „Polizei“, wie wir sie heute kennen, geführt haben. Wenn wir das Polizieren als Handlungen verstehen, die dazu dienen das Verhalten der Menschen so weit unter Kontrolle zu bringen, dass bestenfalls nur noch erwünschtes Verhalten zutage trete, dann zeigt das gerne vorgebrachte Argument, dass Awareness-Teams noch so lange nötig seien, bis die Menschen endlich alle „reflektiert“ seien, bis es sich von selbst abschaffen würde, dass offenbar Awareness-Teams als Teil einer Infrastruktur gesehen werden, die auf das Ziel hinarbeitet alle Menschen zu „reflektieren“. Was anderes aber als das Verhalten von Individuen zu polizieren soll dieses „Menschen reflektieren“ bitte sein? Andere argumentieren, dass ein Awareness-Team nur dazu da sei, eine Ansprechstelle zu schaffen, doch damit bildet es immer noch einen Teil in der Infrastruktur zur Verhaltenskontrolle und wir wissen ja, wie eng „soziale“ und „Wohlfahrts“institutionen mit der Polizei verknüpft sind und auch die praktischen Umsetzungen solcher Awareness-Strukturen haben diese Verknüpfung bisher nur immer wieder bestätigt.

Nur weil ich etwas einen anderen Namen gebe und an den Methoden schraube, bedeutet das nicht, dass ich das, was ich vorgebe oder auch meine zu bekämpfen, tatsächlich zerstört habe. Und solange ich unbedingt einen Garten möchte anstatt eines Urwalds, werde ich ordnend eingreifen müssen, um diesen Garten zu erhalten. Deshalb sehe ich auch alle „anarchistischen“ Konzepte, die in irgendeiner Form eine Gesellschaft errichten wollen, als problematisch an, da sie immer mit dem Problem konfrontiert sein werden ihre Ordnung einführen, erhalten und verteidigen zu müssen. Den ungezähmt geborenen Menschen mithilfe von „Bildung“ zum reflektierten Menschen, der für die Anarchie bereit ist, zu erziehen, wie es einige „Transformationstheorien“ propagieren, bedeutet die Zähmung des wilden Individuums und seine Unterwerfung. Mir scheint es auch kein Wunder, dass insbesondere bei Verfechter·innen solcher „anarchistischen Utopien“ die Grenzen zwischen Basis- oder Rätedemokratie und ihrer angeblich anarchistischen „befreiten Gesellschaft“ nicht klar gezogen sind, ja teilweise auch als Synonyme oder zumindest nicht als Widerspruch zu den eigenen Ideen behandelt werden. Sowieso gibt es ja die Vertreter·innen des Anarchismus, die behaupten Anarchismus sei die „echte“ oder „radikale Demokratie“ im Gegensatz zu den heutigen kapitalistischen Demokratien, in der die Menschen sich endlich „selbst verwalten“ könnten. Doch was kann ich von einer auch radikalen Demokratie, die sich selbst verwaltet, schon erwarten als dass ich mich im Zweifel selbst poliziere, auch wenn ich nicht denke, dass es dabei bleiben wird, wenn ich mir so die Konzepte von „antifaschistischen Schutzgruppen“ („Für eine neue anarchistische Synthese!“) oder „basisdemokratisch aufgestellten Sicherheitsteams“ („Eine Welt ohne Polizei“), von Transformative Justice und Awareness-Teams so ansehe, die für im Hier und Jetzt als auch „nach der sozialen Revolution“ diskutiert werden.

Wer die Herrschaft hasst, kann die Polizei nicht „ersetzen“, sondern muss sie zerstören. Dafür muss man aber auch bereit sein die Kontrolle aufzugeben. Die Kontrolle über andere Menschen wie über andere Lebewesen. Wir brauchen den Mut im Urwald zu leben anstatt uns in unseren Garten zurückzuziehen. Das meine ich absolut wörtlich. Ein ungezähmtes, freies Leben kann es nur außerhalb von Mauern und Zäunen geben, außerhalb der Gesellschaft, außerhalb der Zivilisation stattfinden. Heißt das, Freiheit kann es nur als Einsiedler alleine in einer Höhle geben? Ich denke nicht. Jedoch können Beziehungen meiner Meinung nach nur herrschaftsfrei bleiben, solange sie direkt zueinander möglich sind und solange eine Gemeinschaft nicht über das Individuum gestellt wird. Aber heißt das denn, dass ich mir alles von anderen gefallen lassen muss? Gegenfrage: Lässt man sich nicht viel mehr gefallen, wenn man sich einer (Selbst-)Verwaltung und Gesetzen unterwirft, gebildet und mithilfe von Massenkommunikationsmitteln mit Propaganda bombardiert wird und mit einer Umgebung konfrontiert ist, die sich durch ihre „sichere Architektur“ auszeichnet und einer Ordnung zur besten Ausbeutung der sogenannten „natürlichen Ressourcen“? So wie ich mich gegen eine solche Einschränkung meiner Freiheit zur Wehr setze, kann ich doch auch meine Konflikte selbst klären, kann diejenigen bekämpfen, die meinen mich als Individuum in ihren Plänen übergehen oder zerstören zu können. Die Kontrolle anderer über mich allerdings damit bekämpfen zu wollen diese anderen zuerst zu kontrollieren, Freiheit dadurch garantieren zu wollen, dass ich die Freiheit aller einschränke, ist sicherlich keine Anarchie. Anarchie ist halt doch Chaos und eben nicht Ordnung, wie gewisse sich vor Kontrollverlust fürchtende Anarchist·innen immer versichern.

Angesichts einer solch verinnerlichten Sehnsucht nach Kontrolle über jegliches Leben und den sich immer weiter verfeinernden Technologien und Theorien zur immer weiteren Subtilisierung und Verinnerlichung dieser Kontrolle sieht es erstmal düster aus. Doch da eine vollständige Determinierung aller Handlungen eines Individuums auch bei allen Versuchen totalitärster Methoden an den Individuen selbst scheitern, die sich nicht auf Maschinen reduzieren lassen, wenn es auch noch so sehr versucht wird, kann auch das Netz der Kontrolle nie so engmaschig werden, dass kein Widerstand mehr zutage treten wird. Ein Garten bleibt nur durch die beständige Intervention des Gärtners ein Garten. Also lasst uns nicht den Garten übernehmen und selbstverwalten, sondern töten wir den Gärtner in unserem Kopf und ziehen mutig in die Wildnis. Denn wie es Helfrich Sturz bereits im 18. Jahrhundert erkannte:

der policierte mensch ist … nicht so zufrieden mit seinem zustande als der wilde.

Endnoten

[1] Historisch war der Abolitionismus eine Bewegung, die sich für die Abschaffung der Sklaverei einsetzte und war unter anderem in den USA sehr stark. Mit Abschaffung der Sklaverei kämpften Abolitionist·innen in den USA weiter gegen die Unterdrückung der Schwarzen. Ein Fokus liegt dabei auf der Kritik am Knast, denn dort wird die Sklaverei häufig durch Zwangsarbeit ohne oder gegen geringfügigsten Lohn fortgeführt, insbesondere an Schwarzen, die in den USA (nicht nur da) überproportional oft im Gefängnis sitzen.

[2] [UPDATE] ABC Wien hat die genannte Broschüre inzwischen von ihrer Webseite gelöscht.


Spannende Lektüren bei Entstehung dieses Textes
  • „What is Policing?“ in: The Master’s Tools: warfare and insurgent possibility
  • „Good cop bad cop“ in: Cop-out. The significance of Aufhebengate
  • „Policing on the Global Scale. On the Relationship Between Current Military Operations, Crowd Control Techniques, the Technologies of Surveillance and Control and Their Increasing Intrusion into our Daily Lives“
  • „Ich will Bullen töten, bis ich selbst sterbe. Für die Annihilation der Polizei und die Zerstörung der Menschheit“
  • „Nicht Freund, nicht Helfer – Feind!“ in: Yegussa
  • „I survived Awareness“
  • „The Continuing Appeal of Nationalism“
  • „Fragmentarische Notizen gegen die Justiz“
  • „Der Einzige und sein Eigentum“

Übernommen von Zündlumpen #083.

Beim Maschinenstürmer Distro ist dieser Text kürzlich auch als Broschüre erschienen.

Ziele, die nirgendwo anders existieren

Ein Gegenvorschlag zu den überall existierenden Zielen und eine weitere Kritik an der Militarisierung des anarchistischen Angriffs

Wer kennt es nicht? Da möchte man endlich einmal etwas reißen, möchte mit den eigenen Taten endlich die soziale Revolution vom Zaune brechen. Man zieht also des Nachts los, alleine, zu zweit oder mit einer ganzen Gang an Kompliz*innen … und wenn man am nächsten Morgen erwacht, da muss man feststellen, dass es doch wieder einmal nur des Bonzen- oder Yuppie-Nachbars Auto gewesen ist, an dem man sich da vergangen hat, ja dass die sichtbaren Spuren der Tat bereits von der Stadtreinigung zusammengefegt wurden, vielleicht begegnet man sogar dem Nachbar selbst, der einen aus dem offenen Verdeck seines Zweit- oder Drittwagens freudig begrüßt, bevor er aufbricht, sich ein neues, schickeres Auto zuzulegen. Na gut, es ist vielleicht oft weniger der Bonzen-Nachbar, dessen Auto es erwischt und selbst wenn, so gibt es doch in der Regel wesentlich mehr Anlass zur Genugtuung, weil die Stadtreinigung mit einem ausgebrannten Autowrack doch etwas mehr überfordert ist und sich selbst die reichsten Bonzen doch ein klein wenig darüber ärgern, ja manchmal sogar ein klein wenig ängstigen, dass da jemand ihr Auto angezündet hat. Meist sind es ja eher die Autos irgendwelcher großen Konzerne, die global oder lokal an Gentrifizierung, Gefängnisbau, Kriegs-, Lager-, Grenz- und Abschiebeindustrie und manchmal auch am Ausbau des smarten, technologischen Gefängnis, in dem wir alle uns befinden, beteiligt sind. Und natürlich macht auch mein Herz einen Freudensprung wann immer ich ein ausgebranntes, geplättetes, bemaltes oder anderweitig demoliertes Fahrzeug dieser Art am Wegesrand erspähe, ja sogar wenn ich in einer anarchistischen Zeitung/Broschüre von einem nahen oder fernen Ort davon lese und manchmal sogar wenn ich in den noch nicht völlig belanglosen Weiten des Internets von einem solchen Ereignis erfahre. Und doch: Wenn ich den Vorschlag vernehme, “endlich die Grenzen des symbolischen Widerstands hin zu einem materiellen Schaden an der feindlichen Infrastruktur” zu überschreiten und diese Willensbekundung in diesem Kontext durch aufgelistete Brandanschläge gegen vor allem Fahrzeuge entsprechender Unternehmen als Beispiele eines praktischen Ausdrucks dieses Vorschlags (zu finden in der Broschüre “Targets that exist everywhere – a strategic proposal for building a common front against the profiteers of war and repression”) untermauert wird, dann beschleichen mich doch erhebliche Zweifel, inwiefern das erklärte Ziel auf diesem Weg überhaupt erreicht werden kann.

Tatsächlich habe ich mich schon oft gefragt, inwiefern bestimmte, immer wiederkehrende Angriffsziele – und dazu gehören die Firmenfahrzeuge der diversen Firmen, die als überall existierende Ziele ausgemacht werden, allemal – nicht vielmehr dazu beitragen, die Angriffe auf die Herrschaft zu ritualisieren, d.h. vor allem sie zu einer symbolischen Handlung werden zu lassen, die zwar vielleicht eine gewisse Wut, ein Nichteinverständnis, usw. auf eine relativ unvereinbare Weise auszudrücken vermag, die jedoch weit davon entfernt ist, materiellen Schaden von Bedeutung zu verursachen und die damit in gewissem Grad auch kalkulierbar, vorhersehbar, kompensierbar wird. Das bedeutet nicht, dass ein solcher Angriff keinen Wert hätte. Er kann einer*m selbst die Handlungsmacht oder, vielleicht auch nur eine andere Bezeichnung dafür, die eigene Würde wiedergeben, er kann andere ermutigen, er kann die richtigen Personen einschüchtern, verunsichern und zum Nachdenken anregen. Er kann sowohl den Unterdrückten, als auch den Herrschenden vor Augen führen, dass Akte des Angriffs immer möglich sind, egal wie kontrolliert und geordnet ein bestimmter Raum auch sein mag und es kann sich um eine Tat der Genugtuung, der Rache handeln. All das hat seinen Wert, all das kann in bestimmten Situationen sogar ein gigantisches Potential entfachen oder anstacheln, das in Aufständen und Revolten münden kann, selbst wenn sich das nur sehr selten vorhersagen lässt. Und doch ist ein brennender Transporter einer Knastbaugesellschaft, eines Logistikunternehmens, eines Fahrzeughändlers, eines Technologieunternehmens, usw., so sehr er auch Symbol für bestimmte Kämpfe sein mag, nur selten mehr als das, vermag nur selten die Abläufe so empfindlich zu stören, die Infrastruktur so gewaltig zu treffen, dass dadurch ein nennenswertes Aufbruchmoment entstünde oder auch nur entstehen könnte, dass die Logistik der Herrschaft entscheidend genug gestört wäre, Produktionshallen stillstehen, Baustellen nicht weiter voranschreiten und die Nachschublieferungen an die Frontlinien des Krieges und der Repression ausbleiben würden. So viel Realismus muss nun einmal sein, will man sich nicht in einer selbstreferenziellen, ideologisierten und ritualisierten Praxis verlieren.

Wo bleibt die Kreativität bei der Identifikation lohnenswerter Ziele, fragt man sich, wenn man die Seiten der “Targets that exist everywhere”-Broschüre durchblättert? Die Antwort scheint eine ansonsten unauffällige Bemerkung zu Beginn des Vorschlags zu liefern: “Es sollte uns nicht genügen, […] jedes Mal aufs neue nach passenden Solidaritäts-Aktionen zu suchen, sondern wir schlagen vor, die Informationen über die Feinde der Freiheit zu sammeln und diese so zu verbreiten, dass diese überall bekannt werden.” Aber warum sollten wir nicht stets aufs neue überlegen, wo wir mit unseren Angriffen ansetzen könnten? Einfach nur immer mehr derselben Ziele anzugreifen, mit den immer gleichen Methoden zudem, erscheint mir ein quantitatives Argument zu sein, das zudem außer Acht lässt, dass dies – auch wenn die Verfasser*innen der Broschüre das zu übersehen scheinen – eine in den vergangenen Jahrzehnten anhaltend ebenso wie relativ flächendeckend reproduzierte Strategie ist, die sich quantitativ ohnehin nur schwerlich steigern ließe und die zudem auch bisher nicht wirklich zum Zusammenbruch der Herrschaft führte. Dass etwa Firmen bestimmte Regionen meiden, weil sie dort angegriffen werden, mag auf den ersten Blick wie ein Erfolg wirken (und ist es ja auch, nur eben nicht in einem absoluten Sinne), allerdings bedeutet das auch, dass diese Firmen dann eben ihre Standorte anderswo aufschlagen, wo sie relativ unbehelligt bleiben. Der Herrschaft selbst hat das selbst in den ursprünglich gemiedenen Regionen nur mäßig geschadet. Es geht mir nicht darum, die Erfolge dieser Strategie(en) klein zu reden, nur möchte ich mich dagegen erwehren, dass eine solche Strategie an die Stelle des eigentlichen Ziels, das mit ihr erreicht werden soll, tritt. Obwohl etwa LKWs von DB Schenker immer wieder in Flammen aufgehen, transportiert das Unternehmen weiterhin mit Erfolg Rüstungsgüter und andere Produkte. Wenn denn nur mehr dieser LKWs brennen würden, mag manch eine*r da nun schwelgen und darauf warten, dass andere sich an dieser Kampagne beteiligen. Ein*e andere*r dagegen mag losziehen und sich die Gütergleise ansehen, wie sie durch ganz Europa verlaufen, mag mal hier, mal dort ausprobieren, welchen Effekt Feuer auf Signalanlagen und Weichen hat, mag sich Möglichkeiten überlegen, Gleise zu blockieren, Kabel zu durchtrennen, usw., während wieder ein*e andere*r herausfinden mag, wie man die für die Rüstungsindustrie relevanten Lieferungen des Konzerns identifiziert und dann ganz gezielt unschädlich macht. Ein*e Dritte*r, die in einer Region lebt, in der DB Schenker seine LKW warten lässt könnte dagegen herausgefunden haben, wie dieses eine Werkstor sabotiert werden kann, so dass die LKW nach ihrer Wartung einen Tag lang nicht wieder vom Parkplatz der Werkstatt fahren können. Sekundenkleber im Schloss könnte das vollbracht haben, was anderswo Buttersäure in der Gebäudelüftung bewirkt haben mag: für eine Stunde, einen Tag oder mehr stillstehende Produktionshallen und Werkstätten. Es sind naturgemäß nur wenige, sehr grob ausgearbeitete Ideen, die ich hier präsentieren kann und will, aber ich denke dass dabei eines klar werden dürfte: Das kreative Potential weniger Individuen, die auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten und sich dabei nicht einer schon im Voraus und nach irgendwelchen Kriterien der “Krassheit” bestimmten Methodik verschreiben, kann einen sehr viel wirksameren Einfluss haben, als der Aufruf jener nach den selben Kriterien bemessenen, “krassen” Superbrandstifter*innen, die verzweifelt darauf hoffen, dass mehr und mehr Menschen eine von ihnen praktizierte und zum Ideal erhobene Methode nachahmen, weil sie alleine dadurch effizient in ihrem Sinne wird.[1] Wobei natürlich nichts dagegen spricht, Erkenntnisse zusammenzutragen, Wissen über Lieferketten, Schwachstellen, Methoden und weiteres zu kommunizieren. Aber es ist ja nicht so, dass man dazu immer ein Communiqué schreiben müsste … Auch ohne solche Communiqués lässt sich Inspiration aus den in sowohl anarchistischen Zeitungen wie auch auf diversen Blogs im Internet dokumentierten Angriffen gegen die Infrastruktur der Herrschaft ziehen, ja auch ohne Communiqués beziehen sich Angriffe und Kämpfe aufeinander in dem, was sie zu ihrem Ziel wählen, wie und wann sie durchgeführt werden, usw. usw.

Ziele, die überall existieren … Nun, sicher ist es praktisch, mal eben ein paar Fahrzeuge der Technologie-Multis und der Profiteur*innen von Knast und Krieg in der eigenen Nachbarschaft abzufackeln, wo sie unbewacht herumstehen. Und ich möchte sicher nicht dafür plädieren, das bleiben zu lassen. Aber wenn wir davon sprechen, wie wir von symbolischen Angriffen übergehen können zu einer Praxis, die unserem Feind materiellen Schaden zufügt, dann scheinen mir diese überall existierenden Ziele so ziemlich das Gegenteil zu verkörpern: Sind nicht gerade sie symbolische Interventionen? Der Unterschied zwischen materiellem Schaden und symbolischer Intervention, er besteht schließlich in aller Regel nicht im verursachten Sachschaden. Auch wenn es natürlich Ausnahmen gibt. Vielmehr ist doch die Frage, ob es einem Angriff gelingt, die Herrschaft für eine Weile lahmzulegen. Und darin muss der Ansatz der überall existierenden Ziele letztlich scheitern … zumindest wenn man davon ausgeht, dass er sich nicht massenhaft reproduzieren wird – was die Erfahrung zweifelslos zeigt. Denn mit den Fahrzeugen einer handvoll Unternehmen, zielen wir in der Logistik derselben vor allem auf einzelne Techniker*innen, die zudem oft bloß ein klein wenig in ihrer Mobilität – denn ein Ersatzauto lässt sich, zumindest wenn es sein muss, heute schnell auftreiben – beschnitten werden. Selbst die wenigen Materialien und Werkzeuge, die in den Fahrzeugen gelagert sind, lassen sich in der Regel schnell ersetzen. Es mag hier natürlich Ausnahmen geben, etwa wenn aufwändig ausgerüstete Spezialfahrzeuge getroffen werden oder Baugerät wie Bagger, Kräne, usw., wo Ersatz nicht einfach beim nächsten Autoverleih beordert werden kann, sondern erst einmal herangeschafft werden muss, aber auch wenn auch dieses Gerät vielleicht weit verbreitet sein mag, bewegen wir uns hier wenigstens vom Ansatz her bereits von den überall existierenden Zielen weg, denn es ist ja gerade die Nicht-Omnipräsenz dieser Ziele, die man sich hier zunutze macht. Um fair zu sein: In der Broschüre “Targets that exist everywhere” mangelt es an solchen Beispielen nicht. So wird etwa der Angriff auf einen Kran auf der Baustelle des geplanten Amazon-Logistikzentrums in Achim bei Bremen ebenso aufgezählt, wie der Angriff auf die gesamte Baufahrzeugflotte des Eurovia-Konzerns in Limoges, sowie einige weitere Angriffe auf schwer zu ersetzende Fahrzeugflotten. Und doch scheint es vor allem eine Sammlung an einzelnen Fahrzeugbrandstiftungen zu sein, eben “überall existierende Ziele”, die uns die Broschüre präsentiert und vorschlagen will.

Aber was wenn man die Devise einmal umkehrt? Wie wäre es, wenn statt Zielen, die überall existieren einmal Ziele, die nirgendwo sonst existieren in den Mittelpunkt gerückt werden würden? Denn die Herrschaft durchdringt den Raum weder gleichmäßig, noch gleichförmig. Jede ihrer Infrastrukturen besitzt Knotenpunkte, die von besonders zentraler Bedeutung sind, während die einen Territorien stärker von dieser und die anderen stärker von jener Infrastruktur geprägt sind. Global gesehen lassen sich etwa die Hightech-Metropolen mit ihrer Forschungs-, Finanz-, Rüstungs- und Hightechproduktionsinfrastruktur von der vielmehr extraktivistisch und landwirtschaftlich ausgebeuteten Peripherie unterscheiden. Und selbst innerhalb der kapitalistischen Metropolregionen, von denen die “Überall existierenden Ziele” vorrangig zu handeln scheinen, offenbaren sich bei einem genaueren Blick ganz unterschiedliche infrastrukturelle Schwerpunkte. Während die eine Region geprägt ist, vom Braunkohleabbau und der Energiegewinnung daraus, sitzt anderswo vor allem die Computer-Hightechbranche und wieder anderswo hat die Biotechnologiebranche ihre Zelte aufgeschlagen, während Automobilindustrie und Chemiekonzerne seit beinhe einem ganzen Jahrhundert ganze Städte und Regionen nach ihren Bedürfnissen geordnet haben, Hafenstädte wichtige Handelsmetropolen bilden und manchmal einzelne Militärstandorte und sogar einzelne Funkmasten von internationaler (militärischer) Bedeutung sind. Inmitten dieses Geflechts lassen sich ganz unterschiedliche, oft einzigartige Angriffspunkte identifizieren, die der Herrschaft sehr viel mehr materiellen Schaden zuzufügen vermögen, als das die Brandstiftung an den Fahrzeugen mit den immer gleichen Aufschriften vielleicht vermag. Es mag vielleicht einen gewissen Aufwand bedeuten, sie zu identifizieren, manchmal mögen sie besser, manchmal vielleicht auch schlechter geschützt sein, als die überall existierenden Ziele, und man mag gezwungen sein, der individuellen Kreativität freien Lauf zu lassen, bei der Identifikation und Zerstörung dieser Ziele. Nichtsdestotrotz oder gerade deswegen denke ich, dass diese Ziele möglicherweise den interessanteren Ansatzpunkt im Kampf gegen die Herrschaft liefern mögen. Nicht zuletzt, weil ihnen letztlich auch eine präzisere Analyse über die Funktionsweise der Herrschaft zugrunde liegt, als das abstrakte Schreckgespenst von global tätigen Unternehmen, Polizeien und Armeen, die einfach überall gleichermaßen latent vorhanden zu sein scheinen.

Die Broschüre “Targets that exist everywhere” schließlich, endet mit einem Aufruf zur Bildung eines “Netzwerks der Revolutionären Gewalt”, einem weiteren Vorschlag, jede Individualität des anarchistischen Angriffs aufzugeben und sich humorlos, verbissen und selbstdisziplinierend unter der Fahne einer weiteren revolutionären Organisation, den “Direct Action Cells” zu versammeln. Mit anderen Worten: Einmal mehr der Vorschlag, den anarchistischen Angriff zu militarisieren.

Es fällt mir schwer, derartige Vorschläge, gerade wenn sie so unverblümt mit Zitaten autoritärer Organisationen – deren Vorbild sie immerhin folgen – eingeleitet werden, überhaupt als antiautoritär anzuerkennen. Und ich kann nicht umhin, in diesem Vorschlag eben jene Verbissenheit wiederzuerkennen, die ich auch in dem zweifellos quantitativen Versuch von den überall existierenden Zielen zu erkennen glaube. Weil dieser Vorschlag eben nur dann erfolgreich sein kann, wenn sich ihm die Massen anschließen, verfällt man schließlich in eine avantgardistische Position, aus der heraus man einen Großteil seiner Energie darauf verschwendet, anderen zu sagen, was sie gefälligst tun sollen und ihnen, tun sie das nicht – oder nicht in der verlangten Form –, die Ernsthaftigkeit ihrer anarchistischen Ideen abzusprechen. Weil man sich selbst entschieden hat, mit dem Kopf durch die Wand brechen zu wollen, weil man sich selbst entschieden hat, die eigene Individualität, die Einzigartigkeit des eigenen Kontexts und möglicherweise auch den Spaß eines gegen die Herrschaft gelebten Lebens aufzugeben und fortan einer langweiligen, einheitlichen Organisation (“Unity”, dt. Einheit ist neben “Organisation” und “Krieg” eine der Parolen der Direct Action Cells) anzugehören, bleibt einem selbst nichts weiter vorzuschlagen, als dass andere dasselbe täten, also ebenfalls ihrer Individualität und den einzigartigen Kontexten, in denen sie sich bewegen, den Rücken zu kehren und fortan die Flagge der Direct Action Cells zu schwingen.

Aber welche Möglichkeiten eröffnet das wirklich? Sind wir – und wer ist dieses wir überhaupt – tatsächlich stärker, nur weil wir uns unter einer Flagge vereinen? Dass ich nicht der Meinung bin, dass der anarchistische Angriff durch die Verengung seines Fokus auf überall existierende Ziele einen strategischen Zugewinn erfährt, das habe ich bereits ausgeführt. Es ist unschwer zu erraten, was ich davon halten mag, unter einer Flagge vereint, ja überhaupt unter irgendeiner Flagge, zu kämpfen. Ich halte es nicht für einen Zufall, dass auch dieser konkrete Vorschlag dem Vorbild autoritärer kommunistischer Organisationen folgt. Und dies ist letztlich auch der einzige Wert – bzw. für mich ist es vielmehr kein Wert –, den dieser Vorschlag zu schaffen vermag: Einheitlichkeit. Aber was haben Anarchist*innen von Einheitlichkeit, Treue zu einer Fahne, Verbissenheit und Pflichterfüllung? Richtig: Nichts. Es ist vielmehr die Aufgabe des anarchistischen Projekts. Denn der anarchistische Angriff, er lässt sich nicht militarisieren!


[1]Ich möchte hier vielleicht anmerken, dass es nicht meine Absicht ist, spektakuläre Brandstifungen oder andere spektakuläre – oder sagen wir vielleicht lieber gewaltige – Angriffe abzuwerten und sicher habe auch ich eine Art Fetisch, solche Angriffe intuitiv ein klein wenig zu überhöhen. Mir geht es vielmehr darum, diesen Fetisch oder neutraler ausgedrückt, diese Faszination, nicht zu einem Ideal werden zu lassen, darum, zurückzutreten und hier und da einen genaueren Blick auf Angriffe zu werfen und dabei weder zu vergessen, dass auch Angriffe die nicht diese gewaltige, spektakuläre Form annehmen, sehr effizient sein können – etwa weil sie stattdessen genau die richtige Stelle treffen, um auf eine sehr unspektakuläre Weise die Produktion lahmzulegen –, genausowenig wie die Tatsache, dass es nicht jeder*m immer möglich ist und nicht jede*r immer bereit ist, so viel aufs Spiel zu setzen oder so viel Aufwand zu betreiben, wie es die meisten dieser spektakuläreren Angriffe erfordern.

Zehn Thesen zur Ausbreitung des Egokraten

I

Der Egokrat – Mao, Stalin, Hitler, Kim Il Sung – ist kein Unfall oder eine Anomalie oder ein Hervorbrechen der Irrationalität; er ist eine Personifizierung der Beziehungen der existierenden sozialen Ordnung.

II

Der Egokrat ist zunächst ein Individuum, wie jede*r andere: Ohne Stimme und machtlos in dieser Gesellschaft, ohne Gemeinschaft oder Kommunikation, dem Spektakel geopfert, “der ununterbrochene Diskurs der bestehenden Ordnung über sich selbst, seine Selbstlobrede, das Selbstporträt der Macht in der Epoche ihrer totalitären Kontrolle der Bedingungen des Seins.” (Debord) Vom Spektakel zurückgeweisen, strebt er nach “dem befreiten menschlichen Wesen, einem Wesen, das zugleich ein soziales Wesen ist, sowie ein Gemeinwesen.” (Camatte) Wenn sich seine Sehnsucht in der Praxis ausdrückt: an seinem Arbeitsplatz, auf der Straße, wo auch immer das Spektakel ihm seine Menschlichkeit raubt, dann wird er zum Rebellen.

III

Der Egokrat drückt in der Praxis nicht seine Sehnsucht nach Gemeinschaft und Kommunikation aus; er verwandelt sie in einen Gedanken. Mit diesem Gedanken bewaffnet ist er noch immer ohne Stimme und machtlos, aber er ist nicht länger wie jede*r andere: Er ist Selbstbewusst, er besitzt den Plan. Um seine Andersartigkeit zu bestätigen, um sicherzugehen, dass er sich nicht selbst betrügt, muss er von anderen als anders betrachtet werden – von jenen anderen, die bestätigen, dass er wahrhaft im Besitz des Plans ist.

IV

Der Egokrat findet “Gemeinschaft” und “Kommunikation” nicht dadurch, dass er die Elemente des Spektakels in seiner Reichweite zerstört, sondern indem er sich selbst mit ähnlich gesinnten Individuen umgibt, anderen Egos, die den Goldenen Plan einander widerspiegeln und einander ihr Recht als Besizer dieses Plans beteuern. Auserwählte. An diesem Punkt muss der Plan, wenn er gülden bleiben soll, immerfort der gleiche bleiben: unbefleckt und unkompromittiert; Kritik und Korrekturen sind Synonyme für Verrat, “folglich kann er nur als eine Kampfschrift über die Realität existieren. Er fechtet alles an. Er kann nur dadurch überleben, dass er einfriert, indem er zunehmend totalitär wird.” (Camatte) Um also den Plan widerzuspiegeln und zu bestätigen muss das Individuum aufhören zu denken.

V

Das ursprüngliche Ziel, der “befreite Mensch” wird an die Praxis verloren, wenn es dem Selbstbewusstsein des Egokraten untergeordnet wird, denn “Selbstbewusstsein wird selbst zum Ziel und verdinglicht sich in einer Organisation, die darin besteht, das Ziel zu personifizieren.” (Camatte) Die Gruppe gegenseitiger Bewunderer benötigt ein Programm und einen Treffpunkt; sie wird zu einer Institution. Die Organisation, die die Form einer bolschewistischen oder nazi-Zelle, eines sozialistischen Lesekreises oder einer anarchistischen Affinitätsgruppe annimmt, je nach lokalen Gegebenheiten und individuellen Vorlieben, “schafft ein günstiges Klima für informelle Herrschaft von Propagandisten und Verteidigern ihrer Ideologie, Spezialisten, die im allgemeinen umso mittelmäßiger sind, je mehr ihre intellektuelle Aktivität in der Widerholung bestimmter endgültiger Wahrheiten besteht. Ideologischer Respekt für einstimmige Entscheidungen ist insgesamt vorteilhaft für unkontrollierte Macht innerhalb der Organisation selbst, einer aus Spezialisten für die Freiheit” (schrieb Debord über anarchistische Organisationen). Indem es das herrschende Spektakel ideologisch ablehnt, reproduziert die Organisation aus Spezialisten für die Freiheit die Beziehungen des Spektakels in ihrer internen Praxis.

VI

Die den Plan verkörpernde Organisation wendet sich an die Welt, weil “das Projekt dieses Selbstbewusstseins darin besteht, die Realität in ihrem Konzept einzuschließen.” (Camatte) Die Gruppe wird militant. Sie zieht aus, um die internen Beziehungen der Organisation auf die Gesellschaft auszuweiten, wobei eine Variante dessen wie folgt beschrieben werden kann: “Innerhalb der Partei darf keiner zögern, wenn der Befehl der Führung erteilt wird, ‘vorwärts zu marschieren’, niemand darf sich nach rechts drehen, wenn der Befehl ‘links’ lautet.” (ein revolutionärer Anführer, zitiert nach M. Velli.) An diesem Punkt ist der spezifische Gehalt des Plans für die Praxis ebenso irrelevant wie die Geografie des christlichen Paradieses, weil das Ziel auf einen Totschläger reduziert wurde: Es dient als Rechtfertigung für die repressiven Praktiken der Gruppe und als ein Instrument der Erpressung. (Beispiele: “Von der sozialistischen Ideologie auch nur geringfügig abzuweichen, bedeutet die bourgeoise Ideologie zu stärken.” Lenin, zitiert nach M. Velli; “Wenn ‘Libertäre’ andere verleumderisch niedermachen, dann stelle ich ihre Reife und ihre Hingabe an den revolutionären sozialen Wandel in Frage”, ein “Anarchist” in einem Brief an The Fifth Estate.)

VII

Die militante Organisation wächst mithilfe von Konvertierungen und Manipulationen. Konvertierung ist die bevorzugte Technik des frühen Bolschewismus und des missionarischen Anarchismus: Die explizite Aufgabe der Kämpfer ist es der arbeitenden Klasse Selbsbewusstsein einzuflösen (Lenin), “arbeitende Menschen mit unseren Ideen zu erreichen” (ein “Anarchist” in “The Red Menace” [dt. “Die Rote Bedrohung”] Toronto). Aber die implizite Aufgabe und das praktische Resultat seiner Tätigkeit besteht darin, die Praxis der Arbeiter zu beeinflussen, nicht ihr Denken. Die Konvertierung ist erfolgreich, wenn die Arbeiter, egal was ihre Ideen sind, Beiträge an die Organisation zahlen und den Aufrufen der Organisation gehorchen (Streiks, Demonstrationen, etc.). Das implizite Ziel des Egokraten besteht darin, seine Hegemonie (und die seiner Organisation) über eine große Anzahl von Individuen zu errichten, der Anführer einer Masse an Gefolgsleuten zu werden. Dieses implizite Ziel wird auf zynische Weise zu einem expliziten, wenn es sich bei den Kämpfern um Nazis oder Stalinisten (oder eine Mischung aus beiden, wie bei der US Arbeiterpartei) handelt. Konvertierung weicht der Manipulation, die unverblühmt lügt. In diesem Modell ist die Rekrutierung von Anhängern das explizite Ziel und die Idee nicht länger ein Fixstern, perfekt und unveränderlich; die Idee wird zu einem bloßen Mittel für das explizite Ziel; was immer die meisten Anhänger*innen rekrutiert, ist eine gute Idee; die Idee wird zu einer zynisch konstruierten Collage basierend auf den Ängsten und Ressentiments potentieller Anhänger; ihr hauptsächliches Versprechen ist die Vernichtung von Sündenböcken: “Konterrevolutionäre”, “Anarchisten”, “CIA Agenten”, “Juden”, etc. Der Unterschied zwischen Manipulatoren und Missionaren ist ein theoretischer; in der Praxis sind sie Konkurrenten auf dem gleichen sozialen Millieu und sie bedienen sich der Techniken des jeweils anderen.

VIII

Um die Idee auszustrahlen, also um zu konvertieren oder zu manipulieren, benötigt der Egokrat Instrumente, Medien, und es sind genau solche Medien, die ihm die Gesellschaft des Spektakels im Überfluss zur Verfügung stellt. Eine Rechtfertigung sich dieser Medien zu bedienen lautet wie folgt: “Die Medien sind derzeit ein Monopol der herrschenden Klassen, die diese zu ihrem eigenen Nutzen zweckentfremden. Aber ihre Struktur bleibt ‘grundsätzlich egalitär’, und es ist die Aufgabe der revolutionären Praxis, dieses Potential, das sie bieten, das aber von der kapitalistischen Herrschaft pervertiert wird, hervorzuholen. In einem Wort: sie zu befreien …” (eine Position, die von Baudrillard paraphrasiert wird.) Die Ursprüngliche Ablehnung des Spektakels, die Sehnsucht nach Gemeinschaft und Kommunikation wurde durch die Sehnsucht ersetzt, Macht über genau die Instrumente auszuüben, die Gemeinschaft und Kommunikation auslöschen. Bedenken oder ein plötzlicher Ausbruch von Kritik werden durch organisatorische Erpressung ausgeschlossen: “Die Leninisten werden gewinnen, außer wir akzeptieren selbst die Verantwortung zu kämpfen, um zu gewinnen…,” (“The Red Menace.” Ein Stalinist würde sagen, “Die Trotzkisten werden gewinnen …”, etc.) Von diesem Punkt an, lässt sich alles machen; alle Mittel sind richtig, wenn sie zum Ziel führen; und an der absurden äußersten Grenze wird sogar Werbung, die Aktivität und Sprache des Kapitals selbst, zu einem gerechtfertigten revolutionären Mittel: “Wir konzentrieren uns vor allem auf Distribution und Reklame … Unsere Werbearbeit ist breit gefächert und teuer. Sie beinhaltet überregionale Anzeigen, Werbesendungen, Kataloge, Tischaufsteller im ganzen Land, etc. All das kostet eine enorme Menge Geld und Energie, die von den Einnahmen gedeckt wird, die mit dem Verkauf von Büchern gemacht werden.” (Ein “anarchistischer Geschäftsmann” in einem Brief an The Fifth Estate.) Ist dieser anarchistische Geschäftsmann ein groteskes Beispiel, weil es so lächerlich übertrieben ist, oder befindet er sich vollkommen innerhalb der orthodoxen Tradition organisierten Kampfes? “Das Hauptinstrument, das wir benötigen, um den Sozialismus einzuführen ist der ‘Staatsapparat’, den wir fertig vom Kapitalismus übernehmen; unsere Aufgabe dabei besteht darin, bloß das abzuhacken, was diesen exzellenten Apparat kapitalistisch verstümmelt, um ihn noch gewaltiger, selbst demokratischer, selbst allumfassender zu machen …” (Lenin, zitiert nach M. Velli.)

IX

Für den Egokraten sind die Medien bloße Mittel; das Ziel ist Hegemonie, Macht und die Kontrolle über die Geheimpolizei. “Als unsichtbare Piloten im Zentrum des volkstümlichen Sturms müssen wir ihn nicht mit einer sichtbaren Macht lenken, sondern mit der kollektiven Diktatur aller Verbündeten. Eine Diktatur ohne Abzeichen, ohne Namen, ohne offizielle Befugnisse, und doch eine umso mächtigere, weil sie keine der Erscheinungsformen der Macht besitzt.” (Bakunin, zitiert nach Debord) Die kollektive Diktatur aller wird schnell zur Herrschaft des einzigen Egokraten weil “wenn all die Bürokraten zusammen alles entscheiden, der Zusammenhalt ihrer eigenen Klasse nur durch die Konzentration ihrer terroristischen Macht in einer einzigen Person sichergestellt werden kann.” (Debord) Mit dem Erfolg des Unterfangens des Egokraten, der Errichtung der “Diktatur ohne offzielle Befugnisse”, ist Kommunikation nicht nur auf einer sozialen Ebene ausbleibend; jeder lokale Versuch wird von der Polizei absichtlich liquidiert. Diese Situation ist keine “Entstellung” der ursprünglichen, “reinen Absichten” der Organisation; sie ist bereits in den Mitteln angelegt, den “grundsätzlich egalitären” Instrumenten, die für ihren Sieg genutzt werden. “Was die Massenmedien ausmacht ist die Tatsache, dass sie Anti-Vermittler, Intransitive sind, die Tatsache, dass sie nicht-Kommunikation erzeugen … Fernsehen ist alleine durch seine Präsenz eine soziale Kontrolle im Zuhause. Es ist nicht notwendig, sich diese Kontrolle als das Periskop des Regimes vorzustellen, mit dem das Privatleben von jedem ausspioniert wird, da das Fernsehen bereits besser als das ist: Es stellt sicher, dass die Menschen nicht länger miteinander reden, dass sie definitiv isoliert sind, angesichts der Aussagen ohne Antworten.” (Baudrillard)

X

Das Projekt des Egokraten ist überflüssig. Die kapitalistischen Medien der Produktion und Kommunikation reduzieren die Menschen bereits zu stimmlosen und machtlosen Zuschauern, passiven Opfern, die beständig den “Eigenlobreden” der herrschenden Ordnung unterworfen sind. Die antiautoritäre Revolution erfordert nicht ein anderes Medium, sondern die Vernichtung aller Medien, “die Vernichtung ihrer gesamten derzeitigen Struktur, sowohl funktional, als auch technisch, ihrer Betriebsform sozusagen, die überall ihre soziale Form widerspiegelt. Schließlich ist es offensichtlich das bloße Konzept von Medium, das verschwindet und verschwinden muss: das ausgetauschte Wort, wechselseitiger und symbolischer Austausch, negieren die Vorstellung und Funktion des Mediums, der Vermittlung … Wechselseitigkeit entsteht durch die Zerstörung des Mediums.” (Baudrillard)

1977

Referenzen

Jean Baudrillard , Pour une critique de l‘ economie politique du signe (Paris , Gallimard , 1972)

Jacques Camatte , The Wandering of Humanity (Detroit , Black & Red , 1975)

Guy Debord , Society of the Spectacle (Detroit , Black & Red , 1970; 1977)

Claude Lefort , Un Homme e n Trap : Reflexions sur „L ‚Archipel de Goulag,“ Paris , Seuil , 1976

Michael Velli , Manual for Revolutionary Leaders (Detroit , Black & Red , 1972)


Übersetzung aus dem Englischen. Fredy Perlman. “The Theses on the Proliferation of the Egocrat” (1977) in Anything Can Happen.

Die Zerstörung des individuellen und kollektiven Heilwissens und der Aufstieg der Medizin

Die Medizin ist heute eine der anerkanntesten und unhinterfragtesten Institutionen überhaupt. Sie gilt als Wissenschaft des Heilens und genießt den Ruf im Dienste des Menschen zu stehen. Wer ein Haus der Medizin aufsucht, die*der verspricht sich davon die Heilung oder Prävention einer Krankheit oder Verletzung und in vielen Fällen scheint die Medizin dieses Versprechen tatsächlich mehr oder weniger gut einzulösen. Doch die Medizin hat ihre Schattenseite: Gierig stiehlt sie ihr Wissen von Gemeinschaften, entlockt den Körpern von Menschen und Tieren durch brutale und skrupellose Folter die Geheimnisse des Lebens. Und ist dieses Wissen erst einmal in der Kathedrale der Medizin zusammengetragen, so wird es dort von deren Hohepriestern geizig behütet, damit es ja nicht in die Hände eines Ungeweihten falle. Denn die größte Angst der Medizin ist es, dass die Menschen ihre Gesundheit in die eigenen Hände nähmen. Denn dann blieben ihre Kathedralen leer.

Schon der „Eid des Hippokrates“, sozusagen der Stammvater der Medizin, schließt aus, dass Ärzt*innen ihr Wissen an Unbefugte weitergeben. Das ist zwar nichts Außergewöhnliches, immerhin wird man entsprechende Gelöbnisse für beinahe jede Zunft finden, wenn man nur sucht, und doch wird man heute nicht viele Berufe finden, die so exklusiv sind wie der des Arztes. In vielen Ländern werden Ärzte vom Staat zugelassen, doch bevor das beispielsweise in Deutschland überhaupt zur Debatte steht, müssen werdende Ärztinnen ein Medizinstudium absolvieren. Und dazu muss man erst einmal zugelassen werden. Die Studienplatzvergabe ist für die Bundesrepublik zentralisiert, wer keine Bestnoten (in der Regel einen Abiturschnitt von 1,0 bis 1,1) vorweisen kann, wird abgewiesen. Im Ausland studieren und damit das strenge Auswahlverfahren umgehen, können sich nur Reiche leisten – Kinder von Ärzt*innen beispielsweise. Und nicht nur der Zugang zur Ausbildung als Ärztin bleibt den allermeisten Menschen verwehrt, auch das Wissen um Medikamente gehört zu den bestgehüteten Geheimnissen. Kein Wunder. Im Jahr 2018 erwirtschafteten Pharmaunternehmen durch den Verkauf von Medikamenten weltweit rund 1,2 Billionen US-Dollar. Die Medizin „im Dienste der Menschheit“? Dass ich nicht lache!

Dabei ist eine Institution wie die Medizin, die über fast das gesamte Heilwissen einer Zivilisation verfügt, keine Naturgegebenheit. Erst die organisierte Zerstörung des Heilwissens der Menschen vor vielen hundert Jahren ermöglichte die Entstehung eines solchen Ungetüms, das heute die Menschen und ihre Gesundheit im Namen des Staates/der Staaten (oder eher im Namen des Kapitals?) verwaltet. Im folgenden Artikel werde ich einige Meilensteine dieses Prozesses aufgreifen, um darzustellen, wie die Medizin als Instrument der Herrschenden zur Verwaltung ihrer Bevölkerung – ein Charakter, der heute vielleicht offener zutage tritt als jemals zuvor – entstehen konnte und wie diese Verwaltung funktioniert.

Klostergärten, Hexenverfolgung und Kolonisierung

Selbstverständlich ließen sich die autoritären und sozial-kontrollierenden Spuren der Medizin noch ein ganzes Stück weiter zurückverfolgen, etwa ins antike Griechenland und Rom, wo Ärzt*innen, die neues Wissen über den menschlichen Körper unter anderem durch die Sezierung lebendiger Sklav*innen erlangten, vor allem der reichen Oberschicht und dem Militär zur Verfügung standen. Aber der Fokus dieser Untersuchung soll auf der modernen Medizin liegen, die sich unter anderem dadurch auszeichnet, dass sie ein Monopol auf die Kunst der Heilung erhebt und die Etablierung eben jenes Monopols begann in einer anderen, späteren Zeit.

Auch wenn die jahrtausendewährende Domestizierung die Menschen bereits zuvor von der Natur, von ihren eigenen Körpern und durch die Arbeitsteilung auch weitestgehend von der eigenen Zuständigkeit für ihre Gesundheit getrennt hatte, so war es auch in Europa vor allem in der armutsgeplagten Unterschicht, die keinerlei Zugang zu dem sich bereits während der Antike herausgebildeten, ärztlichen Spezialist*innentum und wissenschaftlichen medizinischen Wissen hatte, durchaus verbreitet, dass man sich um viele, wenn nicht alle wesentlichen Belange der eigenen Gesundheit selbst kümmerte, bzw. diese Aufgabe denjenigen Familienmitgliedern zufiel, die auch ansonsten der häuslichen, „reproduktiven“ Sphäre zugeteilt waren. Sprich: vor allem Frauen. Das hier zur Anwendung gebrachte Heilwissen war von Region zu Region unterschiedlich, es richtete sich nach der regionalen Flora und Fauna, sowie den jeweiligen heidnischen Überresten des spirituellen Erbes vormalig freier Gemeinschaften. Gemeinsam ist diesem Wissen jedoch vor allem, dass es obwohl es vermutlich uralt war, nahezu ausschließlich oral weitergegeben wurde. Schließlich beherrschte zu dieser Zeit auch kaum jemand die Schrift ihrer Herrscher*innen. Ein wesentlicher Bestandteil dieses Heilwissens war der Gebrauch von Heilkräutern, die wenngleich sie teilweise auch gezielt in Kräutergärten angebaut worden sein mögen, vor allem in der Natur gesammelt wurden.

Doch ein Schatten legte sich über die Lande, ein Schatten, der in den nächsten Jahrhunderten auf eine sehr ähnliche Art und Weise einen Großteil der Welt befallen sollte und der in Europa, ebenso wie auf dem amerikanischen und afrikanischen Kontinent dem individuellen und kollektiven Heilwissen den Garaus machen würde: die Rede ist selbstverständlich von der christlichen Missionierung. Kein geringerer als der Missionar Bonifazius, der sich bereits zuvor damit hervorgetan hatte, eine uralte, dem Gott Donar (Thor) geweihte Eiche neben zahlreichen weiteren heiligen Bäumen gefällt zu haben, um die heidnischen Glaubenskulte der germanischen Stämme zu zerstören, veranlasste 743 bei der „Synode von Liftinae“ auch, dass das Sammeln von Heilkräutern durch die Kirche untersagt wurde. Zweck dieses Verbotes war wiederum, dass die „Neubekehrten von allem heidnischen Wesen fern gehalten werden und fern bleiben möchten.“ Doch auch wenn die allseits erwartete Reaktion der germanischen Gottheiten ausblieb, als sich Bonifazius an ihren Bäumen verging, so bedurfte es doch mehr als eines Verbots durch die Kirche, um die Menschen davon abzuhalten, sich selbst und einander zu heilen, indem sie dafür benötigte und bewährte Kräuter sammelten. Wohl um keinen allzugroßen Autoritätsverlust zu erleiden, wurden in der Folge diversen Kräutern eine biblische Bedeutung angedichtet, die diese beispielsweise in Form von Marienkulten als „christlich“ legitimierten.

Doch die neue Strategie der Kirche sollte schließlich aufgehen. Mit Verbreitung der christlichen Glaubensdoktrin festigte sich auch die Vorstellung, dass Krankheiten von Gott auferlegt wurden und eine Heilung daher auch nur mit seiner Hilfe überhaupt möglich sei. Das stärkte die mönchische Medizin, die sehr schnell zur einizigen anerkannten medizinischen Schule avancierte. Schon zwischen 770 bis ca. 800, nur wenige Jahrzehnte nachdem der Missionar Bonifazius versucht hatte, das Kräutersammeln zu verbieten, erließ Karl der Große, der einen großen Teil seiner Macht der kirchlichen Infrastruktur verdankte, ein Gesetz (Capitulare de villis), das unter anderem den Anbau bestimmter Heilpflanzen in jedem kaiserlichen Gut vorschrieb. Der sogenannte St.-Galler-Klosterplan (819-826), der rund 16 Heilpflanzen und ihren Anbau beschreibt und das Lehrgedicht Hortulus (ca. 840), das rund 24 Heilpflanzen beschreibt, zeugen von der weiteren Institutionalisierung und gleichzeitigen Verflachung (antike Schriften führen oft tausende, wenigstens aber mehrere hunderte Heilpflanzen auf, dagegen müssen 16 bzw. 24 Pflanzen geradezu lächerlich erscheinen) der Pflanzenheilkunde rund um Klöster. Bei den Pflanzen handelt es sich häufig um welche, die in den hiesigen klimatischen Bedingungen nur schlecht gedeihen, was unter anderem daher kommt, dass vorrangig Pflanzen verwendet werden, die (manchmal auch nur vermeintlich) in der Bibel beschrieben sein sollen. Eine beliebte Strategie, um die Bevölkerung davon abzuhalten auch weiter wilde Heilpflanzen zu sammeln, besteht darin, ihnen das Pflücken der Pflanzen in den Klostergärten zu gewähren. Auf diese Weise lässt sich gewährleisten, dass nur die von der Kirche „zertifizierten“ Heilpflanzen verwendet werden und das „heidnische“ Heilwissen nach und nach in Vergessenheit gerät.

Nicht alle Menschen lassen sich vom klösterlichen Kräutergarten ködern. Über mehrere Jahrhunderte koexistiert die klösterliche Medizin mit alternativem Heilwissen. Praktizierende dieses alten Heilwissens gelten als Hexen und Zauberer, was als „heidnische Irrlehre“ gilt und „durch Kirchenstrafen wie Bußen oder – in schweren Fällen – durch Ausschluss aus der Gemeinschaft geahndet werden“ soll. Ab dem 13. Jahrhundert jedoch begann die Kirche und mit ihr der Staat, die beide gleichermaßen Deliquent*innen verschiedener Ausprägungen fürchteten, zum vernichtenden Schlag gegen Hexen und andere Deliquent*innen auszuholen. Freilich geht es dabei längst nicht nur darum, nicht-christliches Heilwissen zu vernichten. Die Inquisition richtet sich gegen Homosexuelle, Jüd*innen, Ketzer*innen jeder Art, aufständische Elemente und sonstige Feind*innen der Ordnung. Im für die Deutsche Inquisition besonders bedeutenden, 1486 veröffentlichten Hexenhammer werden unter anderem Abtreibungen und libidosteigernde, sowie -senkende Verabreichungen als gängige und zu ahndende Verbrechen von Hexen beschrieben.

Nicht zufällig fällt die Vernichtung des nicht-christlichen Heilwissens in Europa in die gleiche Epoche, in der auch die moderne Wissenschaft und ihre Medizin entsteht. Franzis Bacon, einer der Gründerväter der modernen Wissenschaft, soll etwa in den Verfahrensweisen der Inquisition das Vorbild gefunden haben, der „Hexe Natur“ ihre Geheimnisse abzupressen. Übrigens war Francis Bacon als Generalstaatsanwalt unter König Jakob I. durchaus auch unmittelbar in den einen oder anderen Hexenprozess verwickelt gewesen.

Nicht unmittelbar zeitlich synchron, aber sowohl von der Art und Weise des Verlaufs her, als auch zumindest synchron zur letzten Phase der Vernichtung des nicht-christlichen Heilwissens in Europa, findet auch außerhalb Europas eine gigantische Vernichtung von indigenem Heilwissen statt. Ihre Antriebsmotoren: der europäische Kolonialismus und die christliche Missionierung. Genozide, Verschleppung und Versklavung, Vertreibung aus ihren ursprünglichen Territorien, kulturelle Auslöschung und Internierung in Lagern, in denen später unter anderem tödliche und erniedrigende medizinische Experimente zur Entwicklung von Impfstoffen und Seuchenbekämpfungsstrategien durchgeführt werden werden, tragen ebenso ihren Teil dazu bei, wie die äußerlich weniger gewalttätige Bekehrung zum christlichen Glauben mit „Buch und Schwert“, in deren Rahmen jegliche Spiritualität indigener Kulturen und damit auch das damit häufig verbundene Heilwissen beinahe noch nachhaltiger zerstört wurde. Auf dem südamerikanischen Kontinent gelten Praktizierende indigener Heilmethoden als Ketzer*innen. Die katholischen Konquistadoren beschreiben spirituelle Rituale, die Teil dieser Methoden sind, als gespenstisch und gotteslästerlich und verbrennen die Praktizierenden nach dem Vorbild der Inquisitoren in ihrer Heimat auf dem Scheiterhaufen. Der atlantische Sklav*innenhandel, in dessen Rahmen heutigen Schätzungen zufolge rund 12 Millionen Menschen gefangen genommen, verschleppt und vor allem in Nordamerika versklavt wurden, verursacht zudem zahlreiche Seuchen (weil indigende Bevölkerung, sowie Sklav*innen Erregern ausgesetzt sind, mit denen sie bisher nicht in Kontakt gekommen sind und zudem auf engstem Raum und unter katastrophalen hygienischen Bedingungen zusammengepfercht sind), in denen nur die autoritäre und die Menschen zu verwaltenden Entitäten reduzierende, europäische Medizin ihre Wirkung erweisen kann und so ihre scheinbare Überlegenheit gegenüber indigenem Heilwissen unter Beweis stellt.

Lazarette, Pesthäuser, Irrenhäuser, Arbeitshäuser und Krankenhäuser

Bis heute machen sogenannte Krankenhäuser einen wesentlichen Teil der medizinischen „Versorgung“ hierzulande aus. Aber in welchem Kontext ist es überhaupt eine besonders kluge Idee, alle Kranken an einen einzigen Ort zu bringen? Diese fixe Idee konnte sich nur vor dem Hintergrund eines Expert*innenstandes an Mediziner*innen und dem zunehmenden Anspruch der Verwaltung von Kranken etablieren. Dabei scheint mir der Strang der Entstehung des modernen Krankenhauses zunächst unabhängig von der zuvor beschriebenen Zerstörung des individuellen und kollektiven Heilwissens betrachtenswert, auch wenn diese beiden Entwicklungen schließlich miteinander verwoben sein werden.

Valetudinarien und Leprosorien sind die wohl frühesten Formen dessen, was heute als Krankenhaus bekannt ist. Leprosorien, Siechenhäuser, später Pesthäuser, dienten unverhohlen der Verwaltung Kranker, die als Aussätzige galten und dort zum Schutze der übrigen Bevölkerung bis zu ihrem Tod oder in Ausnahmen ihrer Genesung verwaltet wurden. Auch wenn diese Anstalten wohl viel älter sind und beispielsweise im Chinesischen Kaiserreich um 300 v. Chr. existierten, während das Judentum mit seinen Reinheitsgesetzen ebenfalls die Absonderung von Aussätzigen kennt (allerdings wohl ohne diese in Anstalten zu verwalten), werde ich vor allem auf die Entwicklung dieser Anstalten im christianisierten Europa, vor allem auf französischem und deutschem Territorium zurückkommen. Zuvor jedoch lohnt es sich einen Blick auf die römischen Valetudinarien zu werfen, die unter Kaiser Augustus (um das Jahr 0) Verbreitung fanden. Um das Jahr 14 errichtete das römische Militär in mehreren Garnisonen der umkämpften germanischen Grenze sogenannte Valetudinarien, Lazarette, in denen verletzte und wohl auch erkrankte Soldaten mit dem Ziel behandelt wurden, wieder kampffähig gemacht zu werden. Den militärisch bewährten Anstalten folgten bald auch zivile Valetudinarien, bezeichnenderweise jedoch nicht für römische Staatsbürger*innen (um die Armen sorgte sich keiner, die Reichen ließen sich lieber in ihren eigenen Gemächern versorgen), sondern vor allem für die Sklav*innen von Gutsherr*innen und die Dienerschaft (oft ebenfalls Sklav*innen) reicher Adliger. Sie dienten also dazu, die Arbeitskraft des teuer erworbenen „Personals“ zu erhalten. Die in diesen zivilen Valetudinarien arbeitenden Ärzte waren meist selbst medizinisch gebildete Sklav*innen, sogenannte „servi medici“.

Auch wenn die Medizingeschichte diese Valetudinarien lieber nicht in Verbindung mit der Entstehung „öffentlicher“ Krankenhäuser im christianisierten Europa bringen möchte, wird diese Kontinuität jedoch schon daran offenbar, dass spätere Klöster ganz verschiedene Einrichtungen unterhielten, die der Unterbringung von Kranken und Pilgern dienten: Das „Hospitale pauperum“ für Arme, das „Hospitium“, ein Gästehaus für reiche Pilger und das „Infirmarium“, den Krankensaal für die Mönche selbst. Diese Einteilung ist nicht nur ein Beweis für die Klassenmedizin dieser Zeit, sie setzt sich auch in der weiteren Entwicklung fort: Siechenhäuser außerhalb der Klöster und Städte dienten ab dem 6. Jahrhundert der Verwaltung von als ansteckend geltenden Kranken. Besondere Anstaltskleidung, sowie das Tragen von Schellen, Lazarusklappern und Hörnern bekamen die dort Inhaftierten von der Kirche ebenso verordnet, wie die späteren Insass*innen der Pesthäuser vollständig abseits der übrigen Bevölkerung inhaftiert wurden.

Um 1700 entstehen in Frankreich und Deutschland die ersten Irrenhäuser, die unter anderem dazu dienen sollen, die weniger arbeitsbegeisterte Bevölkerung zu disziplinieren. Gerade auf dem deutschen Territorium treten diese Anstalten als Toll- und Zuchthäuser besonders häufig in Kombination mit Gefängnissen auf. Einmal erbaut, wechselten die Internierungsanstalten der Pest- und Irrenhäuser häufig ihren Zweck. Die ursprünglich im Jahre 1709 errichtete Charité Berlin wurde etwa als Pesthaus angelegt, diente dann aber zunächst als Spinnhaus (eine Strafanstalt für Frauen, die verarmt waren, bettelten oder sich prostituierten und die dort als Spinnerinnen zwangsarbeiten mussten), zur Verwaltung von Armen und als Garnisonslazarett. Zahlreiche Krankenhausbauten weisen bis heute mehr Ähnlichkeiten mit Knästen auf als mit irgendetwas anderem. Das ist kein Zufall. Und während heute die Gittertüren der Zellen, pardon Patientenzimmer, bis auf einige Ausnahmen durch reizarme, klinisch-weiße Türen ersetzt wurden, kann zumindest ich mich beim Besuch in einer solchen Anstalt  noch immer nicht des kalten Schauers, der mir dabei den Rücken hinunterläuft, erwehren.

„Deine Gesundheit gehört nicht dir!“ und der kranke Mensch als defektes Teil der Maschine

Dienten die verschiedenen Abarten von Krankenhäusern bis weit ins 19. Jahrhundert hinein vor allem der gesellschaftlichen Absonderung von Armen, Ansteckenden, „Verrrückten“, Arbeitsverweigerern, Verbrecher*innen und sonstigen für die „Volksgesundheit“ (dieser Begriff stammt allerdings aus einer späteren Epoche) schädlichen Elementen, so fielen im 20. Jahrhundert die Mauern zunehmend und die Gitter vor den Fenstern verschwanden. Aber wer den Mauern des Krankenhauses entkam, die*der musste nun zunehmend feststellen, dass die ganze Welt zu einem Krankenhaus geworden war. Auch wenn man den Nationalsozialismus keine reine „Ärztebewegung“ nennen sollte [1], so erfuhren die autoritären Lehren der Medizin ganz besonders in dieser Epoche einen enormen Bedeutungszuwachs. Der Begiff „Volksgesundheit“ wird zwar in der Medizingeschichte ebenfalls nicht mehr vorrangig mit dem Begriff „Gesundheit“ in Verbindung gebracht, aber das sollte keineswegs darüber hinwegtäuschen, dass darunter im Brustton der Überzeugung und mithilfe einer erst angesichts des Holocausts als pseudowissenschaftlich gebrandmarkten Methodik durchaus genau das verstanden wurde. „Rassenhygiene“ und „Erbgesundheit“ war nicht bloß ein nationalsozialistischer wissenschaftlicher Wahnsinn, weltweit gründeten sich eugenische Institutionen, die hohes Ansehen genossen. Besonders Zwangssterilisierungsprogramme wurden in zahlreichen Gebieten weltweit in dieser Zeit und selbst nach dem Ende des Nationalsozialismus gesetzlich verankert und durchgeführt. Die Opfer: indigene Bevölkerungen, rassifizierte Menschen und Behinderte. Die eigene Gesundheit wird dabei auf zahlreichen Ebenen entpersonalisiert. Nationalsozialistische Propaganda mahnt zur „Abhärtung“ und betrachtet Infektion als eine Schwäche des Infizierten, eine mit der der*die Infizierte der Volksgemeinschaft, dem „Volkskörper“ schaden würde.

Das Individuum als Teil des „Volkskörpers“, das kranke Individuum als Gefahr für die „Volksgesundheit“, es erinnert an eine sich dieser Tage noch verstärkten Haltung. Wobei das Individuum heute nicht einmal mehr krank zu sein braucht, um als Gefahr für die nun „öffentliche Gesundheit“ zu gelten. Aber dies soll nun kein zynischer Erguss werden, sondern eine ernstgemeinte Analyse. Es sind freilich völlig unterschiedliche Argumentationsweisen, die sich nur in ihrer Auswirkung zu ähneln scheinen [2]. Und doch drängt sich einem – ganz im Sinne des des Organischen beraubten, mechanistischen Weltbildes – hier der Vergleich mit einer anderen Methaphorik auf: Ist in einer solchen Betrachtung der kranke Mensch nicht gleich einem defekten Teil der Maschinerie des Kapitalismus und der Zivilisation? Einem Teil, das entweder repariert oder ausgetauscht werden muss, um die Maschine am Laufen zu halten?

Dienten die frühen Vorläufer des Krankenhauses noch dazu, „Kranke“ unterschiedlicher Ausprägungen zu kontrollieren und zu verwalten, so ist es heute der Geist des Krankenhauses, der in den Köpfen der Menschen spukt und sie zu ihrem Beitrag zur „Volksgesundheit“ drängt. Ein Geist, der auf die ein oder andere Art und Weise schon früher spukte und dabei einige der grausamsten, genozidalen Vernichtungsfeldzüge wissenschaftlich-medizinisch legitimierte.

Von Gesundheitsregistern bis zur Impfmücke

Der derzeitige Gesundheitstotalitarismus kann meines Erachtens nur vor dem Hintergrund verstanden werden, dass es niemals universelles Anliegen der Medizin war, dem Individuum durch Heilangebote zu helfen. Während die Heilung der Wohlhabenden durchaus immer eines der Anliegen der Medizin gewesen sein mag, war jedoch vor allem das Anliegen, Arbeitskraft verfügbar zu halten, Anliegen von flächendeckender Medizin. Das heißt nicht, dass die Medizin nicht in der Lage und möglicherweise sogar willens wäre, mir – hier in Zentraleuropa auch trotz der Tatsache, dass ich Arbeit um jeden Preis vermeide, als kriminell und asozial gelte und auch sonst nicht gerade dem Ideal der Gesellschaft entspreche – zu helfen, wenn ich etwa ein gebrochenes Bein habe. Vielmehr bedeutet das, dass der Preis für diese Hilfe immer darin liegt, dass anderswo auf der Welt – oder auch in Gefängnissen, Psychiatrien, usw. hierzulande – medizinische Experimente an anderen Menschen vollführt werden, Menschen aus einer Laune irgendwelcher Philanthrop*innen heraus zwangsgeimpft werden und dabei möglicherweise als „in zeitlichem Zusammenhang mit der Impfung Verstorbene“ in die Statistiken eingehen und die gesamte arme Bevölkerung der Welt auf die eine oder andere Art und Weise mithilfe der Medizin als Arbeitskraft-Ressource verwaltet wird.

Der bisher in westlichen Ländern im Hinblick auf direkte körperliche Eingriffe zur Anwendung gekommene Ansatz, mit wenigen Ausnahmen (Zwangspsychiatrisierung, Zwangssterilisierungen, Zwangsmedikationen, usw.) auf die Freiwilligkeit der Patient*innen zu setzen (wer nicht zum Arzt geht, tut das halt nicht) scheint dabei zunehmend zu bröckeln. Was ein neokoloniales Bündnis aus Philanthrop*innen, Pharmaindustrie, WHO und Staaten in den vergangenen Jahrzehnten durch medizinische Studien, Impfprogramme, die sowohl zwangsweise, als auch ohne genügende Aufklärung durchgeführt wurden und Programme zur elektronischen Erfassung von Gesundheitsdaten in sogenannten „Entwicklungsländern“ getestet hat, scheint nun erprobt genug, um auch in den Zentren der Macht auf die verarmte Bevölkerung losgelassen zu werden. Die derzeitige Diskussion um Gesundheitsregister, in denen entsprechende Daten zentral erfasst und für Behörden jederzeit abrufbar gespeichert sind, die Diskussion um Privilegien für Geimpfte, die Stigmatisierung derer, die sich nicht impfen lassen wollen, sie alle sprechen für sich. Unterdessen geben vorsichtig an die Öffentlichkeit dringende Forschungsprojekte Aufschluss darüber, welche Totalität dieser Gesundheitswahn mittlerweile auch in Wissenschaftskreisen angenommen hat: Es ist ja längst kein Geheimnis mehr, dass Virolog*innen dazu neigen, die Menschen einzusperren, zu überwachen und zu kontrollieren. Aber dass mancherorts daran geforscht wird, Impfungen mithilfe genmanipulierter Mücken zu verabreichen, die, einmal freigelassen, unkontrollierbar alle impfen, die sie vor ihren Rüssel bekommen, das macht die erschreckenden Ausmaße dieses Wahnsinns der Medizin vielleicht bewusster als vieles andere.

Für mich steht fest: Eine Institution wie die Medizin vermag mir nichts anzubieten, was gegen ihre Zerstörung spricht. Ich kann auf Expert*innen verzichten, die mir Heilung im Austausch für meine Verwaltung und Kontrolle im Dienste der Herrschenden anbieten, während sie anderswo foltern und morden. Und ganz besonders kann ich darauf verzichten, selbst gefoltert und ermordet zu werden.


[1] Dessen ungeachtet wurden die meisten Parteibücher der NSDAP an Ärzt*innen ausgestellt.

[2] Und auch die bringe ich hier vor allem zur Sprache, um eine gewisse scheinheilige, hyperkritische, die „Verschwörung“ und den Geschichtsrevisionismus“ allzeit witternde Leser*innenschaft zu provozieren.


Übernommen von Zündlumpen #082.